(Gegenwind 172, Januar 2003)

Als Ärztin in Afghanistan

"Ich habe nicht einmal geahnt, dass so etwas möglich ist"

Im Gegenwind 160, Januar 2002, 163, April 2002 und 164, Mai 2002 (Beilage: Der Schlepper) haben wir Interviews zur aktuellen Situation in Afghanistan veröffentlicht. Gesprächspartnerinnen waren jeweils hier lebende Afghaninnen. In diesem Heft veröffentlichen wir ein aktuelles Gespräch mit Fatma Nassir, einer Kieler Ärztin, die im Herbst 2002 in Kabul gearbeitet hat.

Gegenwind:

Warum haben Sie sich entschlossen, als Ärztin in Afghanistan zu arbeiten?

Fatma Nassir:

Fatma Nassir

Das liegt sicherlich daran, dass dieses Land mein Ursprung ist. Aber mein Entschluss hat jetzt nichts mit dem 11. September zu tun, ich wollte das schon immer. Einerseits wollte ich schon immer Ärztin werden. Und andererseits war für mich auch klar, dass ich als Ärztin sicher nicht für immer, aber auf jeden Fall für einige Zeit den Menschen in Afghanistan helfen will. Hauptgrund ist für mich, dass mir klar geworden ist, wie viel Glück ich im Leben hatte, dass ich in einem Land wie Deutschland aufwachsen durfte. Viele Menschen hatten dieses Glück nicht, und ich muss meinem Schicksal das zurückgeben, was es mir gegönnt hat.

(Die nachstehenden Fotos aus Afghanistan von Fatma Nassir können angeklickt werden, um sie zu vergrößern und erklärenden Text zu sehen.)

Gegenwind:

Wie sah denn Ihr Schicksal bisher aus?

Fatma Nassir:

Ich war 1978 vier Jahre alt, als meine Familie aus Afghanistan geflüchtet ist. Ich kann mich an Afghanistan gar nicht erinnern, ich bin hier vom Kindergarten an aufgewachsen. Auch von meiner Familie ist niemand mehr in Afghanistan gewesen. Ich habe nur noch einen Onkel in Afghanistan, die übrigen Familienmitglieder sind in aller Welt zerstreut. Die meisten sind in den USA. Ich bin in Bonn groß geworden, habe dort mein Abitur gemacht, habe in Mainz Medizin studiert. Ich bin seit eineinhalb Jahren fertig und arbeiten seit dem in der Universitätsklinik Kiel und versuche, meinen Facharzt als Gynäkologin zu machen.

Gegenwind:

Sie sind ja für eine Organisation nach Afghanistan geflogen. Warum haben Sie diese gewählt?

Fatma Nassir:

Ich bin für medica mondiale nach Afghanistan gegangen. Diese Organisation ist im Winter 1992 von Dr. Monika Hauser gegründet worden, während des Bosnien-Krieges. Sie ist Gynäkologin, die in der Uniklinik Essen ihren Facharzt gemacht hat. Die Organisation ist extra für die Bedürfnisse der Frauen gegründet worden, es ging nicht nur um körperliche, gesundheitliche Probleme von Frauen in Kriegsgebieten, sondern auch den seelischen Zustand - in Bosnien, dann im Kosovo und jetzt in Afghanistan, gerade was Misshandlungen, Vergewaltigungen und sexualisierte Gewalt angeht. Dass diese sexualisierte Gewalt in Afghanistan geherrscht hat, nicht nur unter den Taliban, sondern auch zur Zeit der Mudjaheddin, hat sicherlich jeder gehört. Und nach dem 11. September gab es dann die Möglichkeit, hier aktiv zu werden.

Gegenwind:

Gab es für Sie Alternativen? Große Hilfsorganisationen sind doch mit ihren Kliniken in Afghanistan sicherlich besser ausgestattet.

Fatma Nassir:

Ja, für mich gab es Alternativen. Das war sicherlich zuerst die Organisation Ärzte ohne Grenzen. Aber ich bin noch in der Ausbildung zur Fachärztin, und mit den Ärzten ohne Grenzen muss ich mindestens ein halbes Jahr da sein, das kann ich jetzt nicht. Mit medica mondiale habe ich sechs Wochen meinen Urlaub genommen, und das war ein Grund. Der Hauptgrund war, dass Ärzte ohne Grenzen oder auch das Deutsche Rote Kreuz für die gesundheitliche Versorgung der Patienten dort da sind. Für mich war es das Konzept von medica mondiale, sich auch um die Seelen der Frauen zu kümmern. Ich glaube, dass ich dafür auch ein Händchen hab.

Gegenwind:

In Afghanistan gibt es ja neue Krankenhäuser von Hilfsorganisationen, die sich selbst um ihre Ausstattung und den Nachschub kümmern. In afghanischen Krankenhäusern sieht es sehr viel schlechter aus. Warum haben Sie in einem afghanischen Krankenhaus gearbeitet?

Fatma Nassir:

Unter anderem deshalb, weil wir alle, also Monika Hauser und die anderen Ärztinnen, die mit mir da waren, beschlossen haben: Wir wollen wissen, wie es vor Ort aussieht. Wie sind unsere afghanischen Kolleginnen und Kollegen drauf, sind die auch traumatisiert? Wie arbeiten sie, haben sie die nötige Ausbildung? Außerdem gehen die meisten Menschen in Afghanistan nicht in ausländische Krankenhäuser, die trauen sich da nicht hin. Diese Patientinnen und Patienten treffe ich nur in einem afghanischen Krankenhaus, gerade was sexualisierte Gewalt angeht. Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, werden nicht in ein ausländisches Krankenhaus eingeliefert.

Gegenwind:

Wie sah dieses afghanische Krankenhaus aus? Wie hat man auf eine ausländische afghanische Kollegin reagiert?

Fatma Nassir:

Das afghanische Krankenhaus war die Rabiabalti-Klinik in Kabul, direkt in der Innenstadt. Vor dem Einmarsch der Russen war es die Poliklinik der Universitätsklinik, 1992 wurde sie von den Mudjaheddin geschlossen. 1999 wurde sie von der WHO wieder aufgemacht, und zwar als reine Frauenklinik. Frauenklinik nicht im Sinne von Gynäkologie und Geburtshilfe, sondern als Klinik nur für Frauen, mit einer internistischen Station, einer chirurgischen Station, aber dann natürlich hauptsächlich Geburtshilfe und eine gynäkologische Station. Die Klinik ist in einem sehr, sehr schlechten Zustand. Die Ärztinnen und Ärzte, und es sind viele Ärztinnen, sind sehr schlecht oder gar nicht ausgebildet. Die Hierarchiestruktur... Ja, man weiß, wer der Direktor ist, man weiß, wer Chef der Abteilung ist, aber man sieht diese Menschen den ganzen Tag nicht. Niemand weiß, wo die sind. Die Assistenzärzte sind so traumatisiert, dass sie apathisch und teilnahmslos wirken.

Ich selbst wurde nicht als Inländerin, sondern als Ausländerin aufgenommen. Sie sind nicht damit klar gekommen, dass ich für sechs Wochen da bin, eine Stippvisite sozusagen mache, ihnen sage, wo es lang geht und dann wieder in ein Industrie­land zurückkehre, wo alles für mich sehr einfach ist. Ich wurde sehr schlecht aufgenommen, sie haben versucht, mich zu mobben, insbesondere als bekannt wurde, dass ich für medica mondiale jeden Abend einen Report schreiben musste. Ich musste jeden Abend aufschreiben, wie viele Todesfälle es gab, weshalb sie gestorben sind und ob man es hätte verhindern können. Sie haben, als sie dass wussten, gar nicht mehr mit mir kooperieren wollen. Aber sie haben mir das Leben nicht schwer machen können, weil ich am längeren Hebel saß. Medica mondiale hatte ja auch Hilfsgüter, über deren Verteilung ich zu entscheiden hatte.

Gegenwind:

Wie wirkt sich das aus, wenn Assistenzärzte apathisch sind? Wird um eine sterbende Patientin nicht mehr gekämpft?

Fatma Nassir:

Die Ärzte dort gehen völlig anders mit dem Tod und dem Sterben um. Für sie ist verständlicherweise der Tod etwas ganz Selbstverständliches, wie hier das Blutabnehmen. Es kam oft das Argument, wir haben im Krieg gelernt, wir sind im Krieg. Aber meine Antwort war, dass es seit einem Jahr keinen Krieg mehr gibt, wir müssen jetzt im Frieden arbeiten. Um eine Patientin wurde nicht gekämpft, wenn jemand starb, kümmerte man sich auch nicht um die Angehörigen. Die Tote oder auch das tote Kind wurde übergeben. Und es wurden viele Fehler gemacht. Es war dort aber nicht schlimm, Fehler zu machen. Wenn durch meinen Fehler eine Patientin stirbt, weiß ich als Ärztin nicht, ob ich mit meinem Gewissen leben kann. Aber die Ärzte dort haben dieses Gewissen nicht mehr, sie wissen nicht, was richtig und was falsch ist. Sie verdienen umgerechnet 15 Euro im Monat, das ist nichts, und es gab und gibt überhaupt keine Motivation. Ich kann das niemandem verübeln, ich weiß nicht, wie ich wäre, wenn ich dort für immer arbeiten müsste.

Gegenwind:

Wie haben die Patientinnen auf eine Ärztin aus Deutschland reagiert, die aussieht und spricht wie eine Afghanin?

Fatma Nassir:

Die Patientinnen waren das Positivste, was ich dort erlebt habe. Sie waren sehr aufgeschlossen und sehr herzlich, und ich habe immer die Dankbarkeit in ihren Augen gesehen. Ich habe das nicht erwartet und auch nicht gebraucht, aber dieses Gefühl, wenn man nur zehn Minuten einem Patienten zuhört, und wie dankbar eine Patientin mich dann anguckt - ich glaube nicht, dass ich hier in Deutschland jemals so eine Dankbarkeit von einer Patientin zurück bekomme. Sie haben gestrahlt und meine Hand gedrückt, das ist einfach ein unbeschreibliches Gefühl. Die Patientinnen sind sehr gut damit zurecht gekommen, dass ich in Deutschland aufgewachsen bin und dass ich ihnen helfen will, auch wenn es nur für sechs Wochen ist.

Gegenwind:

Und wie haben Sie Hilfsgüter verteilt?

Fatma Nassir:

Ich war am Anfang verzweifelt, weil ich die Verantwortung nicht haben wollte. Denn die Korruption ist stark im Kommen. Und ob es Spritzen oder medizinische Geräte sind, wenn ich sie in die Hände der Klinikleitung gebe, weiß ich, sie sind weg. Ich kann sie auch jedem Assistenzarzt in die Hände drücken, und sie sind weg. Ich kann sie jeder Hebamme in die Hände drücken, und sie sind weg. Am Anfang habe ich erst mal nichts verteilt. Wir haben dann mit medica mondiale beschlossen, dass wir sie verteilen, dass ich aber Listen mache und jede Woche eine Vertreterin von medica mondiale guckt, ob die Sachen dort sind, wo sie sein sollen. Mit den Medikamenten ist es schwieriger, auch wenn ich Listen mache, verschwinden die. Das können wir schon personell nicht schaffen, jeden Tag nachzugucken. Ich habe die Medikamente immer in meiner Kitteltasche gehabt, auch Nahtmaterial und alles, und Medikamente habe ich den Patientinnen selbst in die Hand gedrückt.

Gegenwind:

Wie bewegt sich eine junge Frau aus Deutschland auf der Straße und macht Fotos für den Diavortrag?

Fatma Nassir:

Das war für mich sehr schwer. Ich wusste, dass ich mich verhüllen muss. Ich wusste, dass ich nicht so rumlaufen kann wie hier. Natürlich habe ich nicht die Burka getragen. Ich habe meine langen Haare immer zusammen gebunden, einen Zopf oder einen Dutt getragen, und ich hatte auch immer ein Kopftuch dabei, mindestens als Halstuch. Mir wurde nichts getan, ich wurde immer schief angeguckt, aber mir ist niemand körperlich nahe gekommen. Wenn nur Männer um mich rum waren, habe ich mein Halstuch über den Kopf gezogen, weil ich mich auch besser gefühlt haben. Das sind Männer, die seit 20 oder 23 Jahren keine Frau gesehen haben, außer ihrer Frau, ihrer Mutter oder ihrer Schwester, und die waren verunsichert, wenn sie eine Frau auf der Straße sahen.

Gegenwind:

Wäre es einfacher, wenn Sie aussähen wie eine Europäerin?

Fatma Nassir:

Ja, natürlich. Die Menschen auf der Straße konnten es mir ja nicht ansehen, dass ich in Deutschland groß geworden bin. Europäerinnen können dort ohne Kopftuch rumlaufen. Ausländerinnen dürfen machen, was sie wollen, aber ich sehe in Afghanistan nicht wie eine Ausländerin aus. Die glaubten wahrscheinlich, dass ich eine Frau bin, die sich zu sehr reformiert hat nach dem 11. September.

Gegenwind:

Gab es Probleme beim Fotografieren?

Fatma Nassir:

Bei großen Menschenansammlungen habe ich nicht gefragt, aber einzelne Personen, auch Kinder habe ich immer um Erlaubnis gefragt. Eigentlich wurde sie mir immer gegeben, im Gegenteil. Wenn sie sahen, dass ich mit einem Fotoapparat durch die Gegend lief, sind viele zu mir gekommen und wollten fotografiert werden, obwohl sie das Foto nie zu Gesicht bekommen. Auf Basaren wurde ich von Männern sehr schief angeguckt, aber ich weiß nicht, ob das daran liegt, dass ich eine Frau bin, oder weil sie es nicht gewohnt sind, von Fremden fotografiert zu werden.

Gegenwind:

Waren Sie alleine unterwegs?

Fatma Nassir:

Ich war nie alleine. Ich war meistens mit Deutschen, mit Männern zusammen, unterwegs und im Krankenhaus. Alleine habe ich mich nicht auf die Straße getraut.

Gegenwind:

Sie wollten sich ja besonders um sexualisierte Gewalt kümmern. Wie sind Ihre Erfahrungen?

Fatma Nassir:

Das waren meine negativsten Erlebnisse. Ich war darauf vorbereitet, dass mir Fälle begegnen werden, die sehr schlimm sind. Aber ich war nicht darauf vorbereitet, dass es so schlimm ist und so massiv, dass so große sexualisierte Gewalt in Afghanistan geherrscht hat und herrscht. Die Tatsache, dass die Taliban nicht mehr da sind, heißt nicht, dass Frauen jetzt keine Gewalt mehr angetan wird. Die Taliban waren auch vorher nicht die einzigen, die den Frauen etwas zugefügt haben. Seit Nadjibulla, der Präsident bis 1992, nicht mehr an der Macht ist, geht es den Frauen, was sexualisierte Gewalt betrifft sehr schlecht. Ich habe im Krankenhaus Fälle gesehen, von denen ich nicht einmal geahnt habe, dass so etwas möglich ist, und bei uns sind Frauen gestorben nach Massenvergewaltigungen. Die Prostitution ist sehr hoch, und die Freier sind brutal. Kondome gibt es sowieso nicht. Die Armut ist sehr groß, und die Zuhälter erlauben für 50 Dollar fast alles. Viel mitbekommen habe ich auch von Kindesmisshandlungen, über die in Afghanistan nicht gesprochen wird. Das betrifft Mädchen wie Jungen, Jungen sogar mehr, weil Mädchen nicht rausgehen dürfen und man an Jungen besser rankommt. Ich weiß es natürlich nicht genau, aber ich denke, dass neunzig Prozent der Kinder in Kabul sexuelle Gewalt erfahren.

Gegenwind:

Wenn eine Frau eine Massenvergewaltigung überlebt, welche Möglichkeiten hat sie dann medizinisch und juristisch?

Fatma Nassir:

Juristisch hat sie gar keine Möglichkeiten. Absolut Null. Sie kann eine Vergewaltigung nicht anzeigen. In Afghanistan ist die Tradition völlig durcheinander und die Moral ist völlig durcheinander. Auch unter sogenannten Akademikern in Afghanistan ist es klar: Eine Frau, die vergewaltigt wurde, spricht nicht darüber, auch weil sie selbst Schuld ist, weil sie sich nicht bedeckt hat. Die Taliban haben es ja propagiert, dass Frauen schuld sind, weil sie Männer reizen. Juristisch gibt es absolut nichts. Medizinisch wird sie natürlich versorgt, aber wie alle anderen Patientinnen mehr oder weniger. Die Ärzte machen das Nötigste, und wenn sie stirbt, war es Gottes Wille.

Gegenwind:

Welchen Kurs steuert denn die neue Regierung? Wie viel Macht hat sie? Was will sie aus dem Land machen?

Fatma Nassir:

Die neue Regierung ist meiner Meinung nach eine Versammlung von Kriegsverbrechern, die alle nach Den Haag gehören. Dementsprechend geht es dem Land. Sobald die ausländischen ISAF-Soldaten rausgehen, wird das Land wieder durcheinandergewirbelt. Und diese Soldaten kontrollieren nur Kabul, es gibt keine Kontrolle in Herat, keine Kontrolle in Masar. In Masar herrscht Dostum als Feldherr. Diese Herrschaft von Kriegsverbrechern ist durch und durch korrupt, bis zum letzten Mann, von oben bis unten. Die Minister sind selber sehr reich, man sieht ihnen und ihren Familien den Reichtum an. Ich kann das Gesundheitsministerium als Ärztin besser beurteilen. Sogar uns als ausländischer Organisation, die Hilfe bringen will, wurden Steine in den Weg gelegt. Wir sollten Vorschläge machen, aber uns wurde dann nicht zugehört. Uns wurden Versprechungen gemacht, zum Beispiel Briefe mit Richtlinien an die medizinischen Einrichtungen zu verteilen, diese Briefe vom Ministerium sind in den Krankenhäusern nie angekommen. Die Gesundheitsministerin und ihre Stellvertreterin waren nie da, egal zu welcher Uhrzeit wir anriefen oder hinfuhren.

Gegenwind:

Damals hieß es, schon dass eine Frau Ministerin, in diesem Fall Gesundheitsministerin wird, wäre für die Bevölkerung ein starkes Signal. Wird das wahrgenommen?

Fatma Nassir:

Die Menschen in Afghanistan haben andere Probleme. Man kann das als Ausländerin wahrnehmen, ich habe damals auch gedacht, super, eine Chirurgin als Gesundheitsministerin, die wird für die Probleme und die Rechte der Frauen kämpfen. Ich glaube inzwischen, dass sie noch nicht einmal realisiert hat, welche Probleme die Frauen haben.

Gegenwind:

Sie sind ja in Deutschland aufgewachsen und kennen die Bundeswehr zumindest aus dem Intercity am Sonntagabend. Sie sind jetzt mit einem Bundeswehr-Flugzeug nach Kabul geflogen. Hat sich Ihr Bild von der Bundeswehr verändert?

Fatma Nassir:

Ja, sehr. Vorher war ich nicht nur gegenüber der Bundeswehr, sondern gegenüber dem Militär allgemein sehr skeptisch. Ich hatte dort regen Kontakt mit der Bundeswehr. Mein Bild hat sich positiv verändert. Sie halten sehr zusammen, die Jungs, und zwar nicht nur untereinander, sondern das gilt für alle Deutschen dort, die Botschaft eingeschlossen. Alle kümmern sich sehr umeinander. Ich finde auch den Umgang mit der Zivilbevölkerung vorbildlich. Die Bundeswehr ist da, hilft überall und ist doch unsichtbar, im Hintergrund. Ich finde, sie haben das richtige Maß gefunden.

Gegenwind:

Haben Sie auch negative Auswirkungen der Stationierung gesehen?

Fatma Nassir:

Von den deutschen Soldaten nicht, aber es wird immer erzählt, dass die amerikanischen Soldaten sehr über die Stränge schlagen. Selbst habe ich aber keinen amerikanischen Soldaten kennengelernt. Die Militärpräsenz auf den Straßen sieht erst mal bedrohlich aus, und die Sperrstunde ist sehr bedrohlich, und alle haben auch Angst. Die Bevölkerung denkt, wenn sie ausländische Soldaten sieht, immer noch an die Russen, und das ist erst mal eine neue Besetzung. Aber der Grundton ist positiv, nur die amerikanischen Soldaten mögen die Leute überhaupt nicht. Die sind auf den Straßen eben nicht zurückhaltend wie Deutsche oder Franzosen, sondern treten sehr protzig auf.

Gegenwind:

Wer regiert denn das Land? Was wäre die Regierung ohne die internationalen Truppen? Warum regieren diese Truppen nicht direkt?

Fatma Nassir:

Das wäre vielleicht das Beste, aber dann wäre das ja eine reine Besatzung. Es gibt eben die Vereinbarung, dass die ausländischen Soldaten keine Besatzungsmacht sind, und zum Teil sind ihnen auch die Hände gebunden. Zum Beispiel dürfen sie sich nicht in Frauenangelegenheiten einmischen. Jetzt wurde die Sittenpolizei wieder eingeführt, da dürfen sie sich nicht einmischen. Aber wenn sie nicht mehr da wäre, würden genau die Verhältnisse zurückkommen, wie sie 1992 waren.

Gegenwind:

Wie geht die afghanische Polizei mit Frauen um?

Fatma Nassir:

Da habe ich sehr viel selber mitbekommen. Im Krankenhaus wurden Frauen eingeliefert, die von Polizisten verprügelt worden waren, weil sie um 21 Uhr auf der Straße waren - wohlgemerkt, mit Burka und allem Drum und Dran. Sie wurden verprügelt, weil die Polizei meinte, im Dunklen sind nur noch Prostituierte unterwegs, was wollen Frauen sonst um neun Uhr abends draußen? Die afghanische Polizei hält auch Autos an. Sie müssen sie durchsuchen nach Autobomben, aber wenn eine Frau vorne sitzt, wird sie gefragt, warum sie dort sitzt und nicht hinten. Wenn sie alleine im Auto ist, wird sie gefragt, wer der Fahrer ist. Es sind die Strukturen der Taliban in den Köpfen der Männer drin, das merkt man bei der Polizei ganz deutlich.

Gegenwind:

Können Sie sich eine Zukunft für Afghanistan ausmalen?

Fatma Nassir:

Ja und nein. Ich weiß, dass Afghanistan nach 23 oder 24 Jahren Krieg Zeit braucht, um wieder das zu werden, was es vor 30 Jahren zu Zeiten der Monarchie war. Aber ich sehe das alles sehr nüchtern, seitdem ich selber da war. Ich glaube nicht, dass das leicht sein wird. Ich kenne die Afghanen, und ich kenne die Stammesstrukturen. Ich kenne die Widerstandskämpfer. Die akademische Elite ist im Ausland und wird nicht mehr zurück gehen. Die einzige Zukunft, die ich sehe, sind die Kinder in Afghanistan. Wenn diese Kinder, die heute vier oder fünf Jahre alt sind, weltoffen erzogen werden, können sie in zwanzig Jahren Afghanistan reformieren. Wenn sie erzogen werden wie die jetzigen Politiker, sehe ich schwarz.

Gegenwind:

Wie geht es Frauen in Ihrem Alter, die als Flüchtlinge hier keinen sicheren Status haben und irgendwann abgeschoben werden? Müssen die sich an afghanische Verhältnisse gewöhnen oder kann die Rückkehr auch Afghanistan verändern?

Fatma Nassir:

Für diese Frauen wird es sehr schwer, in Afghanistan zu leben. Sie müssen sich unter der momentanen Regierung anpassen, sonst ist es für sie sehr gefährlich. Trotzdem bin ich der Meinung, dass solche Frauen einen Teil der Zukunft in der Hand haben. Ich kann als westlich lebende Afghanin nicht für sechs Wochen dorthin gehen und die Frauenbewegung gründen. Aber Frauen, die dorthin gehen müssen und dort leben müssen, die können etwas bewirken. Sie müssen nur wissen, dass nicht alles schwarz aussieht. Sie müssen sich organisieren, und das kann klappen.

Gegenwind:

Wie geht es denn allein stehenden Frauen? Also nicht nur denen, die jetzt zurückkehren müssen, sondern auch Kriegswitwen in Afghanistan?

Fatma Nassir:

Frauen ohne männliche Angehörige sind nicht viel wert und können nicht viel anfangen mit ihrem Leben. Sie kriegen nicht einmal einen Personalausweis, wenn sie keinen männlichen Angehörigen haben, und wenn es nur ein dreijähriger Sohn ist, das würde reichen. Einen Beruf ausüben können sie sowieso nicht, das ist auch für Frauen mit männlichen Angehörigen sehr schwer. Aber ohne Ausweis sind sie total von der Willkür der Behörden abhängig.

Gegenwind:

Welche Zukunft sehen Sie für sich persönlich? Können Sie sich vorstellen, später wieder in Afghanistan zu arbeiten?

Fatma Nassir:

Ich glaube, nur begrenzt. Ich habe in Afghanistan gemerkt, dass ich hier aufgewachsen bin und Deutschland meine Heimat ist. Ich habe in Afghanistan nicht den Komfort vermisst, aber ich habe meine Familie vermisst und meine Freunde. Und obwohl ich aus Afghanistan stamme, ist das Land sehr, sehr fremd. Ich glaube nicht, dass ich dort leben könnte.

Interview: Reinhard Pohl

Fatma Nassir ist gerne bereit, als Referentin zu Veranstaltungen zu kommen. Sie bringt ihre Fotos auf einem Laptop mit und benötigt einen Beamer und eine Leinwand, um sie zu zeigen. Kontakt/Terminabsprachen über die Redaktion: redaktion@gegenwind.info oder Tel. 0431 / 56 58 99.


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