(Gegenwind 435, Dezember 2024)

Kieler Scholle
Kieler Scholle

Ein Weg zu mehr Gemeinschaft und Nachhaltigkeit

Solidarische Wohnprojekte in Schleswig-Holstein seit Tschernobyl

In Folge der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 hat sich in vielen Regionen Europas ein neues Bewusstsein für Umwelt, Gemeinschaft und nachhaltiges Leben entwickelt. Schleswig-Holstein ist keine Ausnahme. Besonders in den letzten Jahrzehnten haben solidarische Wohnprojekte im nördlichsten Bundesland Deutschlands an Bedeutung gewonnen. Diese Wohnformen, die auf Gemeinschaft, ökologischer Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit basieren, spiegeln den Wunsch vieler Menschen wider, nach neuen Lebensmodellen zu suchen, die auf Solidarität und gegenseitiger Unterstützung beruhen. Nicht zuletzt der Atomunfall in Tschernobyl war ein Weckruf, der viele dazu veranlasste, sich mit den Folgen der Umweltzerstörung und der Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen auseinanderzusetzen.

In Schleswig-Holstein führte dies zu einer wachsenden Sensibilisierung für ökologische und soziale Themen. Viele Menschen begannen, nicht nur ihren eigenen Lebensstil zu überdenken, sondern auch, wie sie mit ihrer unmittelbaren Umwelt und den Menschen um sie herum interagieren.

Die Gründung solidarischer Wohnprojekte war eine Antwort auf diese Fragen. Diese Projekte konzentrieren sich oft auf ein gemeinschaftliches Leben, das ökologische Verantwortung, soziale Gerechtigkeit und gegenseitige Unterstützung in den Mittelpunkt stellt. Gerade in den 1980er und 1990er Jahren kam es zu einem Boom solcher Initiativen, oft inspiriert von der Anti-Atomkraft-Bewegung und der Ökologiebewegung.

Was sind solidarische Wohnprojekte?

Solidarische Wohnprojekte sind Wohnformen, die tendenziell auf kollektiven Prinzipien basieren. Anders als in herkömmlichen Wohnformen liegt ein Schwerpunkt auf der Gemeinschaft, anstatt auf Individualität und Privatbesitz. Die Bewohner solcher Projekte teilen oftmals nicht nur Wohnraum, sondern auch Verantwortung und Ressourcen.

Diese Projekte organisieren sich mehrheitlich in Genossenschaften, Wohnungseigentümergemeinschaften (WEGs), Kombinationen von Genossenschaften und WEGs, teils auch nach dem Modell des Mietshäuser-Syndikates oder als Verein organisiert, um eine langfristige und stabile Struktur zu gewährleisten. Ein außerordentlich wichtiges Element dieser Projekte ist die selbst gesuchte Nachbarschaft. Bereits in der Gründungsphase sind Grundsätze und gemeinsame Ziele formuliert worden. Es gab Kennenlerntreffen und Gruppensitzungen. Wer zu dem Projekt passte, blieb, wer nicht dazu passte verließ es wieder oder wurde nicht aufgenommen. Man darf sich diesen Prozess nicht allzu streng vorstellen. Es ist aber ein stark verbindender Aspekt, seine Nachbarschaft selbst mit ausgesucht zu haben. Solidarische Wohnprojekte sind auch soziale Kunstwerke. In ihnen geht es nicht nur um das „ich“, sondern auch um das „wir“.

Dabei ist der Begriff „Wohnprojekt“ ist in keiner Weise gesetzlich geschützt. Auch rein kommerzielle Bauträger dürfen ihre Planungen als Wohnprojekte bezeichnen, so dass sich bei Interesse im Einzelfall genaueres Hinsehen lohnt.

Charakteristisch für solidarische Wohnprojekte sind folgende Aspekte:

Gemeinschaftliche Entscheidungsprozesse:

Teilen von Ressourcen:

Ökologische Ausrichtung:

Generationsübergreifendes Leben:

Soziale Inklusion:

In der Förderbilanz des Landes Schleswig-Holstein stehen in den Jahren 2013 bis 2022 allein 30 neu ausgegründete genossenschaftliche Wohnprojekte mit insgesamt 750 Wohneinheiten, davon wurden 325 Wohneinheiten mit Landesmitteln gefördert. Insgesamt gibt es mehr als 50 kleinere und größere Wohnprojekte.

Wie sind die Wohnprojekte entstanden?

Die meisten Wohnprojekte sind als bottom-up Konzepte aus Startergruppen heraus entstanden, oft beraten durch Projektentwickler. In den letzten Jahren wurden andere Wohnprojekte im top-down-Verfahren als kommerzielle Vorhaben durch gewerbliche Entwickler initiiert. In der Rechtsform von Genossenschaften, aber eben nicht durch die zukünftigen Bewohner:innen.

Die Projektberatungsszene in Schleswig-Holstein ist aktuell klein und gerade für basisorientierte Gründungsinitiativen tendenziell stark überlastet.

Solidarische basisorientierte Wohnprojekte gibt es in Kiel (Dampfziegelei, Kieler Scholle, Wohnprojekt Pries und andere), Lübeck (Ägidienhof, Wir in Süd), aber auch in kleineren Gemeinden und Städten (Torfwiesenau Heikendorf, Quickborns, Statthus Husum, Königsmoor Mönkeberg, Pferdemarkt Eckernförde). Etwa 20 solcher Projekte haben sich zu einer Arbeitsgemeinschaft der Wohnprojekte in Schleswig-Holstein zusammengeschlossen. Deren Vertreter:innen treffen sich mehrmals jährlich und besprechen Themen wie Konflikte innerhalb eines Projekts, Rechtsformfragen und aktuell teils altersbedingt zunehmende Schwierigkeiten mit der Selbstverwaltung.

Die Wohnungen in solidarischen Wohnprojekten sind - so weit dem Autor bekannt - permanent ständig belegt. Das Interesse, in so einem Projekt zu leben, übersteigt das Angebot an dort frei werdendem Wohnraum signifikant.

Politische Impulse aus der Wohnprojektszene

Die solidarischen Projekte haben lange Zeit - und für ihre Bewohner:innen oft überraschend - in den ersten Jahren nach Einzug viel mit sich selbst zu tun. Meist müssen entstandene Kosten noch abgerechnet werden. Im Fokus stand und steht dauerhaft die Unterstützung der Menschen innerhalb der Projekte je nach Bedarf. Fahrdienste, Einkaufshilfen, Ausleihen von PKW oder Werkzeug, Betreuung bei leichteren Erkrankungen. Dann aber wirken viele in die Nachbarschaften hinein, mit sozialen Angeboten wie Konzerten, Klön-Kaffeetreffen, offenen Feiern, politischen Bistros, Veranstaltungen mit Geflüchteten, offene Mitbringkneipenabende etc. Teils finden dort Veranstaltungen der Volkshochschulen statt, oder auch Treffen der Ortsbeiräte.

Top-down-Projekte haben bislang kein erkennbares Vernetzungsinteresse gezeigt. Das dürfte daran liegen, dass deren Bewohner:innen gerade nicht basisorientiert selbst ein Projekt entwickelt haben, sondern sich unter dem Label „Wohnprojekt“ in eine vom Anbieter vorgegebene Genossenschaft letztlich einkaufen. Ihren Wohnraum entwickeln sie aber gerade nicht selbst.

Solidarische Wohnprojekte sind eine wichtige Alternative zur konventionellen Wohnwirtschaft. Hier können Menschen oft auch mit niedrigerem Einkommen zusammenleben. Trotz des positiven Wachstums solidarischer Wohnprojekte in der Vergangenheit gibt es auch Herausforderungen. Der Zugang für neue Projektinitiativen zu geeigneten Grundstücken und die Finanzierung für solche Projekte angesichts explodierter Baukosten sind oft Hürden, denen sich Initiativen stellen müssen.

Dennoch ist die Nachfrage nach Wohnmöglichkeiten in solchen Projekten ungebrochen. Die Gründung neuer solidarischer Basis-Wohnprojekte, sei es im Bestand oder im Neubau, ist allerdings fast zum Stillstand gekommen. Neben fehlenden bezahlbaren oder von Kommunen zur Verfügung gestellten Grundstücken und den horrenden Baukosten sind immer weniger Menschen bereit oder in der Lage, den manchmal anstrengenden langwierigen Entwicklungsprozess eines solidarischen Wohnprojektes auf sich zu nehmen, weil ihnen qualifizierte Unterstützung nicht zugänglich ist.

Und was tut die Politik?

Bundesländer, größere Städte und kleiner Kommunen haben Agenturen für Baugemeinschaften geschaffen. Diese sind Kontaktbörsen, unterstützen Baugemeinschaften bei Planung und Entwicklung, erstellen Studien und machen Öffentlichkeitsarbeit. Die kommunale Agentur Düsseldorf fasst zusammen:

Mit der Agentur für Baugemeinschaften und Wohngruppen haben wir in Düsseldorf eine Anlaufstelle für alle Interessierten geschaffen, die sich für diese Form des Wohnens interessieren. Das Aufgabenfeld umfasst neben der Service- und Dienstleistung und der Vernetzung von interessierten Bürger:innen auch die Vermittlung von geeigneten Grundstücken.

Es gibt die Agentur für Baugemeinschaften Hamburg (seit mehr als 20 Jahren), das Niedersachenbüro, die Wohnraumagentur der Stadt Göttingen, und zahlreiche weitere Einrichtungen in Aachen, Berlin, Bremen, Freiburg, Jena, Karlsruhe, Landau, Stuttgart, Ulm und Wiesbaden. Diese Aufzählung ist beispielhaft und keineswegs vollständig.

Allein: Schleswig-Holstein schläft. Weder das Land noch eine größere Stadt erkennen das gesellschaftliche Potential und Bedürfnis für eine solchen Agentur. Das Land tut nichts.

In der Landeshauptstadt Kiel tritt eine von der Arbeiterwohlfahrt getragene Einrichtung namens KIWA als „Koordinationsstelle für innovative Wohn- und Pflegeformen im Alter und für Menschen mit Assistenzbedarf für ganz Schleswig-Holstein“ öffentlich kaum in Erscheinung. Deren Tätigkeitsfeld bedient den Bedarf einer Anlaufstelle für solidarische Wohnprojekte nicht.

Die Stadt Kiel will aktuell nach einer geschäftlichen Mitteilung des Stadtplanungsamtes vom November 2014 einem bislang nicht in Erscheinung getretenen Verein „Netzwerk Gemeinschaftliches Wohnen Schleswig-Holstein e.V.“, der in der Wohnprojektelandschaft völlig unbekannt und demzufolge dort nicht vernetzt ist, die „Rolle einer Art Landesberatungsstelle“ mit einer Teilzeitstelle übertragen. Dieser Verein - der entgegen seinem Namen gerade keinerlei Netzwerk ist - tritt nach seiner Satzung für besondere Bedarfsgruppen wie ältere Menschen, Menschen mit Behinderung, von Wohnungsknappheit oder Obdachlosigkeit bedrohte/betroffene Personen und Familien ein. Das geht mit einer offenen Landesberatungsstelle für Wohnprojekte nicht zusammen und stellt daher allenfalls eine Scheinlösung dar.

Die Wohnprojektlandschaft wünscht und benötigt Anderes; sie wird aber von der Politik nicht gehört.

Ein Veranstaltungshinweis

Auf Initiative aus der Wohnprojektszene veranstaltet die Förde-VHS am 18. Januar 2025 einen Workshop: Gemeinschaftliches Wohnen - Wissenstransfer für Projektler:innen und solche, die es werden wollen. Näheres dazu auf der Seite der VHS, Link: www.foerde-vhs.de

Der Workshop findet statt im Wohnprojekt Kieler Scholle, Moorwiesenhaus, Am Moorwiesengraben 42, 24113 Kiel. Anmeldung bei der VHS Kiel zur Kursnummer 24H11162.

Thomas Jung

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