(Gegenwind 277, Oktober 2011)
Natürlich ist es ungewöhnlich, wenn eine 23-jährige Sportlerin ihre „Biografie” schreibt. Aber nachdem im vorigen Gegenwind die Biografie von Lira Bajramaj vorgestellt wurde, die ja auch noch nicht wirklich alt ist, soll Susi Kentikian das gleiche Recht erhalten.
Auch Susi Kentikian beschreibt, wie sie vom Flüchtling zur Weltmeisterin wurde. Allerdings kann sie über die Flucht der Familie aus Armenien, das kurz nach der Unabhängigkeit 1991 vom Nachbarstaat angegriffen wurde, nicht wirklich viel berichten. Die Eltern flohen mit den Kindern 1992, die 1987 geborene Susi bekam davon wenig mit. Der erste Asylantrag wurde noch nicht abgelehnt, da entscheid sich der Vater, mit der Familie nach Moldavien zu fliehen. Dort, so kalkulierte er, könnten man jedenfalls mit Russisch-Kenntnissen Arbeit finden. Das Experiment scheiterte, die Familie floh erneut nach Deutschland, hier war aber der Asylantrag inzwischen ohne Einspruchsmöglichkeiten abgelehnt worden.
Jahrelang lebten die Kentikians nun in Flüchtlingsheimen, zunächst auf einem Flüchtlingsschiff in Hamburg, dann in einem Flüchtlingsheim. Sie lebten auf engstem Raum, unter ständigen Drohung der Abschiebung, und die Unterkunft war extrem dreckig und voller Ungeziefer. Susi beschreibt gerade das Leben im Flüchtlingsheim sehr ausführlich und anschaulich. Ihre Mutter war damals schwer krank, und diese Krankheit wurde gerade durch die Lebensverhältnisse erheblich verschärft.
Aus diesen Verhältnissen befreite sich Susi Kentikian, zunächst mental, indem sie ihren Bruder in den Boxverein begleitete und dann selbst anfing zu boxen. Sie hatte Talent, und vor allem hatte (und hat) sie einen unbändigen Willen, keinen Kampf zu verlieren. Schon nach kurzer Kariere wurde dieser Willen auf eine entscheidende Probe gestellt, als früh morgens die Polizei kam und den Vater mit beiden Kindern zum Flughafen brachte, um sie (ohne die schwer kranke Mutter) abzuschieben. Die Abschiebung wurde nach einigen Stunden abgebrochen, weil Boxtrainer und in der Folge auch der Fraktionsvorsitzende der Hamburger CDU intervenierten.
Über die Härtefall-Kommission der Hamburger Bürgerschaft erhielt zunächst sie, dann auch die Familie ein Bleiberecht. Sie boxte sich weiter nach oben, konnte ihren anfänglichen Putzjob aufgeben und vom Boxen leben, später auch zum Familieneinkommen entscheidend beitragen. Bereits nach drei Jahren Aufenthaltserlaubnis wurde sie (vorzeitig und mit Zustimmung des Bundesinnenministers) eingebürgert. Bereits vorher wurden ihre Kämpfe nicht nur live im Fernsehen (Pro7 und ZDF) übertragen, zu ihren Kämpfen wurde auch stets die deutsche Fahne aufgezogen und die deutsche Nationalhymne gespielt. Ihre Fans mussten im Publikum armenische Fahnen bereithalten und im entscheidenden Moment in die Kamera halten.
siehe dazu auch: „Mit den Fäusten zum Bleiberecht”, Gegenwind 211, April 2006
In ihrem Buch beschreibt sie ausführlich den Boxsport und das Innenleben der Sportfirmen und Fernsehsender, das Geschäft rund um die Übertragungen, das Zustandekommen der Paarungen. Susi bekennt sich uneingeschränkt zu ihrem Wunsch, in diesem System so viel Geld wie möglich zu verdienen.
Sie beschreibt aber auch ihr heutiges Leben. Ihre Familie konnte in eine Wohnung umziehen, nach den ersten Werbeverträgen auch Wohneigentum erwerben (allerdings erst mal nur auf Kredit). Sie konnte Armenien besuchen, wurde vom Präsidenten empfangen. Sie kann heute ihre Verwandten in den USA besuchen und setzt sich neuerdings für ein Projekt in Armenien ein. Das Projekt „Lebensbaum für Armenien e.V.” finanziert den (natürlich biologischen) Anbau von Walnüssen in Armenien, die in die EU exportiert werden und damit ihren Anbauern eine Perspektive geben. Es ist nicht nur im Internet leicht zu finden, man kann auch per SMS spenden.
Es ist vielleicht ungewöhnlich, wenn eine 23-Jährige schon eine „Biografie” schreibt. Aber diese 23-Jährige hat allen Grund dazu!
Reinhard Pohl
Susi Kentikian: Mir wird nichts geschenkt! Mein Leben, meine Träume. Verlag Herder, Freiburg 2011, 259 Seiten, 16,95 Euro