(Gegenwind 434, November 2024)

Lirchenasyl in Hamburg in der St. Pauli-Kirche
Lirchenasyl in Hamburg in der St. Pauli-Kirche.
Foto: Maria Feck. mail@MariaFeck.de. www.MariaFeck.com.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

Flucht & Asyl

Angriff auf das Kirchenasyl

Evangelische und katholische Christen tun sich schwer, das europäische Asylrecht zu akzeptieren. Sie lassen sich dabei leiten von Texten aus der Bibel, wie z.B. in Matthäus 25, wo Jesus die Worte spricht: Ich war hungrig, ihr habt mir zu essen gegeben, ich war durstig, ihr gabt mir Wasser, ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen. In diesem Sinne hatte sich schon vor Jahrhunderten eine kirchliche Tradition entwickelt, die verfolgte und von Abschiebung bedrohte Menschen, die selbst gar keine Christen zu sein brauchten, in ihren besonderen Schutz nimmt. Das geschah vorrangig in Kirchenräumen und wurde staatlicherseits meist akzeptiert: das Kirchenasyl.

Unter „Kirchenasyl“ wird eine zeitlich befristete Aufnahme von Flüchtlingen verstanden, denen bei Abschiebung Gefahr an Leib und Leben oder Menschenrechtsverletzungen drohen. In Deutschland hat sich diese Praxis in den letzten Jahrzehnten zu einer Form entwickelt, die zwischen dem Staat und den beiden großen Kirchen nach bestimmten anerkannten Regeln verläuft. Das Kirchenasyl beruht auf einer „Verfahrensverabredung“ zwischen dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und den Kirchen. Diese haben sich in einer gemeinsamen Regelungsabrede darauf verpflichtet, dem BAMF ein Dossier zum jeweils aktuellen Einzelfall des Kirchenasyls vorzulegen, in dem die aktuelle Not und die befürchtete unzumutbare menschliche Härte dargestellt werden muss. Das BAMF seinerseits verpflichtete sich daraufhin zu einer erneuten Prüfung. Wenn die Gefahr einer Abschiebung droht, können die Betroffenen so in den Räumen der Kirche im Kirchenasyl vor einem sofortigen staatlichen Zugriff geschützt werden. Die zuständigen Behörden werden drüber informiert. Dies Verfahren war in den aktuell berichteten Fällen, in denen das Kirchenasyl durch Polizeimaßnahmen gebrochen worden ist, auch immer gewissenhaft eingehalten worden. Während des Kirchenasyls werden alle in Betracht zu ziehenden rechtlichen, sozialen und humanitären Gesichtspunkte neu geprüft. Damit soll eine Entscheidung zugunsten der Flüchtlinge erreicht werden. Und das gelang bisher auch in den meisten Fällen.

Das erste Kirchenasyl wurde im Jahr 1983 in Berlin gewährt. Ursache für das Aufleben des Kirchenasyls in Deutschland war das Inkrafttreten des Asylverfahrensgesetzes im Jahr zuvor, das für Flüchtlinge eine Verschärfung bedeutete. Die Kirchenasylbewegung entwickelte sich damals aus der Protestkultur dieser Zeit: So bezeichneten Christen das Kirchenasyl oft als die Fortsetzung der Friedensbewegung mit anderen Mitteln. Im Jahr 1993 wurde das Asylrecht in Deutschland erneut eingeschränkt: Zwar genießen politisch Verfolgte laut Artikel 16 GG grundsätzlich immer noch Asylrecht, doch es gilt nicht für diejenigen, die aus einem so genannten „sicheren Drittstaat“ eingereist sind. Daher handelt es sich bei der Mehrzahl der Fälle um „Dublin-Flüchtlinge“ - also um Menschen, die über ein anderes europäisches Land nach Deutschland eingereist sind und nur dort nach europäischem Recht Asyl beantragen dürfen. Um diesen neuen Bedingungen begegnen zu können, wurde 1994 die „Ökumenische BAG Asyl in der Kirche e.V.“ gegründet.

Evangelische und katholische Christen, die sich für das Kirchenasyl engagieren, nehmen große Anstrengungen auf sich, wenn sie Flüchtlinge in ihre Obhut nehmen. Denn die Flüchtlinge riskieren ihre Abschiebung, sobald sie die Kirche, das Pfarrhaus oder Gemeindezentrum verlassen. Also müssen Gemeindeglieder deren Leben organisieren, für sie einkaufen, Behördengänge erledigen, Ärzte finden, die bereit sind, zu kommen, Kinder sicher in die Schule und zurück begleiten.

Natürlich hat das vereinbarte „Kirchenasyl“ innerhalb der verfassten Kirche immer wieder zu diversen Stellungnahmen herausgefordert. Es gibt seit Jahren eine Debatte darüber, ob das Kirchenasyl nicht als „gesetzeswidrig“ eingestuft werden sollte. Christliche Gemeinden, die sich auf ein Kirchenasyl einlassen, bewegen sich ja tatsächlich in einer rechtlichen Grauzone. Thomas de Maizière, ehemals Innenminister, hatte schärfstens vor einem Missbrauch des Kirchenasyls gewarnt und hinzugefügt, dass schließlich auch Muslime nicht behaupten dürften, dass für sie die religiös verbindliche Scharia über deutschen Gesetzen stehe. Als derselbe 2023 Präsidenten des Evangelischen Kirchentags wurde, ruderte er allerdings etwas zurück: Wenn man ein paar Einzelfälle hinnehme und den Kirchen vertraue, dass sie solche Fälle wieder in ein rechtliches Verfahren eingliedern, dann fände er das noch in Ordnung. Unter diesen Bedingungen habe ich nicht die Absicht, das Kirchenasyl zu beenden.

Durch die unter der Meinungsführung der AfD aufgestachelte Politik gegen Asylbewerber:innen und Migrant:innen setzen sich aber neuerdings zunehmend der Bund und einige Landesregierungen über die bisherigen Absprachen zwischen den Kirchen und den staatlichen Behörden hinweg. So hat die Stadt Hamburg am 30. September 2024 zum ersten Mal ohne Absprache mit der Kirche einen Flüchtling aus dem Kirchenasyl abgeschoben. Zwei Wochen zuvor wurde in Wuppertal ein Mann mit Polizeigewalt aus einem Kirchenasyl in Abschiebehaft verbracht. Über dieses als rechtswidrig empfundene Verhalten einzelner Politiker, das den bisherigen Abmachungen und einer kooperativen Praxis widerspricht, ist in Politik, Öffentlichkeit und Kirche ein heftiger Streit entfacht.

Der Hamburger katholische Erzbischof Stefan Hesse, er ist Beauftragter für Flüchtlingsfragen der Deutschen Bischofskonferenz, zeigte sich sehr betroffen: Ich erinnere noch einmal daran: Das Kirchenasyl ist ein letztes Mittel zur Abwendung unzumutbarer humanitärer Härten. Es geht darum, im Austausch mit den staatlichen Stellen im konkreten Einzelfall eine verantwortbare Lösung zu finden. Das Kirchenasyl dient in diesem Sinne auch der rechtsstaatlichen Ordnung. Umso wichtiger ist es, dass die Behörden die Tradition des Kirchenasyls respektieren." Auch Kirsten Fehrs, Hamburgs evangelische Bischöfin und amtierende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) erklärte, die Räumung des Kirchenasyls im Erzbistum Hamburg erfülle sie "mit großer Sorge. Kirchenasyl sei keine leichtfertige Entscheidung, sondern eine Form des humanitären Schutzes. Kirchengemeinden gewähren ihn nach sorgfältiger Prüfung, wenn sie in der Umsetzung des Asylrechts schwerwiegende Mängel oder Gefahr für Leib und Leben sehen. ... Als Kirchen werden wir weiter gemeinsam dafür eintreten, dass das Kirchenasyl als letzte Zuflucht im Sinne einer menschenwürdigen Asylpraxis erhalten bleibt, so die Bischöfin.

Auch die Grünen, selbst Teil der Hamburger Landesregierung, äußerten sich kritisch und verwiesen auf die lange Tradition des Kirchenasyls: Die Praxis in der Gegenwart beruht auf einem zwischen den Kirchen und den staatlichen Behörden eng abgestimmten Verfahren. Das ist ein absoluter Tabubruch, sagte die fluchtpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE in der Hamburgischen Bürgerschaft. Sie hätte nicht für möglich gehalten, dass das in Hamburg passieren kann. Abschiebungen aus dem Kirchenasyl darf es nicht geben! ... es (muss) als gesellschaftlich anerkannter Schutz respektiert werden - selbst dann, wenn das BAMF die kirchliche Einschätzung nicht teilt.

Die Antwort des Hamburger Innensenators Grote lies nicht lange auf sich warten. Mit der provokativen Schlagzeile im Hamburger Abendblatt vom 17. Oktober 2024 wurde er zitiert: Die Kirche steht nicht über dem Recht. Seine Behörde respektiere das Kirchenasyl, so Grote, aber es hat in einem rechtsstaatlichen Verfahren nur dann eine Legitimation, wenn sich alle Beteiligten an die verabredeten Regeln halten. Das bedeutet: Wir räumen den Kirchen, und zwar nur den Kirchen, die Möglichkeit ein, Menschen zu benennen, die schon alle rechtsstaatlichen Verfahren durchlaufen haben, bei denen die Kirche aber dennoch eine besondere Härte erkennt. Und dann kommt der entscheidende Satz: Erkennt das BAMF die Einwände aber nicht an, muss das Kirchenasyl auch verlassen werden. Und dieser letzte Teil wird gern vergessen. Das Kirchenasyl wird auch bei einer ablehnenden Stellungnahme des BAMF eben regelmäßig nicht beendet. Das ist ein Problem, denn: Die Kirche steht nicht über dem Recht.

Grote berührt damit nicht zufällig den politisch-moralisch wunden Punkt der Kirchenasylpraxis. Geht es doch in den meisten Fällen, in denen Flüchtlingen dieser Bestand geleistet wird, darum, die Sechs-Monats-Frist durch die Obhut im Kirchenasyl zu überbrücken und die Asylsuchenden während dieser Zeit dem staatlichen Zugriff zu entziehen. Denn: Hält sich ein Flüchtling länger als sechs Monate in der Bundesrepublik Deutschland auf, besteht die rechtliche Möglichkeit, gegenüber dem BAMF eine Neuaufnahme des Asylantrags zu erzwingen. Dies kann verhindern, dass Flüchtlinge in einen sogenannten sicheren Drittstaat abgeschoben werden. Die Gefahr ist groß, von dort in ihr Ursprungsland verbracht zu werden und dann in diesem Staat, dem sie mühevoll entkommen sind, erneut der Folter und Elend ausgesetzt zu sein. Das zugegeben kleine Schutzelement Kirchenasyl in Deutschland hat mit dieser Vorgehensweise etlichen tausend Menschen das Leben gerettet.

Ob ihr „ziviler Ungehorsam“ ethisch vertretbar ist, werden Kirchengemeinden und Unterstützer:innen im Einzelfall sehr genau prüfen. Es ist schon eine große moralische und praktische Leistung, die von denen erbracht wird, die Flüchtlinge aufnehmen. Wem aber der Schutz von Flüchtlingen als Menschenrecht so am Herzen liegt, dass diese Unterstützer:innen des Kirchenasyls dafür sogar Strafen in Kauf nehmen - eigentlich wäre die demokratische Gesellschaft gut beraten, solche Menschen zu ehren, statt, wie es der Innensenator tut, sie zu delegitimieren.

Edda und Helmut Lechner

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