(Gegenwind 433, Oktober 2024)
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine dauert jetzt schon mehr als zehn Jahre. Während es nach dem ersten Angriff 2014 gelang, mit dem ersten und zweiten Abkommen von Minsk und den folgenden mehr als 30 Waffenstillstandsabkommen (die alle von Russland gebrochen wurden) eine Art Stillstand der Kämpfe zu erreichen, scheint das nach Russlands zweitem Angriff vom Februar 2022 nicht möglich. Ende diesen Jahres ist der zweite Krieg 1000 Tage alt, und die Zahl der toten und schwer verletzten Soldaten könnte die Million übersteigen. Dazu kommen Zehntausende von getöteten, verletzten und in den besetzten Gebieten ermordeten, entführten, vergewaltigter Zivilisten.
Russland hat seit Februar bis Ostern 2022 rund 40 Prozent des Landes erobert. Die bei getöteten russischen Generälen gefundenen Pläne und Befehle Putins zeigen aber, dass das schon ein Misserfolg war. Die Befehle lauteten, am 8. März eine Siegesparade in Kiew abzuhalten, nachdem die gesamte Ukraine bis zu den Grenzen Polens und Rumäniens besetzt ist. Für den 15. März 2022 war der Angriff auf die Republik Moldau befohlen.
Der Ukraine war es gelungen, den Angriff auf Kiew mit riesigen Verlusten für Russland zu zerschlagen. Russland hatte damals eine sehr starre Militärordnung mit langen Befehlswegen, also die sowjetische Organisation. Die ukrainischen Soldaten kämpften in kleinen Gruppen und selbständig, nach dem Muster und der Ausbildung Kanadas. Kanada hatte nach der ukrainischen Niederlage im August 2014 praktisch eine neue Armee aufgebaut, die USA unter Donald Trump sie mit modernen Abwehrwaffen ausgerüstet.
Bis Ende des Jahres 2022 konnte die ukrainische Armee bei mehreren schnellen Vorstößen, vor allem nördlich und östlich von Kiew, dann bei Charkiv, schließlich bei Cherson das russische Besatzungsgebiet um die Hälfte reduzieren. Seitdem hält Russland rund 20 Prozent der Ukraine besetzt, vor allem im Osten und Süden. In diesem Gebiet sind mehr als 30 Gefangenenlager entstanden, in denen Folter und Hinrichtungen alltäglich sind. Rund 40.000 ukrainische Kinder wurden entführt und russischen Familien zur Adoption gegeben, nur wenige konnten seitdem freigekauft oder befreit werden.
Der Versuch der Ukraine, die Besatzung im Frühsommer 2023 im Süden anzugreifen und das Besatzungsgebiet bei Tokmak in zwei Teile zu spalten, scheiterte. Die Panzer aus den USA, Großbritannien und Deutschland kamen zu spät, Russland konnte dadurch seine Verteidigungslinien befestigen. Die Ukraine hatte nicht die Mittel, solch tiefen Minenfelder zu räumen.
Russland hat fünf Provinzen annektiert, teils mit gefälschten Abstimmungen „legitimiert“. Nur eine der fünf Provinzen ist vollständig besetzt, die anderen fast oder auch nur halb. Aber Russland hat sich festgelegt, alle Verhandlungen abzulehnen - das hat die Führung immer wieder bekräftigt.
2023 und 2024 hat Russland seine Taktik geändert. Die Angriffe werden durch wochenlangen Artilleriebeschuss vorbereitet. Der Osten der Ukraine soll nicht mehr „befreit“, sondern zerstört werden: Die Orte, die man erobern will, werden zunächst durch Bomben und Artillerie, durch Raketen und Drohnen vollständig zerstört. Danach rücken die Soldaten vor, 2023 in gepanzerten Fahrzeugen, inzwischen zu Fuß und ungeschützt. Die Umrechnungen der geopferten russischen Soldaten pro besetzten Quadratkilometer zeigen, dass diese Strategie auf Dauer nicht funktioniert - um die gesamte Ukraine auf diese Weise zu zerstören und zu besetzen, müsste Russland 20 bis 30 Millionen Soldaten opfern.
Putin könnte zwei Punkte wollen:
Entweder hört der Durchhaltewillen der Demokratien auf. Das hängt hier einerseits an Wahlen, in Deutschland werden die Anhänger Putins (AfD, BSW) stärker. Sie transportieren die Forderung Putins nach einer Verringerung der Verteidigung der Demokratie, auch seine gelegentlichen Drohungen mit Atomwaffen. Entscheidend sind dafür die Wahlen in den USA - Kamala Harris setzt sich entschlossener für die Demokratie ein als Donald Trump. Es ist für Putin riskant, denn die Demokratien haben ein Vielfaches der Produktionskapazitäten. Noch hat kein Unterstützer der Ukraine die Produktion von Waffen und vor allem Munition erhöht. Man muss zusätzlich bedenken: Russland verschießt täglich 10.000 Artilleriegranaten, die Ukraine müsste nur ein Drittel zur Verfügung haben, um damit mithalten zu können, weil die westlichen Granaten viel sicherer treffen. Mehrere Demokratien wären zur Produktion in der Lage, bisher ist keine dazu bereit.
Oder Putin hofft darauf, den Durchhaltewillen der Ukrainerinnen und Ukrainer zu brechen. Sie haben bei einem Viertel der Bevölkerung zur Zeit eine gleich große Armee an der Front. Russland hat nochmal so viele Soldaten in Russland, von denen täglich 1.200 die Gefallenen ersetzen müssen. Die Ukraine weiß natürlich: Wenn ihre Front zusammenbricht, gibt es die Ukraine nicht mehr, weil Russland das Land erklärtermaßen vernichten will. Gerade die Ankündigung des ehemaligen Präsidenten Medwedew, zur Etablierung einer neuen Regierung in Kiew müssten 12 Millionen Ukrainer:innen getötet werden, stärkt den Durchhaltewillen eher.
Die Ukraine will darauf hinaus, dass entweder die russische Front zusammenbricht - das ist aber relativ unwahrscheinlich, auch wenn die meisten Soldaten wenig motiviert sind. Das könnte höchstens passieren, wenn es zu Kämpfen im Kreml kommt. Die Verhaftung der Hälfte der Generäle im russischen Verteidigungsministerium seit der Entlassung des Verteidigungsministers zeigt, dass Putin wenigen vertraut.
Oder die Ukraine will darauf hinaus, dass Putin in Russland seinen Rückhalt verliert. Dem dienen die Angriffe der ukrainischen Armee in Kursk, vor allem aber die Drohnenangriffe auf militärische Ziele im Westen Russlands. Diese Angriffe reichen inzwischen tausend Kilometer weit. Schon in den letzten zwanzig Jahren war die Ukraine eines der führenden Länder der Welt in der Entwicklung von Drohnen, gedacht für den Rüstungsexport oder auch die Landwirtschaft. Das zahlt sich jetzt aus.
Am 6. August 2024 ist die ukrainische Armee in Kursk einmarschiert. Die russische Provinz an der Grenze war lange in den Krieg involviert, von hier kam die Einheit, die das Verkehrsflugzeug aus den Niederlanden abgeschossen hat. Der Angriff verlief überraschend erfolgreich, die russischen Soldaten dort kapitulierten oder flohen. Die Orte in Kursk, dort sprechen übrigens viele Menschen Ukrainisch, fielen den Soldaten weitgehend unbeschädigt in die Hände. Putin ordnete wohl an, keine Einheiten aus den Hauptkampfgebieten in der Ostukraine abzuziehen - die Einheiten, die eilig an die Front geworfen wurden, waren schlecht ausgestattet und hatten keinen Kontakt mit den (ihnen unbekannten) Nachbareinheiten. So ist verständlich, dass bis heute die rund 40.000 russischen Soldaten dort gegen die rund 10.000 ukrainischen Soldaten so schlecht abschnitten und so hohe Verluste hatten.
Außerdem wurden die heraneilenden russischen Verstärkungen komplett davon überrascht, dass die Ukraine für die von Deutschland gelieferten „Panzerhaubitzen 2000“ RAAMS-Granaten bekommen hatte. RAAMS-Granaten explodieren nicht, sondern sie werfen kurz vor dem Aufprall neun Panzerminen. Man muss nur auf 10 Kilometer Entfernung genau die Straße treffen, auf der gerade die feindlichen Kolonnen vorrücken. Das gelang, Anwohner:innen stellten mehrere Filme und Hunderte von Fotos ins Internet, auf denen man Dutzende zerstörter Panzer, Schützenpanzer und LKWs sieht. Die ukrainischen Truppen und ihre Drohnen haben vom Westen die Nachtsichtfähigkeit erhalten, die den russischen Truppen fehlt. Das russische Werk nördlich von Moskau, das diese Geräte herstellt, war schon zu Beginn des Krieges von der Ukraine in Brand geschossen worden.
Ob die Ukraine „nur“ hohe russische Verluste verursachen und viele russische Soldaten gefangen nehmen will, oder ob das Gebiet bis zu den Verhandlungen besetzt bleiben soll, verrät die Ukraine noch nicht.
Russland lehnt Verhandlungen ab. Bei den Verhandlungen in Istanbul verlangte Russland die Kapitulation und Entwaffnung der Ukraine, diese lehnte ab - auch weil während der Verhandlungen das russische Massaker in Butscha entdeckt worden war.
Jetzt verlangt Putin die Aufgabe der fünf Provinzen durch die Ukraine, die ukrainische Armee soll sich auch aus dem gesamten Gebiet zurückziehen. Auf eine solche Voraussetzung lässt sich die Ukraine natürlich nicht ein. Es könnte sein, dass die Ukraine mit der Besetzung eines Gebietes in Kursk die Verhandlungsbereitschaft der russischen Diktatur erhöhen will.
Verhandlungen sind auch deshalb schwierig, weil Putin im ersten Krieg alle Vereinbarungen gebrochen hat - beide Minsk-Abkommen und die 32 Waffenstillstandsabkommen. Insofern könnte es nur funktionieren, wenn die Ukraine diesmal Sicherheitsgarantien bekommen - und die können glaubwürdig nur von der NATO kommen. Dazu ist die NATO nicht bereit, sie will nicht Teil des russischen Krieges werden.
Die Frage ist, warum die NATO-Staaten nicht das tun, was sie können: Die Ukraine so unterstützen, dass die russischen Truppen ihre Fähigkeiten verlieren. Im Schwarzen Meer hat die Ukraine gezeigt, wie das geht. Ein Drittel der russischen Flotte wurde versenkt, die anderen Schiffe vertrieben. Die Ausrüstung, die die russische Armee aus Syrien zurück nach Russland schafft, müssen jetzt über den Atlantik und die Ostsee transportiert werden, weil die Krim auf dem Seeweg nicht mehr erreichbar ist.
Die Demokratien könnten der Ukraine die Waffen liefern, die die Flughäfen und Rüstungsbetriebe Russlands zerstören. Dass Russland dann Atomwaffen einsetzt, glaubt niemand. Auch Putins Unterstützer in Deutschland, die die Drohungen weitergeben, nehmen sie nicht wirklich ernst, denn dann hätten sie Deutschland längst verlassen.
Biden und Scholz, die die wirksame Hilfe verhindern, vor allem aber Jake Sullivan (der die Entscheidungen über die Hilfe trifft) befürchten, dass die Diktatur in Russland unkontrolliert zusammenbricht, ähnlich wie die Diktaturen in Libyen oder Irak. Dort gab es Chaos und Bürgerkrieg - aber in Russ-land bedeutet das Chaos und Bürgerkrieg mit tausenden von gelagerten Atombomben. Jede Bürgerkriegspartei wäre in Versuchung, Atomsprengköpfe zu verkaufen.
Sicher ist: Auch wenn ein Land den Krieg am Schluss gewinnen kann, sind beide Verlierer.
Aus der Ukraine sind schon vor dem Krieg viele Menschen ausgewandert, ähnlich wie aus Polen, Rumänien oder Bulgarien. Migrationsforscher:innen schätzen, dass auch nach einem Sieg nicht mehr 44 Millionen Menschen, sondern eher 30 Millionen dort bleiben. Die Geburtenrate war schon vorher so niedrig, dass die Bevölkerung allein dadurch schon schrumpfte.
Eine Demokratie hat natürlich die Möglichkeit, im Bündnis mit anderen die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Polen hat eindrucksvoll gezeigt, dass eine positive Entwicklung viele Auswanderer zur Rückkehr bewegen kann. Und das hat Polen geschafft, obwohl es weit höhere Rüstungsausgaben als Deutschland hat, als direkter Nachbar Russlands (das Belarus ja fast schon annektiert hat). Eine ähnliche Entwicklung kennen wir aus den 1980er Jahren aus Portugal, mal ein wichtiges Auswanderungsland für deutsche Gastarbeiter.
Ob die Ukraine das hinkriegt, ist natürlich nicht klar. Aber man sah schon an den Plünderungen russischer Soldaten, die Kühlschränke und Staubsauger nach Russland schafften, dass sie über den erreichten Lebensstandard in der Demokratie erstaunt waren.
Wahrscheinlicher ist aber, dass der Krieg ein zerstörtes und entvölkertes Land hinterlässt, das vielleicht auch einige Provinzen aufgeben muss. Die Mitgliedschaft in der EU und der NATO dauern noch einige Zeit, gehören aber voraussichtlich zu den Bedingungen eines Waffenstillstands.
Vor zwanzig Jahren hat die Republik Moldau sich darauf eingelassen, die Neutralität in der Verfassung zu verankern, im Gegenzug sagte die russische Regierung den Rückzug seiner Truppen aus Transnistrien zu. Das Ergebnis war: Moldau ist noch immer neutral, aber der russische Abzug wurde von Putin nicht vollzogen. Und wir kennen inzwischen Putins Angriffspläne, die gerade auf der Neutralität von Moldau fußen - ein NATO-Mitglied hätte er nicht angegriffen. Das weiß die Ukraine, das wissen die Nachbarn der Ukraine.
Aber die Wirtschaftsentwicklung und damit auch eine Rückkehr zumindest eines Teil der Flüchtlinge hängen auch davon ab, dass die Ukraine demokratisch bleibt und die Korruption weiter zurückdrängt. Das „Transparenzgesetz“ von Selenskyj war schon ein wichtiger Schritt, aber noch immer werden wöchentlich Korruptionsfälle aufgedeckt. Die Ukraine liegt inzwischen im Mittelfeld der Staaten der Welt, aber noch weit von den „schlimmsten“ Mitgliedsstaaten der EU (Rumänien und Bulgarien) entfernt.
Die Zukunft Russlands ist schwerer vorauszusagen. Eine Diktatur sieht erstmal viel stabiler aus als eine Demokratie, kann aber auch leichter zusammenbrechen. Konkurrenten um die Macht hat Putin umgebracht, zur Zeit werden reihenweise Generäle verhaftet oder versetzt. Die russische Verteidigung von Kursk leitete erst das Verteidigungsministerium, dann der Geheimdienst, heute sein ehemaliger Leibwächter - Putin ist inzwischen krankhaft misstrauisch.
Man weiß nicht, wie die Führung sich verhält, was Putin zu befürchten hat, wenn die Ziele des Krieges nicht erreicht werden. Andererseits gilt eine strenge Zensur. Putin kann jedes Ergebnis des Krieges, selbst einen russischen Rückzug oder Teilrückzug auch als Sieg verkaufen. Die Ziele, die seine Propaganda bekannt gegeben hat, wechselten ja öfter. Es war die Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine - glaubt man den Propagandamedien, wurden schon fünfmal so viele westliche Waffen vernichtet wie geliefert.
Ein Unsicherheitsfaktor ist China. China hält die Sanktionen weitgehend ein. Schon 2019 hat China Russland wirtschaftlich (pro Kopf) überholt, insgesamt war China zu Kriegsbeginn zehnmal stärker als Russland. Diesen Abstand hat es durch die horrenden russischen Verluste in der Ukraine noch erheblich ausgebaut. China hofft natürlich, dass die Sanktionen gegen Russland bleiben - dann können die Demokratien nicht so schnell wieder in eine wirtschaftliche Zusammenarbeit einsteigen, Russland wird damit zum Rohstofflieferanten Chinas.
Russland hat im 19. Jahrhundert, als China schwach war, große Gebiete im Nordosten Chinas besetzt und den innerchinesischen Fluss Amur zur neuen Grenze gemacht. Das ist der letzte der „ungleichen Verträge“, den China noch nicht rückgängig gemacht hat. Relativ unbeachtet von der Weltöffentlichkeit gab es vor zwei Jahren einen Erlass in China, dass die Orte nördlich des Amur in allen Schulbüchern wieder ihren chinesischen Namen zurückerhalten. Große Gebiete wurde auch gepachtet, um Holz zu gewinnen, weil die Wälder südlich des Amur in China unter Naturschutz stehen.
Falls Russland Hilfe braucht, und das sieht so aus, könnte China Kredite geben und die Gebiete als Sicherheit akzeptieren. Russland gibt zur Zeit Staatsanleihen mit 20 Jahren Laufzeit und 16 Prozent garantierten Zinsen heraus.
Allerdings will China, genauso wie die NATO, das Auseinanderbrechen Russlands verhindern. Ein Bürgerkriegsland mit nicht mehr kontrollierbaren Atomwaffen an der Nordgrenze kann China mit Sicherheit nicht brauchen. China hat eine mehr als 4.000 km lange gemeinsame Grenze mit Russland, dazu kommt die Mongolei als dünn besiedelter Staat zwischen den Ländern.
Auch Russland ist bereits von Millionen Menschen verlassen worden. Die Wirtschaft nimmt noch Migrant:innen auf, vor allem ungelernte Arbeitskräfte aus Zentralasien, aber Fachkräfte wandern in den Westen aus. Schon seit Jahren nehmen Europa und Nord-amerika Russ:innen auf, meist gut qualifizierte Arbeitskräfte, den Verlust kann Russland nicht wett machen. Eine Rückkehr ist für die meisten nur denkbar, wenn in Russland Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie herrschen. Die Korruption ist in den letzten zehn Jahren erheblich schlimmer geworden, weil Korruption Bestandteil des Herrschaftssystems ist. Damit kann man eine Herrschaft aufbauen, aber keine Wirtschaft, die den eigenen Einwohner:innen nützt.
Mehr als ein Million Flüchtlinge aus der Ukraine leben in Deutschland. Es sind vor allem Frauen und Kinder, aber es sind auch (wehrpflichtige) Männer dabei. Der Schutz wird von der EU jetzt bis März 2026 verlängert. Aber der Aufenthaltstitel nach § 24 Aufenthaltsgesetz führt zur Zeit nicht zur Niederlassungserlaubnis oder zu Einbürgerung, dazu müssen hier lebende Flüchtlinge einen Aufenthaltstitel für ihre Arbeit oder aus familiären Gründen bekommen. Einzelnen gelingt das, vielen aber nicht. Je länger der Krieg dauert, desto mehr Flüchtlinge gewöhnen sich an ihre neue Heimat und wollen nicht zurückkehren.
Die ukrainische Regierung übt zur Zeit auf die wehrpflichtigen Männer Druck aus, indem die Pässe in der Botschaft nicht mehr verlängert oder erneuert werden. Damit werden viele von der Aufenthaltserlaubnis zur Duldung zurückgestuft - sie sind ausreisepflichtig, werden aber wegen des Krieges nicht abgeschoben. Wie es weiter geht, ist also für sie unklar.
Schwierig wird es zur Zeit für Flüchtlinge aus der Ukraine, die nicht die Staatsangehörigkeit haben. Aus bestimmten Herkunftsländern dürfen sie bleiben, aus anderen nicht. Sie müssen ins Herkunftsland oder in die Ukraine zurück, wollen sie nicht die Abschiebung aus Deutschland riskieren. Einige haben einen Aufenthaltstitel für ein Studium, für eine Ausbildung oder für eine Arbeit ergattert, das gelingt aber nicht allen.
Wenn allerdings die Unterstützung für die Ukraine weniger wird, wie AfD und BSW es wollen, dann werden noch 5 oder 10 Millionen Flüchtlinge kommen. Denn die Visumfreiheit für Ukrainer:innen wird zur Zeit von niemandem in Frage gestellt. Und unter russischer Besatzung wollen die wenigsten leben, inzwischen ist bekannt, was das bedeutet. Russland bemüht sich, Strom und Wärme anzugreifen, um mehr Flüchtlinge zu erzeugen. Ob das klappt, werden wir erst zum Winterbeginn erfahren.
Russische Flüchtlinge müssen hier Asyl beantragen. Die Bundesregierung hat mehr als tausend Regimegegner aufgenommen, im Vergleich zu Afghanistan schnell und geräuschlos. Aber alleine im ersten Halbjahr sind fast 2.500 russische Flüchtlinge angekommen, die Asyl beantragt haben.
Im Januar bis Juni wurden 3.866 russische Asylanträge entschieden. Davon waren nur 5,4 % positiv, gerade mal etwas mehr als 150 Flüchtlinge wurden anerkannt. Abgelehnt wurden 1.651 oder 42,7 Prozent. 2.006 Asylanträge wurden ohne Entscheidung erledigt - das sind Dublin-Verfahren mit einer angedrohten Abschiebung meistens nach Finnland oder Polen. Es gibt auch Antragsteller:innen, die das Verfahren abbrechen. Allerdings waren im Juli auch noch mehr als 5.000 Anträge gelagert, also die Anträge von mehr als einem Jahr. Die Zahl der Flüchtlinge steigt schneller als die Zahl der eingearbeiteten Entscheider, und die Diktatur in Moskau wird vom BAMF traditionell als harmlos angesehen.
Abgeschoben wird zur Zeit nicht, weil wegen der Sanktionen keine Flugverbindungen existieren. Das gibt Abgelehnten allerdings keine Sicherheit, sie müssen sich schnell um Alternativen kümmern. Denn die russischen Behörden sind vermutlich im Gegensatz zum BAMF der Meinung, sie müssten sich Flüchtlinge aus Russland bei einer Rückkehr sehr genau ansehen. In Russland gab es mehrere Hunderttausend Strafverfahren gegen Kriegsgegner:innen, für die aber oft weder Verfolgung noch Strafe kalkulierbar sind.
Wünschenswert wäre es, wenn die Bundesregierung und insbesondere das Innenministerium die Richtlinien für das BAMF zur Anerkennung russischer Flüchtlinge schnell überarbeitet.
Reinhard Pohl
Veranstaltung dazu: 10. Oktober, Diakonisches Werk (Landesverband Schleswig-Holstein). 10 bis 14 Uhr im Diakonischen Werk in Rendsburg und online bei Zoom. Anmeldung über die Internet-Seite des Diakonischen Werkes.