(Gegenwind 163, April 2002)
Gegenwind:
Frau Alikhan, können Sie sich selbst vorstellen?
Shaista Alikhan:
Ich komme aus Afghanistan. Ich bin in Kabul geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen. Nach dem Abitur bin ich 1977 zum Studium nach Deutschland gekommen. Nach dem Sprachkurs und der 13. Klasse auf dem Studienkolleg habe ich Architektur studiert. Später habe ich ein zweites Studium gemacht, Regionalplanung. Danach habe ich ein paar Jahre gearbeitet.
Nach der russischen Invasion in Afghanistan habe ich mich politisch engagiert. In der Zeit haben afghanische Studenten ein Bündnis gegründet, in dem ich bis 1990 im Bereich Frauen, Geschichte und Flüchtlinge gearbeitet habe. In der Zeit haben wir Frauen aus diesem Studentenbündnis die RAWA, die 1978 in Afghanistan gegründet war, unterstützt und für die soziale Unterstützung einen Hilfsverein gegründet, der bis 1988 gearbeitet hat. Der Studentenbund hat sich nach dem russischen Rückzug aus Afghanistan aufgelöst, seitdem bin ich politisch Einzelkämpferin und arbeite in verschiedenen Bereichen auf eigene Faust, das ist soziales Engagement für afghanische Flüchtlinge, Sozialbereich und Kultur.
Gegenwind:
Gehören Sie selbst heute einer Organisation oder Partei an?
Shaista Alikhan:
Ich gehöre seit 1990 keiner politischen Organisation mehr an.
Gegenwind:
Fühlen Sie sich einer Organisation nahe?
Shaista Alikhan:
Ich kenne keine Organisation, in der ich mich politisch zu Hause fühle. Ich fühle mich denjenigen Parteien und Organisation nahe, die Menschenrechte, Frauenrechte und demokratische Prinzipien akzeptieren und respektieren.
Gegenwind:
Es gab ja verschiedene Kriege. Zunächst gab es die Besetzung durch die Sowjetunion, dann den Bürgerkrieg zwischen verschiedenen Mudschaheddin-Gruppen, die Eroberung durch die Taliban und als letztes den sogenannten Krieg gegen den Terror, an dem sich auch Deutschland beteiligt hat. Wie beurteilen Sie diesen letzten Krieg?
Shaista Alikhan:
Den Krieg haben die Amerikaner Afghanistan aufgezwungen, wie damals die Russen. Dadurch, dass die Allianz gegen den Terror gegründet wurde, und die Europäische Gemeinschaft und die Weltgemeinschaft sich bereiterklärt haben, gegen den Terror vorzugehen, blieb nicht aus, dass die Deutschen sich mit beteiligen. Wir wissen, wer Herr der Welt ist. Die USA haben im Moment auf der Welt keinen ernsthaften Gegner. Die deutsche Beteiligung am Kontingent, das jetzt in Kabul stationiert ist, geschah auf Bitten der afghanischen Übergangsregierung und der Weltgemeinschaft, weil Deutschland in Afghanistan einen guten Ruf hat. Ich glaube, es war sinnvoll für die nicht-kriegerischen Auseinandersetzungen, diese Präsenz zu zeigen, damit die Lage sich beruhigt und die Übergangsregierung die Situation in Afghanistan sich normalisiert - damit die afghanische Übergangsregierung die Loya Jirga, die Vollversammlung aller Stammesoberhäupter, organisiert und danach die Wahlen stattfinden und die Regierung in Afghanistan, die in der Zukunft gewählt wird, ihre Arbeit normal fortsetzen kann. Ich glaube, ohne ausländische Hilfe wäre die afghanische Übergangsregierung nicht in der Lage, die Loya Jirga ohne kriegerische Auseinandersetzung einzuberufen. Ein humanitäres Engagement Deutschlands ist für Afghanistan begrüßenswert. Mit der Kampfbeteiligung deutscher Soldaten in Afghanistan bin ich nicht einverstanden, da solche Kämpfe natürlich zerstörerische Auswirkungen bei den Teilnehmenden hat, der dann auch wieder neuen Hass schürt.
Gegenwind:
Die Übergangsregierung, die in Kabul sitzt, ist ja nicht durch den Willen des afghanischen Volkes entstanden, sondern auf einer Konferenz in Bonn. Sind Sie damit zufrieden?
In Afghanistan hat es seit 1978 Kriege gegeben, die auch natürlich Führungen an die Macht gebracht haben. Nach der Monarchie hat es ein einziges Mal 1977 freie Wahlen in Afghanistan gegeben, seitdem sind die Führungen immer durch Krieg an die Macht gekommen. Diese Übergangsregierung, die auf Engagement der Weltgemeinschaft, der UNO und mit Beteiligung der Europäischen Gemeinschaft, vor allem Deutschland zustande gekommen ist, war ein positiver Aspekt in der Geschichte Afghanistans nach 23jährigen Kriegen.
Gegenwind:
Funktioniert die Übergangsregierung überhaupt? Man hört, der stellvertretende Verteidigungsminister führt Krieg gegen den Verteidigungsminister, der ehemalige Präsident lässt den Tourismusminister umbringen...
Die Übergangsregierung, die nach dem Petersberger Beschluss zustande gekommen war, ist eine ungleiche Zusammensetzung von Organisationen gewesen, die in Afghanistan verschiedene Situationen beziehungsweise Kriege verursacht haben. Ganz speziell hier die sogenannte Nordallianz, die 1992 die Macht in Afghanistan ergriffen hat, Kabul und andere große Städte in Schutt und Asche gelegt haben. In dieser Zeit wurde in Afghanistan geplündert, Frauen und andere Menschen verschleppt, es hat viele Vergewaltigungen gegeben in dieser Zeit, und die Menschenrechtsverletzungen waren an der Tagesordnung. Hamid Karsai hat kein parteipolitisches Mandat in Afghanistan, obwohl er großen Willen zum Wiederaufbau in Afghanistan hat, und wie wir seit seiner Amtseinführung über die Medien mitbekommen haben, strengt er sich überall an, um die Weltöffentlichkeit für Afghanistan zu engagieren. Er versucht vor allen Dingen, auf der wirtschaftlichen Ebene den Wiederaufbau Afghanistans voranzutreiben, im Moment auch in Deutschland. Der Tourismusminister war Mitglied in Massuds Partei und hatte viele interne Informationen. Nach einiger Zeit, als er Einblick in die Partei von Massud hatte, hat er sich zurückgezogen, ist nach Pakistan gegangen und hat sich mit der Rom-Gruppe, der Gruppe um den König zusammengetan. Er war ein politischer Kopf, war sehr engagiert, deswegen musste er umgebracht werden, um diese Informationen nicht preiszugeben. Hamid Karsai war seit Afghanistans Besetzung oder Invasion durch die Russen politisch aktiv und hat in verschiedenen Gruppierungen in Pakistan versucht, für Afghanistan was zustande zu bringen. Am meisten war er in der Gruppe engagiert, die den Ex-König Afghanistans als Intergrationsfigur in Afghanistan haben wollten.
Ein weiteres Problem für die Zukunft Afghanistans wird die Bewältigung des Zusammenbruchs der gesamten Infrastruktur sein. Da die Regierung in der Zukunft damit sehr beschäftigt sein wird, die Infrastruktur wieder in Gang zu setzen, bleiben andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens eventuell auf der Strecke.
Gegenwind:
Wie geht es den Frauen in Afghanistan? Welchen Fortschritt bedeutete das Verschwinden der Taliban und die Rückkehr der Nordallianz?
Shaista Alikhan:
Die Lage der Frauen in Afghanistan hat sich nicht wesentlich verändert. Die Frauen, die in Afghanistan leben oder seit 1992 geflohen sind, haben die schlimmsten Erfahrungen in der Zeit unter der Nordallianz gemacht. Die Scharia wurde von Rabbani erlassen und auch durchgesetzt, das war nicht die Taliban, die Taliban haben das übernommen und noch stärker durchgesetzt. Im Moment haben die Frauen große Angst, dass die Lage sich zu ihren Ungunsten verändert. Die Übergangsregierung appelliert, Karsai will mit Ministern, die aus dem Ausland nach Afghanistan zurückgekehrt sind und eher für eine Machtbeteiligung von Frauen eintreten, diese Rechte der Frauen in einer Verfassung verankern. Aber die Frauen haben Angst, das die Lage sich wieder zu den Verhältnissen von 1992 umkehrt. Nur wenige Frauen haben den Schleier abgelegt, aber nicht, weil sie gerne mit dem Schleier in die Schule oder zur Arbeit gehen, sondern weil sie unsicher sind.
Gegenwind:
Welche Bedeutung hat für die Menschen in Afghanistan überhaupt, welche Regierung in Kabul residiert?
Shaista Alikhan:
Ich glaube, die Menschen sind durch 24 Jahre Krieg politisch sehr reif geworden. Auch wenn es viele Analphabeten gibt, die Menschen sind reif für Modernisierung, Erneuerung und Demokratie. Ich habe viele Freunde, die auch in den Iran oder nach Pakistan reisen und hierher zurück kommen. Alle berichten, dass die Menschen ein Bedürfnis nach Ruhe, nach Freiheit und nach Leben haben. Die Menschen sind durstig nach Unabhängigkeit. Soweit sie als Flüchtlinge in Pakistan leben, kann jederzeit die Polizei kommen und irgendeine Beschuldigung äußern, um Bakschisch zu bekommen, auch im Iran leben die Menschen nicht frei. Sie können nicht ihre Meinung äußern wie ich zum Beispiel jetzt gerade. Sie haben das Bedürfnis nach Frieden und Freiheit und nach einer Modernisierung des Lebens in Afghanistan.
Gegenwind:
Afghanistan hat jetzt eine Frauenministerin. Welche Bedeutung hat das für Sie?
Shaista Alikhan:
Das habe ich sehr begrüßt, schon als bekannt wurde, dass zwei Frauen jetzt in der Übergangsregierung sind. Ich war erstaunt, dass diese Männer zugestimmt haben, die jahrelang um die Macht gekämpft haben und es bestimmt nicht gewohnt sind, dass Frauen an der Macht teilnehmen. Die Frauenministerin ist eine sehr bewusste Frau. Die Gesundheitsministerin hat in der Sowjetunion studiert, aber auch in Afghanistan gearbeitet. Wir Frauen müssen da auch solidarisch sein, sofern wir gleiche Ziele haben, müssen wir untereinander nicht immer unsere politische Meinung durchsetzen. Wir müssen solidarisch miteinander umgehen, um unser gemeinsames Ziel zu erreichen. Je mehr Frauen an der Macht teilnehmen, desto begrüßenswerter ist das, zumindest für mich.
Gegenwind:
Der Fahrplan der internationalen Gemeinschaft und der NATO sieht so aus, dass der König zurückkehren soll, danach soll die große Versammlung einberufen werden, eine neue Regierung soll aus freien Wahlen hervorgehen. Sehen Sie, dass das klappt?
Shaista Alikhan:
Der König ist schon lange aus Afghanistan weg, er ist sehr alt. Aber er hat um sich herum die alte Verwaltung, und die können zusammen schon etwas für Afghanistan zustande bringen. Ich bin zwiespältig. Einerseits ist er eine Integrationsfigur, er kann was zustande bringen, anderseits ist er sehr alt und war lange aus Afghanistan weg.
Gegenwind:
Glauben Sie denn, dass freie Wahlen möglich sind?
Shaista Alikhan:
Nach 24 Jahren Krieg, nach diesem Chaos, diesem Hunger - ich bin nicht sehr optimistisch. Ich glaube, dass der König zu einer Loya Jirga aufrufen wird, aber ich kann nicht voraussagen, was diese Jirga erreichen wird. Es ist zu hoffen, dass die einzelnen Machtkämpfer vernünftig werden und nicht an sich, sondern an die Zukunft Afghanistans denken.
Gegenwind:
Kann Afghanistan denn in absehbarer Zeit auf eigenen Füßen stehen?
Shaista Alikhan:
Alle Lebensbereiche sind total zerstört durch vierundzwanzig Jahre Krieg. Ich glaube, es braucht nochmal genausoviel Zeit, um wieder so weit zu sein wie 1973. Die Machtkämpfe in Afghanistan haben nicht nur viele Leben zerstört, sondern auch die Grundlage des Lebens. Millionen Flüchtlinge haben Angst, nach Afghanistan zurückzukehren, und es kommen ja heute noch neue Flüchtlinge dazu. Vielleicht gehen einige zurück, aber viele nicht dorthin, woher sie geflohen sind, sie können nicht ihr normales Leben wieder aufnehmen, ihre Felder bestellen. Das ist auch ein Faktor, dass freie Wahlen vielleicht nicht möglich sind.
Gegenwind:
Sie sprachen von Flüchtlingen, mehrere tausend Menschen leben auch in Deutschland. Wie sind diese Flüchtlinge hier behandelt worden, welche Behandlung wünschen Sie sich für Flüchtlinge in Deutschland?
Shaista Alikhan:
Ich habe in den letzten 20 Jahren sehr viele Änderungen in der Flüchtlingspolitik miterlebt. Entscheidungen dauerten Jahre, in dieser Zeit leben die Flüchtlinge hier ohne Perspektive. Sie können weder lernen und eine Ausbildung machen noch sich darauf vorbereiten, nach Hause zurückzukehren. Diese Situation der Perspektivlosigkeit, des Wartens ist das Schlimmste. Es gab unterschiedliche Phasen, die Gesetze wurden geändert, hauptsächlich der Artikel 16 des Grundgesetzes, und die Kohl-Regierung und die jetzige Regierung haben unterschiedliche Änderungen eingeführt. Es ging immer um die Verkürzung der Zeit bis zur Entscheidung, Bleiben oder Gehen, aber diese Zeit wurde immer verlängert. Inzwischen gibt es Flüchtlinge aus Afghanistan, auch in meiner Familie, die seit 12 Jahren keine Entscheidung haben. Jahrelange Klagen, immer neue Verfahren, nur wenige haben es geschafft, wenigstens eine Ausbildung zu machen. Die meisten müssen alle sechs Monate ihren Aufenthalt verlängern, einige einmal im Jahr. Ich sehe als einzigen Ausweg, dass die Bundesländer die Möglichkeit erhalten, Ausnahmen zu beschließen. Das ist aber sehr umstritten, die meisten Flüchtlinge können in diesem Wirrwarr nicht durchblicken.
Gegenwind:
In Schleswig-Holstein soll jetzt der Aufenthalt von nicht anerkannten Flüchtlinge nicht mehr verlängert werden. Offenbar hofft unsere Landesregierung, Flüchtlinge demnächst wieder nach Kabul abschieben zu können. Halten Sie das für zumutbar?
Shaista Alikhan:
Das wissen wir doch alle aus den Medien: Nicht einmal für die westlichen Soldaten, die die Übergangsregierung schützen sollten, gab es ein Dach über dem Kopf. Wie ist es dann mit den dreieinhalb Millionen Flüchtlingen in Pakistan? Denn die sind am schlimmsten dran, gefolgt von denen im Iran. Wenn jetzt Flüchtlinge, die hier leben, abgeschoben werden, wäre das die größte Tragödie in ihrem Leben. Die meisten sind ja ohne Berufsausbildung, ohne Perspektive in Afghanistan. Die Ministerpräsidentin Heidi Simonis war in Afghanistan, sie hat gesehen, wie die Lage dort ist. Vielleicht gibt es keine Verfolgung mehr, vielleicht - aber die Lage ist doch völlig unübersichtlich, für Flüchtlinge gibt es keine Perspektive. Mein Appell ist, die Landesregierung sollte das überdenken.
Gegenwind:
Vielen Dank.
Interview: Reinhard Pohl