(Gegenwind 168, September 2002)
Zu den Aufträgen einer lokalen Agenda 21 gehört die Erstellung eines Leitbildes für die Kommune. Die Stadt Lübeck hatte so was zwischen April 1999 und Juni 2000 praktiziert: mit mehr als siebzig gesellschaftlich relevanten Gruppen der Stadt, großen Stadtteilrunden, Plenumsversammlungen, einer Koordinationsgruppe, sechs Arbeitsgruppen und der professionellen Organisation durch das Institut Kommunikation und Umweltplanung aus Dortmund. Die Beteiligung war umfangreich und demokratisch, die Ausarbeitungen des schon vorher begonnenen Agenda-Prozesses flossen in das Leitbild weitgehend ein.
Aber die Bürgerschaft der Hansestadt Lübeck hat die entstandene Broschüre nicht als Leitbild akzeptiert und beschlossen, sondern nur als Arbeitsmaterial zur Kenntnis genommen. Der Grund für diese Weigerung ist in der Machtverteilung in der Stadt zu suchen: Zwei Unternehmerverbände hatten sich kurz vor Abschluss von der weiteren Teilnahme abgemeldet, weil ihre Forderung nach diskussionslosem Ausbau des Straßennetzes und des Flughafens nicht die erforderliche Mehrheit in den Leitbild-Gremien fand. Damit war das recht detaillierte Leitbild-Papier, auf das sich die beteiligten Gruppen verständigt hatten, zunächst gescheitert, aber auch dem Einzel-Interesse der Unternehmerverbände gelang es nicht, sich als das Gesamt-Interesse der Stadt darzustellen.
Nun hat die Possehlstiftung, die kulturelle Projekte finanziert und politisch der CDU nahe steht, im Januar 2002 die Initiative ergriffen, um die Leitbild-Diskussion neu zu beleben. Die Stiftung geht davon aus, dass für die Leitbild-Arbeit von 1999/2000 die Beteiligung zu vieler Menschen hinderlich war und möchte eine "Leitlinie" für Lübeck durch "Repräsentanten der Kirche, der Kultur, der Wirtschaft, der Gewerkschaften, des Handwerks, der Hochschulen, der Jugend, der Umweltverbände und der Presse" bis Ende 2002 erarbeiten, durch weniger als zwanzig Personen, "auf deren Stimme in der Stadt gehört wird". Zur ersten Sitzung im Mai waren sechzehn Männer und drei Frauen geladen, unter ihnen der Bürgermeister, die Fraktionsvorsitzenden, der IHK-Präses, der Probst, ein Ex-CDU-Bürgermeister, ein Ex-CDU-Senator, ein Ex-SPD-Ministerpräsident - ganz Lübeck also. Die Umweltverbände hatten von vornherein abgesagt. Zur Einstimmung erinnerte der Moderator an die Leitwerte und Spielregeln der Hanse sowie an Thomas Manns Lübeck als geistige Lebensform, für die "das Patrizisch-Städtische, das stammesmäßig Lübeckische und das allgemein Hanseatische" charakteristisch seien.
Das durcheinander redende Plenum und die querulierenden Stadtteilrunden aus dem vorausgegangenen Agenda- und Leitbild-Prozess waren nun nicht mehr hinderlich und so ging es zügig voran. Die versammelten Väter und Großväter der Stadt schufen zunächst den "Kern der Identität der Stadt", an erster Stelle den Verkehr unter der Überschrift "die weltoffene Stadt im Norden". Leitwert Nummer vier im Wertfeld Verkehr lautet: "Beste Infrastruktur der Verkehrssysteme nach außen: Hafen, Flughafen, Bahn, Autobahn." Die dazu gehörigen Projekt-Ideen heißen: "Nordtangente, A 20 und Travetunnel".
Zur Hebung der Wirtschaftskraft "erkennen alle an der Stadtentwicklung beteiligten Kräfte an, dass die Voraussetzung für die Entwicklung von Lübeck in die Zukunft eine gedeihende Wirtschaft ist mit Rahmenbedingungen und einer Verkehrs-Infrastruktur, die diese Wirtschaftsentwicklung fördern." (Vergleiche hierzu auch das "Positionspapier der Wirtschaft" vom September 1999.) Der Leitwert Wirtschaftskraft wird flankiert durch den Leitwert Standortqualität: "Um die Standortqualität zu erhöhen, wird die Verkehrsanbindung konsequent verbessert bei allen vier Verkehrsträgern: Hafen, Autobahn und Straßen, Flugplatz, Bahn." Mit soviel nachdrücklich wiederholter Verkehrs-Infrastruktur war der Mangel der alten Agenda- und Leitbild-Texte zunächst behoben.
Der Ausbau der Biotechnologie soll voran gebracht werden "vor allem durch intensive Kooperation mit der Pharma-Industrie". Die wissenschaftlich gestützte Geldverwertung mit dem Gen-Geschäft findet in Gegenwart und Zukunft statt, aber die Moral der Forschung ist nicht vernachlässigt, sie wird im Institut für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte als Vergangenheit gepflegt: "Hier findet der ethisch-soziale Aspekt der Wissenschaft seine besondere Berücksichtigung."
Soziale Gerechtigkeit gestaltet der kleine Kreis, auf den die Stadt hört, im Kapitel Finanzen: "Finanzielle Solidität ist Voraussetzung für den inneren Frieden der Stadt. In einer florierenden Wirtschaft können auch neue Einnahmemöglichkeiten erschlossen und die soziale Verantwortung besser wahrgenommen werden." Die soziale Verantwortung ist eng verbunden mit den Gewinnen der erfolgreichen Kaufleute der Hanse.
Diese hier zugegebenermaßen nicht wohlwollend dargestellte paternalistische Leitlinien-Erarbeitung zeigt, was entsteht, wenn zwanzig Menschen wissen, was für zweihunderttausend Menschen gut ist. Es soll nicht bezweifelt werden, dass der erfolgreiche hanseatische Kaufmann seine Identität und Weltoffenheit im Straßenbau sieht, aber es darf gefragt werden, wo sich dieses Parallel-Universum mit der gesellschaftlichen Realität der Stadt berührt. Die zahlreichen, einigermaßen demokratisch legitimierten TeilnehmerInnen des Agenda- und Leitbild-Prozesses haben darin keinen Wert gesehen. Aber gerade deshalb ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Mehrheit aus CDU und SPD in der Lübecker Bürgerschaft die neue Leitlinie, die sich "der Lübecker Kaufmann" gibt, als Leitbild für die Stadt übernehmen wird.
Diese Mehrheit hat auch beschlossen, dass das hauptamtlich geführte Agenda-21-Büro der Hansestadt nach der Sommerpause seine Tätigkeit einstellt und dass die hauptamtlich geführte Klimaschutzleitstelle schließt. Zur neuen Leitlinie gehört, siehe oben, die Erhöhung der Abgase-Emmissionen. Aber der Leitwert zur Stadtoptik heißt: "Lübeck wird eine saubere und schöne Stadt." Und bei dieser Sauberkeit und Schönheit kommt positive Grundstimmung als neues Wertfeld auf: "Die Bürgerinnen und Bürger sind stolz auf ihre Stadt und artikulieren dies auch nach innen und außen."
Hans-Jürgen Schubert