(Gegenwind 211, April 2006)
Die Hamburgerin Susi Kentikian, geboren 1987 in Jerewan/Armenien, kam als Flüchtling mit ihren Eltern nach Deutschland. Heute ist sie Profiboxerin, in ihrer Gewichtsklasse, dem Fliegengewicht, ist sie die beste in Deutschland.
Gegenwind:
Wann bist du mit deiner Familie nach Deutschland gekommen? Warum habt ihr Armenien verlassen?
Susi Kentikian:
Das erste Mal sind wir 1992 gekommen, endgültig dann 1996. Damals war der Krieg um Berg-Karabach, mein Vater sollte in den Krieg, weil er ein guter Soldat war. Er entschloss sich deshalb, aus Armenien wegzugehen, wir sind zusammen nach Deutschland geflohen. Wir haben Asyl beantragt, mussten aber wirklich qualvoll leben. Das war sehr schwer. Wir lebten auf einem Schiff, nach zwei Monaten kamen wir in ein Wohnheim. Aber Mutti war sehr krank, wir wussten nicht, was wir machen sollen. Mein Vater ist dann mit uns allen nach Moldavien gegangen, dort haben wir zwei Jahre gelebt. Aber das war noch schlimmer, und es wurde auch immer immer schlimmer. Wir hatten dort nicht einmal Geld für die Medikamente für unsere Mutter. Mein Vater entschied dann, wieder nach Deutschland zu kommen, mit uns zwei kleinen Kindern. Hier wurde es besser, hier gab es jedenfalls die nötigen Medikamente.
1996 hatten wir dann wieder viele Probleme. Es war ja der zweite Asylantrag, wir mussten erst mal eineinhalb Jahre auf dem Asylbewerber-Schiff wohnen. Dann kamen wir in ein Heim. Erst mal war das eine große Freude, weil wir vom Schiff weg waren. Aber wir hatten da auch nur ein Zimmer für vier Personen, dort lebten wir sieben Jahre lang. Wir hatten wirklich die Schnauze voll, das ging nicht mehr, das war immer eine Qual. Wir haben versucht, möglichst wenig zu Hause zu sein, möglichst immer draußen. Deshalb habe ich auch mit dem Boxen angefangen.
Gegenwind:
Wie bist du denn zum Boxen gekommen?
Susi Kentikian:
Mikael, mein Bruder, ist zum Boxen gegangen. Er wollte irgendwas machen, brauchte Ablenkung. Ich habe damals Gymnastik gemacht, aber das war nicht so toll. Ich bin oft nicht hingegangen. Ich konnte das eigentlich, die Trainerin sagte, ich bin sehr gut, sie könnte aus mir was machen. Aber ich war nicht so dran interessiert. Ich bin dann mit Mikael mitgegangen, habe zugeguckt. Aber der Trainer hat dann gesagt, jetzt machst du mal mit. Warum sitzt du sonst hier? Ich sagte, ich kann nicht mitmachen, weil ich hohe Schuhe, also solche B=affalo-Schuhe anhatte. Er hat aber gesagt, du musst, hier darf niemand nur rumsitzen. Ich habe in den Schuhen einfach mitgemacht, und das hat solchen Spaß gebracht, dass ich dann immer wieder hingegangen bin. Das war nicht wie Gymnastik oder Schwimmen. Ich konnte wirklich alles rauslassen, die ganze Energie musste raus. Wenn man so viele Probleme hat wie wir, dann braucht man so was.
Gegenwind:
Was war damals dein Gefühl gegenüber Deutschland?
Susi Kentikian:
Ich fühlte mich eigentlich sehr wohl, abgesehen von der Wohnung. Die Leute hier fand ich sehr nett. Aber ich war enttäuscht davon, wie Deutschland die Leute behandelt, die herkommen und wirklich was machen wollen. Wir wollten ja zur Schule gehen, wir wollten arbeiten, ich war sehr enttäuscht. Und ich hatte so eine Wut. Mein Trainer war ein Deutscher, der hat mich sehr unterstützt. Als er mich unterstützt hat, merkte ich ja, dass nicht alle Deutschen so sind. Er hat mich ja entdeckt, wollte aus mir was machen, und ich habe mich dann ins Zeug gelegt, weil ich auch nach oben wollte.
Gegenwind:
Die Ausländerbehörde hat ja auch versucht, dich abzuschieben. Wie war das?
Susi Kentikian:
Das war 2001, ich war 15 Jahre alt. Wir haben geschlafen. Sie hatten schon länger versucht, uns mit Briefen und Drohungen wie "Ihr werdet in einer Woche abgeschoben" fertig zu machen. Wir sind dann immer zum Anwalt gegangen, der hat das irgendwie gestoppt. Wir hatten eigentlich keine Angst mehr. Aber eines Morgens um 4 Uhr kamen sie dann, haben geklopft: "Polizei, bitte aufmachen!" Ich bin hingegangen, habe die Tür aufgemacht. Ich sah ganz viele Leute vor mir stehen. Ich habe eine Schreck gekriegt, aber ich wusste schon: Abschiebung. Und dann haben sie gesagt: "Familie Kentikian" - "Ja" - "Packt eure Sachen, um 13 Uhr geht euer Flieger." Das war ein großer Schock. Unsere Mutter war nicht zu Hause, wir standen da, haben gezittert, es war nur Angst. An diesem Morgen haben sie uns zum Flughafen gebracht. Wir konnten noch unsere Sachen packen, ich weiß noch, dass ich als erstes alle meine Pokale eingepackt habe. Sie sagten, das Gericht hat beschlossen, dass wir nach Armenien sollen. Wir haben gesagt, wir können nicht ohne unsere Mutter fliegen. Sie sagten, eure Mutter wird behandelt, es geht ihr gut, wir werden uns um sie kümmern. Sie haben uns dann dahin gebracht, wir saßen im Flughafen, haben gewartet, haben geweint. Die größte Angst war, dass wir unsere Mutter nicht wieder sehen. Ich durfte telefonieren, sie meinten, der Richter hat das beschlossen, du kannst sowieso nichts machen. Ich habe die Ärztin angerufen, Betreuer, Trainer, und die haben den Petitionsausschuss angerufen, und so wurde das dann gestoppt. Die Polizei hat uns dann zurück gebracht. Aber damit fing das erst an, die Angst blieb noch Monate. Ich wünsche das keinem Menschen, danach konnten wir ein halbes Jahr nicht schlafen. Immer wenn ein Geräusch an der Tür war, bin ich aufgestanden, habe aus dem Fenster geguckt, ob da jemand ist, einfach schrecklich.
Gegenwind:
War es eine Petition für die Boxerin oder für die Familie?
Susi Kentikian:
Für die Familie. Es hat sie nicht interessiert, dass ich boxe, dass ich Erfolg habe. Es ging darum, dass wir gearbeitet haben, keine Sozialhilfe gekriegt haben, dadurch konnten wir hier bleiben. Aber sie haben uns keine richtige Arbeitserlaubnis gegeben. Wir wussten lange nicht, wie wir arbeiten können, nur für zwei Stunden haben sie es erlaubt. Papa hat von morgens bis abends gearbeitet, er hatte dann vier Minijobs, er musste immer von einer Arbeit zur nächsten Arbeit. Mein Bruder hatte drei Minijobs, gleichzeitig mit dem Gymnasium, ich hatte auch zwei Minijobs und gleichzeitig noch Schule. Wir haben alles Geld in der Familie zusammengeschmissen, und es hat gereicht. Deshalb konnte die Abschiebung gestoppt werden.
Gegenwind:
Wie hast du denn damals gelebt?
Susi Kentikian:
Damals war es sehr schwer, eigentlich ging es überhaupt nicht. Ich bin immer zur Schule gegangen, ich habe versucht, mich zu beteiligen, aber meine Gedanken waren immer da bei Mutter, beim Boxen und hauptsächlich, wie es weiter gehen wird. Es war immer die Angst, das war eine schlimme Zeit, sehr schwer.
Gegenwind:
Wann hast du deinen Eltern gesagt: "Ich werde Boxerin"?
Susi Kentikian:
Das kam alles spontan. Ich bin da reingerutscht. Die Probleme waren alle da, aber das Boxen ging gut, das hat mich motiviert. Ich habe geboxt, ich hatte Kämpfe, aber das Training hat mir auch viel Spaß gemacht. Ich war 12 Jahre alt, als ich anfing. Papa wusste nicht, was er dazu sagen soll. Er hatte für mich schon so viel Geld ausgegeben, für das Training für die Gymnastik, und ich bin immer nicht hingegangen, und er dachte, zum Boxen gehe ich auch nicht. Er hat gesagt: "Überleg dir das gut. Wenn du wieder nicht hingehst, dann werde ich nichts mehr bezahlen." Aber dann kam der Trainer zu ihm und sagte, Super-Tochter, sehr stark, sehr beweglich, und dann war mein Vater damit einverstanden, dass ich es versuche. Und nach dem ersten Kampf haben mich so viele Leute gelobt, da war er dann auch einverstanden. Mein Vater hat aber gesagt: "Wenn du was auf die Fresse kriegst, dann darfst du nicht mehr boxen. Aber wenn du gibst, dann darfst du.". Er hat mir immer gedroht: "Wenn du verlierst, darfst du nicht mehr nach Hause." Er wollte, dass ich es gut mache, dass ich nicht mit blauen Flecken nach Hause komme, wenn ich es nicht kann, sollte ich es wieder lassen.
Gegenwind:
Macht sich dein Vater auch Gedanken über die anderen Väter? Nach dem Kampf kommt doch eine andere Tochter mit blauen Flecken nach Hause?
Susi Kentikian:
Nein, darüber macht er sich glaube ich nicht solche Gedanken. Ich mache mir manchmal Gedanken. Ich möchte ja keinen Menschen verletzen. Aber es ist ein Sport, man will die Beste sein, und ich will natürlich mein ganzes Können zeigen. Außerdem haut sie dich ja zurück, das ist nun mal Boxen.
Gegenwind:
Warum bist du vom Amateurstatus zu den Profis gewechselt?
Susi Kentikian:
Der Vorteil ist, dass ich Kämpfe habe. Ich habe als Profi mehr Möglichkeiten, ich darf hier von Universum ins Trainingslager, konzentriert einige Tage trainieren. Als Amateur hatte ich auch Kämpfe, aber immer das gleiche, ohne richtige Entwicklung. Hier als Profi entwickele ich mich, es kommen mehr Zuschauer, dann muss ich wiederum mehr zeigen. Als Amateur hatte ich in fünf Jahren 24 Kämpfe, davon immerhin 23 Siege. Profi bin ich seit Januar 2005, und seitdem hatte ich zehn Kämpfe und zehn Siege, acht davon vorzeitig.
Gegenwind:
Verdienst du damit auch Geld?
Susi Kentikian:
Ja, das ist ja mein Beruf. In diesem Jahr war es noch nicht so viel, die wollen auch meine Entwicklung erst mal sehen. Man muss die Leistung bringen, um Kämpfe zu bekommen. Aber Regina Halmich hat auch so angefangen.
Gegenwind:
Was kannst du als Profi erreichen?
Susi Kentikian:
Ich kann bekannt werden, Geld verdienen, mehr als bei Minijobs für Flüchtlinge.
Gegenwind:
Wie groß ist der Unterschied zwischen Männerboxen und Frauenboxen? Kannst du das Image vergleichen und das Geld? Geht es gerecht zu?
Susi Kentikian:
Nein, leider nicht. Wenn man sieht, Frauen bringen die gleiche Quote, bei Regina Halmich gucken acht Millionen Leute zu, wenn sie im Fernsehen ist. Bei Männern gucken oft nur vier oder fünf Millionen. Trotzdem bekommt Regina Halmich nicht so viel wie die Männer. Männer verdienen beim Boxen teilweise fünfmal so viel wie Frauen, obwohl das Training, die Arbeit eigentlich genau die gleiche ist.
Gegenwind:
Hat sich euer Familieneinkommen denn jetzt erhöht?
Susi Kentikian:
Ja. Es kommt darauf an, wie viele Kämpfe ich habe, aber so viel Geld wie mein Vater und mein Bruder verdiene ich jetzt auch schon. Wir können die Miete bezahlen, und wir können uns auch mal etwas kaufen, einfach weil wir das wollen.
Gegenwind:
Bekommt ihr jetzt ein Bleiberecht?
Susi Kentikian:
Ich habe jetzt einen armenischen Pass, wir haben eine Aufenthaltserlaubnis. Wir dürfen reisen, aber nicht nach Armenien. Jetzt dauert es noch ein bisschen, aber wenn wir nicht kriminell werden, dann wird das jetzt alles gut.
Gegenwind:
Das Verprügeln anderer Frauen gilt ja nicht als kriminell.
Susi Kentikian:
Nein, das stimmt, das ist Sport. Zumindest bei mir.
Gegenwind:
Habt ihr die Aufenthaltserlaubnis, weil dein Vater Arbeit hat? Oder weil deine Mutter krank ist? Oder weil du als Boxerin Erfolg hast?
Susi Kentikian:
Jede Sache hat ein bisschen damit zu tun. Dass ich boxe, hat sie nicht so interessiert. Alles hat mitgeholfen, jedes ein bisschen, dass wir hier bleiben können. Meine Mutter war ja auch damals krank, und ich habe auch damals geboxt, und sie wollten uns trotzdem abschieben. Und sie haben uns beinahe abgeschoben. Dass wir gearbeitet haben, das war danach das wichtigste. Wir hatten einen Freund, Wolfgang Ploog, CDU-Mitglied, der hat uns wirklich sehr geholfen. Aber wir hatten echt Glück, wir hatten die Kraft, wir haben immer gesagt, wir geben nicht auf, aber wir hatten auch viele gute Freunde, die uns geholfen haben. Wir sind ja das zweite Mal hier. Und wir wussten, wir werden nicht zum dritten Mal herkommen. Wir wollten kämpfen bis zum Schluss, und das haben wir gemacht, und es hat auch gereicht.
Gegenwind:
Was willst du noch erreichen, sportlich und im Leben?
Susi Kentikian:
Das wichtigste ist die Gesundheit. Ich habe jetzt gemerkt, nach einer Verletzung kann es auch vorbei sein mit dem Sport. Ich boxe mich durch bis zu meinem Ziel, und das ist Weltmeisterin zu werden. Auf der Rangliste sind noch 12 oder 13 vor mir, aber man muss sich immer beweisen. Auch wenn man irgendwann Weltmeisterin ist, dann kommen viele, und man muss Weltmeisterin bleiben. Ich hoffe, dass ich in der aktiven Zeit Geld verdiene, das hinterher noch ein bisschen reicht. Am wichtigsten ist für mich meine Mutter. Wenn es uns gut geht, geht es ihr auch besser. Und später will ich vielleicht Bürokauffrau lernen, aber dann am besten etwas hier im Verein oder bei unserer Firma Universum machen.
Gegenwind:
Was bedeutet es für dich, dass du Armenierin bist?
Susi Kentikian:
Ich bin stolz darauf. Ich glaube, ich bin auch die einzige armenische Boxerin. Und ich möchte anderen armenischen Mädchen zeigen, dass es geht. Du weißt, die Armenier haben viel durchgemacht. Ich möchte auch Armenien unterstützen, für Armenien Werbung machen mit meinen Kämpfen. Wir Armenier müssen zeigen, dass wir etwas drauf haben, das sagt auch Arthur Abraham, der Weltmeister im Mittelgewicht. Ich kann zeigen, dass armenische Frauen was drauf haben.
Gegenwind:
Wäre es für dich etwas Besonderes, gegen eine türkische Boxerin anzutreten?
Susi Kentikian:
Ich habe schon öfter Sparring gemacht gegen ein Türkin, auch einen Kampf gegen eine Türkin, das ist ganz normal. Beim ersten Mal hatte ich natürlich die Gedanken im Kopf, jede Armenierin denkt an den Genozid. Aber der Kampf dann war normal, eigentlich ganz gut. Sie war sehr stark, aber ich war auch stark, ich war die Bessere. Aber jetzt ist das nichts Besonderes mehr, das ist ganz normal für mich.
Gegenwind:
Wenn der Kampf beginnt und der Moderator oder der Ringsprecher stellt euch vor, möchtest du als Armenierin vorgestellt werden oder als Hamburgerin?
Susi Kentikian:
Das weiß ich nicht. Ich habe keinen deutschen Pass, als Deutsche kann ich nicht gehen. Aber sonst: Beides. Ich bin Armenier, und ich bin Hamburgerin. Dass ich für Armenien kämpfe, kann ich ja auch nicht sagen. Erst wenn ich um die Weltmeisterschaft kämpfe, kommen die Flaggen. Und ich weiß noch nicht, welche sie dann nehmen. Ich muss mit meinem Management reden, aber die wollen auch meine Entscheidung. Ich möchte schon für Armenien boxen, aber ich bin in einem deutschen Verein.
Gegenwind:
Was hat sich für dich geändert durch die Prominenz? Früher warst du ein Mädchen, das irgendwann abgeschoben wird, jetzt wird dein Foto öfter in Zeitungen gedruckt.
Susi Kentikian:
Es hat sich nicht wirklich viel geändert. Ich habe mich entwickelt, ich weiß inzwischen mehr, wie das Leben ist. Ich muss aufpassen, das weiß ich schon. Bei der Ausländerbehörde ist es anders, die haben mich auch schon oft in der Zeitung gesehen. Sie sind ein bisschen geschockt, weil ich mich hochgeboxt habe. Wenn man Erfolg hat, sind die Leute anders zu dir, sie haben mehr Respekt. Außerdem kommen Leute, die du gar nicht kennst und wollen was von dir. Aber ich bin selbstbewusster, wenn mich jemand anspricht, bin ich nicht sofort befreundet, sondern bleibe vorsichtig.
Gegenwind:
Welche Fragen nerven dich bei Interviews am meisten?
Susi Kentikian:
Die Standardfragen sind immer: "Wie bist du zum Boxen gekommen?" Da antworte ich ganz normal. Ich rede nicht gerne öffentlich über meine Mutter, das ist privat.
Interview: Ani Karapetjan/Reinhard Pohl