(Gegenwind 257, Februar 2010)
Am 9. Mai 2009 schloss die EU mit sechs östlichen Nachbarstaaten einen Partnerschaftsvertrag ab. Es handelt sich um sechs ehemalige Republiken der Sowjetunion: Belorussland (Weißrussland), Ukraine, Moldavien (Moldau), Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Für die EU ist es ein Teil der Nachbarschaftspolitik (wie der Balkan-Stabilitätspakt oder die Mittelmeerunion). Die EU will durch diese Politik das Gefälle an den Außengrenzen verringern, die Migration kontrollieren und ihren Einfluss sichern. Die östliche Partnerschaft richtet sich auch gegen Russland, das insbesondere mit Weißrussland und Armenien verbündet ist, aber auch gute Beziehungen zu Aserbaidschan und Moldavien unterhält. Nur zur Ukraine, insbesondere aber zu Georgien sind die Beziehungen gespannt.
Die EU hat in der Mittelmeer-Union klar gemacht, dass mit der Zusammenarbeit (außer für die Türkei) keine Beitrittsperspektive verbunden ist. Das sieht in der östlichen Partnerschaft anders aus. Ein späterer Beitritt wird grundsätzlich nicht ausgeschlossen, viele Politikerinnen und Politiker Georgiens und der Ukraine haben das auch schon zum Gegenstand von Wahlversprechen gemacht.
Doch die ungeklärten Probleme lassen dies eher in eine sehr weit entfernte Zukunft rücken. Weißrussland mit seinem autoritären Regierungssystem ist noch kein Mitglied des Europarates, dieses Schicksal teilt das Land mit dem gleichfalls nicht demokratisch regierten Vatikan. Moldavien musste die Abspaltung Transnistriens hinnehmen (vgl. Gegenwind 246, Seite 24/25 und 29). In Aserbaidschan hat das autonome Bergkarabach, in dem die armenische Minderheit des Landes wohnt, die Unabhängigkeit von der Sowjetunion nicht mitgemacht und später die eigene Unabhängigkeit erklärt. Von Georgien haben sie die Gebiete Abchasien und Südossetien abgespalten - 2008 scheiterte ein georgischer Angriff auf Südossetien, das von russischen Truppen gerettet und dann als unabhängig anerkannt wurde.
Alle sechs Länder befinden sich in einem sogenannten "Transformationsprozess", also im Umbau von der sowjetischen Staatswirtschaft zu einer EU-kompatiblen Privatwirtschaft. Die Unterstützung dieses Prozesses ist der wesentliche Inhalt des Partnerschaftsvertrages, die EU ließ sich die Verpflichtung zu demokratischen Reformen, Rechtsstaatlichkeit und Einhaltung der Menschenrechte unterschreiben und sagte dafür Wirtschaftshilfe in Höhe von 600 Millionen Euro für die nächsten vier Jahre zu.
Beim ersten Außenministertreffen am 8. Dezember 2009 wurde die Aufnahme von Assoziierungsabkommen vereinbart. Die Verhandlungen mit der Ukraine starteten sofort, im Laufe des Jahres 2010 beginnen die Verhandlungen mit Aserbaidschan, Armenien, Georgien und Moldavien. Der Start der Verhandlungen mit Weißrussland ist erst vorgesehen, wenn die Verhältnisse dort demokratischer werden.
Die Republik im Südkaukasus ist doppelt so groß wie Belgien, hat aber nur wenig mehr als 4 Millionen Einwohner. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt wenig über 2000 Dollar im Jahr (Deutschland: fast 40.000 Dollar).
Georgien ist seit dem 9. April 1991 unabhängig, erlebte aber in den ersten zehn Jahren der Unabhängigkeit mehrere Bürgerkriege und gewaltsame Regierungswechsel. Der gegenwärtige Präsident Micheil Saakaschwili kam 2004 im Zuge gewaltsamer Proteste gegen den in Deutschland sehr bekannten, in Georgien aber sehr unbeliebten (weil korrupten) Präsidenten Eduard Schewardnadse an die Macht. Zuvor war er in der Regierung Schewardnadse Justizminister. Im Januar 2008 wurde Saakaschwili wiedergewählt, die Wahl war begleitet von heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und der Opposition, die dem Präsidenten Wahlbetrug vorwarf.
Militärisch wird Georgien von den USA und der Türkei unterstützt, wobei ungeklärt ist, wie weit die beiden Verbündete Georgien im September 2008 zum Angriff auf Südossetien ermutigten. Während die georgische Regierung erklärte, auf den Einmarsch russischer Truppen von Nord- nach Südossetien regiert zu haben, stellte ein Untersuchungsbericht der EU klar, dass Georgien der Angreifer war.
Dennoch genießt Georgien als NATO-Beitrittskandidat und Speerspitze gegen Russland eine gewisse "Narrenfreiheit". Das Land hat eine ungewöhnlich hohe Häftlingsquote: 423 Häftlinge kommen auf 100.000 Einwohner, in Armenien sind es 122 pro 100.000, in Deutschland 91 pro 100.000. Zu den Gefangenen gehörten viele Oppositionelle, bei denen die Polizei angeblich Drogen oder Waffen gefunden hat oder gegen die Aussagen anderer Gefangener vorliegen, die wiederum dafür Straffreiheit oder Straferlass zugesagt bekamen.
Seit 2005 gibt es in Georgien ein Gesetz über "Prozessvereinbarungen". Dieses erlaubt der Staatsanwaltschaft, Strafnachlass oder Straffreiheit gegen Geldzahlungen zu verkaufen. Dafür hat der georgische Staat eigens eine Position im Staatshaushalt geschaffen (FR 10.1.2010). Besonders oft geraten seitdem Staatsbürger in Haft, die entweder Vermögen oder Verwandte oder Unterstützer im westlichen Ausland haben - ein System der Devisenbeschaffung, das hierzulande noch aus der Zeit der DDR unter dem Stichwort "Häftlingsfreikauf" bekannt ist.
Georgische Gefängnisse sind denn auch seit Jahren chronisch überbelegt. Das "Europäische Komitee zu Verhütung von Folter", eine Einrichtung des Europarates mit Sitz in Luxemburg, inspizierte vom 27. April bis 4. Mai 2009 georgische Gefängnisse. In seinem Bericht, veröffentlicht am 23. Dezember 2009 in Strasbourg, resümiert das Komitee: "In einigen georgischen Gefängnissen, so unter anderem in Tiflis und Rustawi, herrscht eine katastrophale Situation. Die dortigen Haftbedingungen bedrohen das Menschenleben." Das Komitee beklagte "furchtbare materielle Bedingungen, die Überfüllung der Zellen, den akuten Mangel an Personal, die nicht angemessene Anwendung von Gewalt und Misshandlung der Häftlinge durch die Polizei, was als Folter eingestuft werden kann" (vgl. report cpt/inf (2009) 38).
Die Regierung der Schweiz warnt die eigenen Staatsbürger, die nach Georgien reisen, ausdrücklich davor, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten: "Die Haftbedingungen sind prekär (überfüllte Gefängnisse, mangelhafte hygienische Verhältnisse und medizinische Versorgung, Tuberkulose-Ansteckungsgefahr etc.)." (Reisehinweise des Eidgenössisches Departements für auswärtige Angelegenheiten, www.eda.admin.ch) Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM, Frankfurt) schreibt über Häftlinge in Georgien: "Die meisten sind Oppositionelle, die aufgrund manipulierter Verfahren verurteilt wurden, gefoltert und unter unhaltbaren Haftbedingungen inhaftiert sind. ... Um eine unliebsame Person zu belasten, würden [nach Erkenntnissen des Georgischen Menschenrechtszentrums (HRIDC)] Unbeteiligte zu angeblichen Zeugen einer Tat erklärt und ihnen Falschaussagen unter Androhung von Folter oder Vergewaltigung erpresst." (www.igfm.de). Ähnliche Berichte gibt es von amnesty international und vielen anderen Menschenrechtsorganisationen.
Reinhard Pohl
Deutschlandradio: Gebremste Euphorie (www.dradio.de, 4. Mai 2009)
Frankfurter Rundschau: Unrechtsstaat Georgien (www.fr-online.de, 10. Januar 2010)
Europäisches Komitee zur Verhütung von Folter: Report on the visit to the region ob Abkhazia, Georgia (www.cpt.coe.int, unter "states", 23. Dezember 2009)
Berichte und Presseerklärungen von amnesty international, IGFM und anderen.