(Gegenwind 432, September 2024)

Lava Mohammadi

Vor allem Frauen haben alles verloren

Interview mit Lava Mohammadi (26), afghanische FLINT*-Aktivistin in Kiel

Eigentlich dachte man, mit der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 wäre klar, dass Afghan:innen Schutz brauchen. Ein Aufnahmeprogramm wurde angekündigt. Aber inzwischen wird wieder über Abschiebungen diskutiert. Grund genug, Lava Mohammadi zum Interview einzuladen.

Gegenwind:

2021 haben die Taliban die Macht ergriffen. Du hast ja gute Kontakte nach Afghanistan. Wie ist aus Deiner Sicht heute die Situation im Land?

Lava Mohammadi:

Die Situation in Afghanistan hat sich nach dem Abzug der NATO tragischerweise dramatisch zum Schlechten verändert. Die Menschen, die damals ein selbstbestimmtes Leben hatten, vor allem Frauen, haben alles verloren. Menschen, vor allem Frauen, Mitglieder ethnischer oder religiöser Minderheiten haben Angst vor dem Regime der Taliban. Die Menschen werden täglich verfolgt. Wenn sie irgendwo gefangen genommen werden, werden sie ins Gefängnis gebracht. Dort werden sie gefoltert, oft auch ermordet. Wir haben Hunderte von Frauen, die für ihre Rechte gekämpft haben, die auf der Straße waren, in den Gefängnissen der Taliban. Sie werden da schikaniert, sogar mehrfach vergewaltigt. Meistens überstehen sie die Folter nicht. Oder viele bringen sich selbst um, wenn sie freikommen. Sie werden psychisch krank, bekommen Alpträume, können nicht mehr schlafen oder ein normales Leben führen. Für die LGBTIQA-Community, die noch nie gut in Afghanistan leben konnten, für die ist es noch schrecklicher geworden. Sie werden in den Gefängnissen der Taliban gefoltert, oft auch getötet. Und sie werden in der Öffentlichkeit ausgepeitscht oder gesteinigt.

Gegenwind:

Wie war dein eigener Weg in Afghanistan und dann nach Deutschland?

Lava Mohammadi:

Ich bin in Pakistan geboren und da aufgewachsen. In Indien habe ich ein Semester in Studienkolleg studiert, als mein Bruder in Bachelor studierte. Mein Bruder musste dann wieder nach Afghanistan, er bekam eine Position im Staatsdienst. Daher konnte ich auch nicht weiter in Indien studieren, so bin ich dann 2012 nach Afghanistan gegangen und habe dort Sprachwissenschaften studiert. Eigentlich wollte ich mit einer Freundin dann in den USA weiter studieren, aber dann wurde dort Donald Trump 2017 zum Präsidenten, die Visa für Afghan:innen wurden gestoppt. Aber meine Schwestern waren schon in Deutschland, eine seit 23 und die andere seit 12 Jahren, ich hatte sie auch als Kind mit meinen Eltern in Deutschland besucht und konnte etwas Deutsch. Daher habe ich mich entschieden, nach Deutschland zu kommen und hier weiter zu studieren.

Gegenwind:

Du bist also mit einem normalen Visum gekommen?

Lava Mohammadi:

Ja.

Gegenwind:

Was hast Du hier studiert?

Lava Mohammadi:

Ich habe erst in Flensburg zweieinhalb Semester BWL studiert. Aber dann war ich so viel im sozialen Bereich tätig, hatte immer mehr Interesse daran. Dann habe ich mein Studium in Flensburg abgebrochen und an der Fachhochschule in Kiel das Studium der Sozialen Arbeit angefangen.

Gegenwind:

Wie geht es hier in Deutschland und in Schleswig-Holstein den Afghan:innen?

Lava Mohammadi:

Ich habe bei der HAKI* e.V. als Koordinatorin des Projekts Queer Refugees und Migrants gearbeitet. Mein Team und ich haben in Schleswig-Holstein Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und geschichtlichen Identitäten, die in Asylunterkünften angekommen waren, unterstützt, sodass wir sie bei ihren Rechten im Hinblick auf verschiedene sexuelle Orientierungen und geschichtliche Identitäten beraten.

Ich war aber auch ehrenamtlich in den Asylunterkünften tätig. Ich habe da unterschiedliche Workshops durchgeführt und für sie gedolmetscht. So habe ich viele geflüchtete Menschen bei der Integration und deren unterschiedlichen Fragen unterstützt. Vor allem Kinder, Jugendliche und Frauen.

Da habe ich auch bemerkt, dass viele angekommene Afghan*innen auch Qualifikationen mitbrachten. Aber egal, ob sie Qualifikationen hatten oder nicht, alle mussten schon auf die erste Anhörung lange warten. Sie müssen erst recht lange warten, bevor sie ihre erste Aufenthaltserlaubnis erhalten. In diesen Monaten durften sie damals nicht in Sprachkurse, sie konnten nicht an öffentlichen sozialen oder kulturellen Veranstaltungen teilnehmen, sie waren sehr eingeschränkt.

Auch in Asylunterkünften gibt es Rassismus oder Diskriminierung untereinander, zur LGBTIQA-Community zu gehören ist in unserem Land eine Straftat. Es gibt sogar die Todesstrafe für queere Menschen. Das ist in vielen anderen Ländern auch so. Etwa ein Dutzend Länder auf der Welt kennen die Todesstrafe für Menschen mit einer anderen sexuellen Orientierung. Dazu gehören Afghanistan, der Iran und auch Saudi-Arabien. Die Menschen, mit denen ich in der Beratung zu tun hatte, kamen überwiegend aus diesen Ländern.

Gegenwind:

Hast Du den Eindruck, dass die Afghan:innen hier verschiedene sexuelle Orientierungen akzeptieren? Oder werden konservative Einstellungen mitgebracht?

Lava Mohammadi:

Leider wird das nicht so offen aufgenommen. Aber es gibt Menschen, die mit queeren Menschen gut umgehen. Es ist schwer, das zu beurteilen, weil die gesellschaftlichen Normen eben sagen, Queersein ist strafbar. Und die Menschen, die rechtsextrem oder religiös sind, die kommen damit nicht klar. Aber es gibt auch viele Menschen, die andere einfach als Menschen sehen und bewerten, und auch nicht nach deren sexueller Orientierung gucken.

Gegenwind:

Wird in der afghanischen Szene auch über Auseinandersetzungen zwischen Vätern und Töchtern diskutiert?

Lava Mohammadi:

Die Menschen, die von den Werten ihrer Herkunftskultur überzeugt sind, haben Probleme damit, dass die Mädchen sich hier in Deutschland westlich anziehen oder sich westlich verhalten. Die Menschen, die aus großen Städten wie Kabul kommen, kennen das aus Kabul selbst. Mädchen lebten dort in den letzten 20 Jahren vor der Machtübernahme der Taliban teilweise selbstbestimmt. Sie konnten teilweise auch ohne Kopftuch auf der Straße gehen, aber auch heimlich einen Freund haben. Hier in Deutschland kenne ich einige afghanische Familien, die ganz gut damit klar kommen, dass die Töchter hier mehr dürfen, zum Beispiel einen Deutschen als Freund haben oder sogar einen Deutschen heiraten. Aber ich kenne auch einige, die damit nicht so gut klarkommen. Es gibt auch Eltern, die von den Mädchen verlangen, dass sie ein Kopftuch tragen.

Gegenwind:

Wie sind denn Afghan:innen hier organisiert? Finden Mädchen hier Ansprechpartnerinnen und Hilfe, wenn es Konflikte gibt?

Lava Mohammadi:

Ich arbeite hier im „Afghanischen Stammtisch Schleswig-Holstein“. Wir sind nur eine kleine Organisation, die wir gegründet haben. Wir sind eine Anlaufstelle für alle Afghan:innen hier in Schleswig-Holstein. Wir versuchen immer, Frauen und auch Mädchen zu verstärken. Wir unterstütze sie dabei, ihre Rechte als Frauen hier in Deutschland wahrzunehmen. Sie sollen erkennen, wie wertvoll sie sind, in anderen Ländern werden Frauen meistens nur als Gegenstand gesehen. In manchen Herkunftskulturen haben Männer das Recht, für die Frauen zu entscheiden. Die Community hier in Kiel ist ganz gut miteinander vernetzt, und im Rest von Schleswig-Holstein sind wir als Organisation ganz gut vertreten. Wir bieten unterschiedliche kulturelle und politische Veranstaltungen in Schleswig-Holstein an. Unser Ziel ist, afghanische Familien in Schleswig-Holstein bei der Integration und anderen Anliegen zu unterstützen. Wir wollen aber auch der deutschen Gesellschaft unsere Kultur zeigen. Und wir wollen die Situation in Afghanistan spürbarer und greifbarer machen, dadurch politischen Einfluss ausüben. Wir wollen mit deutschen Politiker:innen über Debatten wie die Abschiebungen und auch über das Bundesaufnahmeprogramm diskutierten.

Gegenwind:

Ich finde, bundesweit werden bei der Diskussion über Abschiebungen kaum syrischen oder afghanische Stimmen wahrgenommen. Ich habe den Eindruck, es streiten sich nur Deutsche darüber, ob man mehr abschieben oder mehr aufnehmen sollte. Denkst Du, es gibt irgendwann eine afghanische Stimme, die auch bundesweit in der Tagesschau vorkommt?

Lava Mohammadi:

Ich hoffe das. Es gibt viele Menschen, die über die afghanische Community reden, aber es gibt wenige, die als Afghanin oder Afghane selbst darüber berichten. Und wenn man Nachrichten anguckt, oder in Konferenzen ist, sind es meistens Menschen, die mit Geflüchteten zu tun haben, die über Afghanen reden. Es fehlt oft eine Person, die selbst alles erlebt hat und weiß, wie es in Afghanistan läuft. Die müssen mehr eingeladen werden, denn nur sie können authentisch über die Menschen aus Afghanistan reden. Das ist unser Wunsch als „Afghanischer Stammtisch“: Wenn es in politischen Szenen Entscheidungen über Afghanistan und afghanische Bevölkerung hier in Deutschland getroffen werden, muss zuerst mit der afghanischen Community gesprochen werden.

Gegenwind:

Glaubst Du, dass Ihr das schafft? Wie wollt Ihr das in den nächsten Jahren aufbauen?

Lava Mohammadi:

Wir versuche es. Wir sind immer offen für neue Menschen, wir sind offen für neue Ideen. Wir wollen unsere Gruppe gut aufbauen und möglichst viele vertreten.

Gegenwind:

Für Euch ist ja der dritte Jahrestag der Machtübernahme der Taliban am 15. August ein wichtiges Datum. Was bedeutet das für Euch? Was sollte Deiner Meinung nach die Bundesregierung machen? Mit den Taliban reden oder nicht reden?

Lava Mohammadi:

Das ist eine komplizierte Frage. Am 15. August denken wir an drei Jahre Herrschaft der Taliban. Afghanistan ist wegen seiner geopolitischen Lage für viele ein interessantes Land. Das gilt für die Großmächte und auch für die Nachbarländer. Es gab lange britische Truppen, vor allem im 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts. Dann gab es 1979 die Intervention der Sowjetunion, und es entstand die kommunistische Regierung, aber es entstanden auch die Mudschaheddin. Die Gruppe, die gegen die Regierung und gegen die Kommunisten kämpfte. Nach dem die kommunistische Regierung gestürzt wurde, kamen die Mudschaheddin an die Macht. Später bildeten sich jedoch unter den Mudschaheddin mehrere Fraktionen, die sich untereinander bekriegten. So entstand die Taliban-Fraktion unter der Führung des ehemaligen Mudschaheddin-Kommandanten Mohammad Omar. Sie waren anfangs klein, wurden aber durch Pakistan groß und mit vielen Waffen ausgestattet. Später im Jahr 1996 eroberten sie Kabul die Hauptstadt Afghanistans. Der Krieg ging nie zu Ende, von 1979 bis 2021 gab es in Afghanistan immer Krieg, das waren 42 Jahre oder länger.

Nach den Anschlägen von New York und Washington begann die Intervention „Enduring Freedom“ unter Führung der USA in Afghanistan. Das Ziel war, al-Qaida zu schlagen, aber auch die Taliban zu beseitigen. So ist die NATO und auch Deutschland als Mitglied der NATO nach Afghanistan gekommen. In zwanzig Jahren wollten sie politische, gesellschaftliche, soziale und wirtschaftliche Entwicklungen in Gang bringen, an denen nicht nur Männer, sondern auch Frauen beteiligt waren. Frauen wurden auch empowered, und es waren viele Sachen in den zwanzig Jahren möglich. Aber die Taliban waren immer da in Afghanistan. Es hat immer Anschläge gegeben, und die NATO war vor allem in den großen Städten. Aber in vielen Dörfern und einigen kleinen Städten waren immer Taliban. Kabul ist die Hauptstadt von Afghanistan, aber weniger als zwei hundert Kilometer weiter liegt die Provinz Nangarhar. Ich kenne dort ein kleines Dorf an der Grenze zu Pakistan, da gab es immer die Taliban. Und dort konnte man nicht mit Afghani bezahlen, sondern nur mit pakistanischen Rupie bezahlen. In den 20 Jahren sahen viele Bilder von den Soldaten aus aller Welt gut aus. Aber die Taliban wurden nie vernichtet. Und als die NATO ging, hatten die Taliban wieder die Macht alleine. Die afghanische Armee wurde zwar in den 20 Jahren ausgebildet und mit vielen Waffen ausgerüstet, doch war das nicht genügend und kaum modernes technologisches Waffensystem. Aber im Ganzen war die „Operation Enduring Freedom“ ein Fehlschlag. Sie haben Afghanistan 2021 einfach allein gelassen. Und in den letzten drei Jahren sieht man, dass alle Fortschritte der letzten 20 Jahre vernichtet wurden.

Gegenwind:

Gibt es in Afghanistan oder im Ausland eine Alternative zu den Taliban?

Lava Mohammadi:

Aus meiner Perspektive als Menschenrechts-Aktivistin sehe ich die Taliban als unfähig an, eine Regierung zu bilden. Sie haben das mehrfach bewiesen. Während der letzten Jahre vor der Machtübernahme gab es im Krieg auch viele zivile Tote, aber 76 Prozent wurden von den Taliban getötet. Wie kann solch eine Terrorgruppe die Regierung übernehmen? Täglich werden von den Taliban Afghan:innen verfolgt, unterdrückt und diskriminiert. Die Menschen, vor allem die Frauen, die Mitglieder religiöser Minderheiten und LGBTIQA-Community werden täglich verfolgt und unterdrückt, oft auch ermordet. Die Menschen werden da öffentlich ausgepeitscht oder gesteinigt. Uns erschüttert aber, dass es zumindest inoffiziell Beziehungen vieler Regierungen mit der Taliban-Regierung gibt, dass Taliban auch in die EU reisen durften. Wir möchten, dass in Afghanistan eine Regierung entsteht, in der alle Menschen ihre Grundrechte nutzen können. Es darf aber nicht wieder eine rein patriarchale Regierung sein.

Gegenwind:

Gibt es denn Vertreter:innen, die dafür zur Verfügung stehen?

Lava Mohammadi:

Leider sind wir in der Realpolitik noch nicht so weit. Die Menschen, die gegen die Taliban ihre Stimme erheben, kommen dafür in Frage. Sie haben auch in den letzten Jahren ihre Stimme gegen die Mudschaheddin und die jeweilige afghanische Regierung erhoben. Aber die Regierung wurde immer von außen eingesetzt, die Afghan:innen konnten sich nur symbolisch beteiligen. Die Wahlen in Afghanistan waren symbolisch, es gewann immer eine Person, die in Afghanistan kaum verankert war. Die Menschen waren immer die Marionetten der westlichen Mächte. Sie haben nie auf die Menschen in Afghanistan gehört, sondern nur ihre eigenen Interessen vertreten. Das hat dazu geführt, dass die Regierungen auch nach 2001 immer patriarchal regiert haben. Das führte zu Stimmungen unter den Afghan:innen, die nicht mehr zusammen arbeiten konnten. Es könnte klappen, wenn man idealistisch ist und optimistisch ist. Man muss auf die Menschen in Afghanistan hören, was die eigentlich wollen und was die zu sagen haben. Es gibt jetzt Konferenzen mit den Taliban, neulich in Doha, aber es werden keine Menschen eingeladen, die sich für die Menschenrechte einsetzen. Die Schere zwischen der afghanischen Community und den Taliban geht dadurch noch weiter auseinander. Die afghanische Community hier verliert auch ihr Vertrauen in die europäischen Regierungen.

Gegenwind:

Vielen Dank.

Interview: Reinhard Pohl

* Mit rund 170 Mitgliedern ist die HAKI weiterhin der mitgliederstärkste Verein im LSBTIQ*-Bereich in Schleswig-Holstein. In der HAKI engagieren sich ca. 80 Personen als Freiwillige bzw. Ehrenamtliche.

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