(Gegenwind 431, August 2024)

Sahar Alias

„Ein Mahnmal wäre ein wichtiges Zeichen“

Interview mit Sahar Alias

Am 3. August jährt sich der Beginn des Völkermordes an den Jesiden im Irak zum zehnten Mal. Am 3. August 2014 griffen Milizen des „Islamischen Staates“ die Jesiden im Norden des Irak an. Tausende Männer wurden getötet, Frauen und Kinder vergewaltigt, verschleppt, versklavt und sind bis heute vermisst. Darüber sprachen wir mit Sahar Alias.

Gegenwind:

Wir wollen uns heute über Jesiden unterhalten. Wie ist die Situation der Jesiden im Irak? Du warst ja selbst dort.

Sahar Alias:

Die aktuelle Situation für die Jesiden im Irak und vor allem für die Binnengeflüchteten aus Shingal ist momentan besonders schlecht. Die Menschen in den IDP-Camps, also in den Lagern der Binnenvertriebenen sind aus den folgenden Gründen sehr unzufrieden:

Zu beobachten sind die Flüchtlinge, die seit August 2014 in Zelten und Containern in Binnengeflüchtetenlagern leben. Bis Mitte 2023 waren zahlreiche Hilfsorganisationen in den Lagern tätig, um Lebensmittel zu organisieren, die Camps zu verwalten und medizinische Hilfe zu leisten. So waren beispielsweise der UNHCR und viele internationale Organisationen vor Ort tätig. Auch die Wasser- und Stromversorgung hat sich stark verschlechtert. Viele Organisationen hatten auch psychologische Betreuung für IS-Opfer sowie Beschäftigung durch verschiedene Projekte angeboten. Diese Möglichkeiten gibt es nicht mehr. Zu den wenigen Organisationen, die noch humanitäre Hilfe in den Flüchtlingslagern leisten, gehören die Caritas Essen und die IGFM Frankfurt. Beide helfen zwar im Rahmen ihrer Möglichkeiten, verfügen aber nicht über die Ressourcen wie beispielsweise die UN.

Nachdem die Organisationen sich, unter anderem aufgrund der Ressourcenverschiebung durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, der Gefahr vor türkischen Angriffen und aufgrund gezielter Angriffe von der iranischen Seite, aus den Camps zurückgezogen haben, hat sich der Alltag für die Flu?chtlinge drastisch verschlechtert.

Ich war vor wenigen Monaten vor Ort und habe versucht, die Menschen in den IDP-Camps zu unterstützen (Fotos auf den nächsten Seiten). Das mache ich schon seit vielen Jahren. Ich leiste dort ehrenamtliche Hilfe. Diesmal habe ich mich speziell auf Waisenkinder konzentriert. Da viele NGOs das Land verlassen, bekommen gerade diese Kinder und teils auch ganze Familien nicht mehr die Unterstützung, die sie bisher bekommen haben. Die meisten Kinder wurden von anderen Familienmitgliedern oder von Bekannten aufgenommen. Sie sind nicht ganz allein, aber die Unterstützung fehlt.

Was in den Camps weiterhin fehlt, bzw. nicht ausreichend vorhanden ist, sind Lebensmittel. Die Lebensmittel, die sie von der irakischen Regierung bekommen, haben aufgrund der Korruption eine weitaus schlechtere Qualität als zuvor. Es kann immer sein, dass Rationen zeitversetzt kommen oder einfach nicht eintreffen. Die Menschen in den Camps versuchen, sich gegenseitig zu unterstützen, aber manchmal reicht das nicht aus.

Zudem gibt es in den Camps zwar Krankenstationen, aber nach dem Rückzug der Organisationen herrscht ein großer Medikamentenmangel, so dass für die Anzahl der Patienten nicht genügend Medikamente zur Verfügung stehen. Größere medizinische Eingriffe sind nicht möglich. Selbst kleinere Operationen können nur in privaten Praxen und Krankenhäusern durchgeführt werden. Da die Flüchtlinge keinerlei finanzielle Unterstützung erhalten, können sie sich solche medizinischen Behandlungen kaum leisten -- zumal die irakische Regierung die Gehaltszahlungen für die Camps in der Autonomen Region Kurdistan immer wieder gestoppt hat und die Flüchtlinge daher nur unregelmäßig ihr Gehalt erhalten. Von einer Familie, die ich im Camp Esya/Nordirak besucht habe, berichtete mir eine junge Frau, die an Krebs erkrankt ist, dass sie früher von einer NGO versorgt wurde. Jetzt gibt es diese Hilfe nicht mehr. Der Ehemann versucht in den größeren Ortschaften zu arbeiten, was aber durch die leider spürbaren Diskriminierungserfahrungen vor Ort erschwert wird. Die meisten Jesiden, die Arbeit suchen, finden diese nur in der Gastronomie der umliegenden Städte. Dort werden sie aber diskriminiert, denn wenn ein Jeside kocht, gibt es muslimische Gäste, die das nicht essen wollen. Das ist eine Bedrohung und eine Gefahr für die Jesiden. Diskriminierung gegen sie gibt es seit Jahrzehnten und immer wieder im Laufe der Jahrhunderte. Es gibt 74 bekannte Genozide, aber die Dunkelziffer ist höher. Diese junge Mutter hat mir erzählt, wenn der Ehemann weg ist, wenn er versucht, Geld für Medikamente zu verdienen, dann hat sie versucht, den Sohn früh ins Bett zu bringen, damit er am nächsten Morgen in die Berge gehen kann, um Kräuter zu sammeln, damit sie was zu Essen haben. Sie hoffte, dass er dann schlafen und den Hunger vergessen würde. Und das in einem Land wie dem Irak, das eigentlich reich ist.

Gegenwind:

Wie ist es generell? Die meisten Leserinnen und Leser kennen die Situation nicht so gut wie Du. Warum leben die Leute zehn Jahre nach dem Völkermord immer noch in Flüchtlingslagern? Hier wurde ja gesagt, dass der „Islamische Staat“ 2017 besiegt worden ist. Konnten sie nicht einfach nach Hause zurück?

Sahar Alias:

Es ist tatsächlich eine Utopie und auch ein Wunsch aller Jesiden, dass der sogenannte Islamische Staat besiegt wird. Und es ist auch ein Wunsch vieler Jesiden in den Camps, in ihre Heimat Shingal zurückkehren zu können.

Die Stadt Shingal und der Distrikt Shingal liegen in der Ninive-Ebene im Nordirak. Das Gebiet gehört noch zur Zentralregierung des Irak. Trotz der Versprechungen der Regierung und der neu gewählten Abgeordneten gibt es noch keine Sicherheit in der Region. Stattdessen gibt es mehrere bewaffnete Gruppen, sowohl staatliche (irakische Armee und Polizei) als auch nichtstaatliche (schiitische Milizen sowie bewaffnete kurdische Gruppen wie die PJD). Darüber hinaus kommt es immer wieder zu ungeklärten Tötungsdelikten, die nicht verfolgt und deren Täter nicht ermittelt werden. Zudem kehren (ehemalige) IS-Mitglieder in die Region zurück und verbreiten weiterhin Hass und Hetze gegen die Jesiden.

Ein weiteres Problem ist die Infrastruktur, die derzeit als sehr schwach bezeichnet werden kann. Shingal gehört offiziell zur Zentralregierung des Irak und nicht zur Autonomen Region Kurdistan. Ursprünglich sollte die Region durch Wahlen selbst entscheiden, ob sie zur irakischen oder zur kurdischen Region gehören soll. Diese Wahlen haben jedoch nicht stattgefunden.

Es gibt drei Regierungen in Shingal: Die erste ist die PYD (Demokratische Unionspartei), die zwar die Macht hat, aber nicht offiziell autorisiert ist, Shingal zu verwalten. Die zweite ist die kurdische Regierung, die keine wirkliche Rolle spielt, da sich z.B. das Büro des Bürgermeisters in Kurdistan und nicht in Shingal befindet. Der dritte Akteur ist die irakische Zentralregierung. Die Zentralregierung ist zwar zuständig und ihre Behörden sind vor Ort, aber seit fast 10 Jahren konnte nichts unternommen werden, damit die Menschen in ihre Heimat zurückkehren können.

Dies führte dazu, dass Shingal bis heute in Trümmern liegt. Die Häuser sind zerstört, teilweise liegen noch Minen. Viele versuchen, aus den Camps nach Shingal zurückzukehren und ihre Heimat wieder aufzubauen. Doch das ist nicht möglich. Es gibt Bombardierungen von türkischer Seite. Und die vielen verschiedenen Gruppen vor Ort in Shingal machen es den Menschen sehr schwer, zurückzukehren.

Gegenwind:

Wie ist aus Deiner Sicht die Situation der Jesiden hier? Ich habe die Erfahrung Erfahrung gemacht, dass sie 2015, 2016, 2017 fast automatisch anerkannt wurden, wenn sie Asyl beantragten. Die letzten Jahre nicht mehr, und jetzt meint die Bundesregierung, wer nicht anerkannt ist, kann auch zurück.

Sahar Alias:

Ich persönlich sehe das ganz kritisch, diese Menschen abzuschieben. Zunächst einmal sind die Menschen immer noch betroffen. Wenn die IDP-Camps im Norden des Irak aufgelöst werden sollten, das versuchen sie ja gerade, wo sollen dann die Menschen hin? Ich habe ja berichtet, Shingal besteht aus Trümmerhaufen. Wo sollen sie also hin? Es gibt immer wieder Auseinandersetzungen, Angriffe der verschiedenen Gruppierungen, und man muss betonen: Der IS ist noch da. Man nennt es anders und beschreibt sie anders. Sie werden wahrscheinlich auch im Hintergrund beraten. Wann sie wieder kommen, wissen wir nicht. Aber die Gefahr besteht noch. Und das wissen die Menschen vor Ort auch. Sie wissen, dass sie dort nicht wieder normal leben können. Und deshalb halte ich es für problematisch, Menschen dorthin zurückzuschicken, wo sie einem Genozid ausgesetzt waren. Außerdem sind sie weiterhin von Diskriminierung betroffen.

Sie werden auch weiterhin diskriminiert. Ich kenne zwei junge Männer, die dieses Jahr aus Deutschland abgeschoben wurden. In Deutschland waren sie gut integriert, sie haben in der Gastronomie gearbeitet. Der eine hat einen B1-Kurs gemacht, der andere B2. Wir unterhalten uns auf Deutsch. Und sie sagen mir: „Ich habe noch nicht einmal einen Zeltplatz in den IDP-Camps, also wo soll ich hin? Ich muss bei Bekannten, Verwandten, Freunden fragen, ob ich bei denen im Zelt schlafen kann“.

Gegenwind:

Wie sind denn die Jesiden hier organisiert?

Sahar Alias:

Die Jesiden sind bereits gut organisiert. Das heißt, vor allem in Niedersachsen und Nord-rhein-Westfalen gibt es viele verschiedene jesidische Organisationen und Vereine. Da unterstützen sich die Jesiden gegenseitig. Sie versuchen, die Menschen, die neu kommen, aufzunehmen. Sie erklären ihnen Integration und Sprache, sie bekommen Unterstützung bei der Bürokratie in Deutschland. So agieren verschiedene jesidische Vereine in ganz Deutschland und das ist die wichtigste Organisation, die gegenseitige Unterstützung. Viele leben ja schon seit vielen, vielen Jahren, seit Jahrzehnten in Deutschland. Und die arbeiten Hand in Hand, unterstützen sich gegenseitig.

Gegenwind:

Welche Position hast Du dabei?

Sahar Alias:

Ich gehöre zur Familie des geistlichen Oberhauptes aller Jesiden weltweit. Das ist Ali Alias Baba Sheikh, ich bin seine Nichte. Deshalb nehme ich eine besondere Rolle ein. Unabhängig davon, dass ich die Nichte bin, bin ich für viele Jesiden und insbesondere für junge Frauen und Mädchen eine Vertrauensperson. Es gibt Menschen, die bestimmte Probleme haben und Hilfe brauchen, die ich unterstütze. Ich habe gelernt, allen Menschen zu helfen, ohne nach ihrer Religion oder Herkunft zu fragen. Und das tue ich unabhängig von allem, was ich sonst noch mache.

Gegenwind:

Wie funktioniert das denn bisher in Schleswig-Holstein? Hier ist die Organisation ja noch nicht so gut, und ich habe in der Vergangenheit bemerkt, dass die Jesiden aus der Türkei wenig Kontakt mit den Jesiden aus dem Irak haben.

Sahar Alias:

In Schleswig-Holstein leben im Vergleich zu Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen nur wenige Jesiden. Und zum Teil wissen sie noch nicht einmal voneinander, weil es in Schleswig-Holstein noch keinen Raum für sie gibt.

Gegenwind:

Weißt Du, wie viele Jesiden in Schleswig-Holstein leben?

Sahar Alias:

Das ist eine sehr gute Frage. Denn das ist eine Frage, die ich so nicht beantworten kann. Es gibt Jesiden, die wenig darüber sprechen, dass sie Jesiden sind, weil es für sie in Schleswig-Holstein noch keinen besonderen Schutzraum gibt. Man weiß einfach nicht, wer Jeside ist und wer nicht. Normalerweise sind die Jesiden untereinander sehr in Kontakt, man kennt sich als Jeside, man weiß, welche andere Familie Jeside ist. Aber es gibt auch viel Schweigen und viel Angst, es gibt das kollektive Trauma, deshalb weiß man nicht, wie viele es insgesamt hier gibt. Deshalb ist es wichtig, präsent zu sein und ihnen zu sagen, dass sie keine Angst haben müssen. Wir können und sollen Teil der Gesellschaft sein. Das kollektive Trauma ist im Gedächtnis dieser Menschen und dem muss man mit Verständnis, Solidarität und Toleranz begegnen.

Gegenwind:

Nach dem Völkermord hat Deutschland ja freigelassene oder befreite Frauen aufgenommen, tausend kamen nach Baden-Württemberg, und Schleswig-Holstein hat sich daran beteiligt. Ist es ein Widerspruch, nach dem Völkermord Jesidinnen aufzunehmen und jetzt mit Abschiebungen zu starten?

Sahar Alias:

Im Jahr 2015 hat Deutschland im Rahmen eines Sonderkontingents des Landes Baden-Württemberg rund 1.000 traumatisierte Frauen und Kinder aus dem Nord-irak mit einem Sonderstatus aufgenommen, um sie zu behandeln, aber auch zu schützen. Wir haben auch in Schleswig-Holstein diese betroffenen Frauen aufgenommen und ich habe auch einige dieser Frauen betreut. Sie waren hoch traumatisiert. Sie haben sich dennoch in diese Gesellschaft integriert und haben angefangen zu arbeiten und die Sprache zu lernen. Eine, die ich betreut habe, hat auch hier geheiratet. Sie hat eine Ausbildung angefangen. Sie spricht gut Deutsch. Sie sind jetzt Teil dieser Gesellschaft.

Viele dieser Frauen kamen auch mit ihren Kindern, aber ohne ihre Ehemänner nach Deutschland, da diese sich zu diesem Zeitpunkt ebenfalls in der Gewalt ihrer Peiniger befanden. Einige konnten sich aber auch befreien, haben jedoch ihre Familien in den IDP-Camps nicht wiedergefunden und wollten sich auf den Weg zu ihnen machen, um wieder gemeinsam leben zu können, aber das ist nicht so einfach oder scheint fast unmöglich, was zu einer zusätzlichen Traumatisierung führt. Und genau da sehe ich auch ein Problem, wenn wir den Familiennachzug erschweren, erreichen wir damit nur, dass Familien auseinandergerissen werden. Und dann machen sich die Väter auf illegale Wege, um zu ihren Familien zu kommen. Sie riskieren ihr Leben auf diesen Wegen, um bei ihren Familien zu sein. Und wenn sie dann bei ihren Familien sind, droht ihnen die Abschiebung. Für mich ist das ein absolutes Paradox! Wir haben gesehen, dass diese Menschen bedroht sind, sie waren einem Genozid ausgesetzt und viele sind es immer noch.

Gegenwind:

Du hast vor zwei Jahren einen Beschluss des Bundestages mit vorbereitet. Was hast Du getan? Und was hast Du erreicht?

Sahar Alias:

Ja, wir haben die eingereichte Petition mit organisiert. Wir bedeutet: meine Familie, die jesidischen Jugend und ich. Wir haben Teams gebildet, wir waren deutschlandweit auf den Straßen, natürlich mit Polizeischutz. Wir haben diese Petition mit unterstützt. Denn Völkermord ist Völkermord, ist Völkermord und muss deshalb beim Namen genannt werden, damit diese Gräueltaten nie wieder geschehen und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Und die Opfer dieser Verbrechen müssen zu ihrem Recht kommen. Sie müssen gehört und gesehen werden. Es ist traurig genug, dass sie 2014 zum ersten Mal gesehen und gehört wurden, und das aus einem traurigen Anlass. Wir dürfen jetzt nicht über menschenunwürdige Taten hinwegsehen, sondern wir müssen hinsehen und sie beim Namen nennen.

Aufgrund dieser völkerrechtlichen Verbrechen und weil ich selbst jahrelang immer wieder ehrenamtlich vor Ort war, habe ich mich für die Anerkennung des Völkermordes an meiner Religionsgemeinschaft in Deutschland aktiv eingesetzt und habe mich einem umfassenden Fragenkatalog überparteilicher politischer Akteur:innen gestellt. Dabei habe ich nicht nur meine Erfahrungen vor Ort, sondern auch meine fachliche Expertise eingebracht, da ich in meinem Studium einen Schwerpunkt im Völkerrecht hatte und mich intensiv damit auseinandergesetzt habe. Die in diesem Zuge eingereichte Petition wurde im Januar 2023 einstimmig vom Deutschen Bundestag angenommen. Dies führte unter anderem zu Ideen und Anträgen für Folgeprojekte, wie zum Beispiel die Errichtung einer Gedenkstätte.

Gegenwind:

Was sind denn jetzt Deine Forderungen? Jesidinnen und Jesiden leben ja weltweit hauptsächlich im Irak und in Deutschland. Was hat Deutschland für eine Verpflichtung übernommen, wenn es den Völkermord anerkennt?

Sahar Alias:

Zunächst einmal die Verpflichtung, das Verbrechen beim Namen zu nennen: Völkermord. Das hat Deutschland getan. Wir sind ein Rechtsstaat, das ist unsere Pflicht, die Menschen, die hier gelebt haben und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, die sich radikalisiert haben, die am Völkermord beteiligt waren, diese Menschen müssen zur Rechenschaft gezogen werden. In Deutschland lebt die größte jesidische Diaspora der Welt, und ich sehe es als unsere Pflicht an, diese ethnisch-religiöse Minderheit anzuerkennen und ihr einen Schutzstatus zu geben, damit sich diese Verbrechen nicht wiederholen. Und ganz klar: Die Abschiebungen müssen auf der Bundesebene sofort gestoppt werden!

Gegenwind:

1994 sind auch viele armenische Jesiden gekommen, die vor dem Krieg Aserbaidschans flohen.

Sahar Alias:

Ja, sie sind auch hier und Teil unserer Gesellschaft. Inzwischen ist es so, dass sie Deutschland als ihre Heimat betrachten und sich fragen, wo sie sonst hinsollen.

Gegenwind:

Hast Du denn eine Schätzung, wie viele Jesiden in Deutschland leben?

Sahar Alias:

In Deutschland leben schätzungsweise 250.000 bis 300.000 Jesiden.

Gegenwind:

Weißt Du, in welchen anderen Ländern Jesiden Zuflucht gefunden haben?

Sahar Alias:

Ihre Siedlungsgebiete befinden sich im Nordosten Syriens, dem Südosten der Türkei und dem Westiran. Und weil sie seit Jahrhunderten verfolgt wurden, leben sie auch in Armenien, Georgien, Ukraine und Russland. Vereinzelt leben sie auch in den Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreich, Belgien, Dänemark, Schweden, der Schweiz und Österreich. Ihre traditionelle Herkunftsregion ist jedoch seit vielen Jahrhunderten, vor unserer Zeitrechnung, in ihrer angestammten Heimat rund um das Shingal-Gebirge im Nordirak.

Gegenwind:

Welche Forderungen hast Du an die Landesregierung? Was könnte sie für die Jesiden in Schleswig-Holstein tun?

Sahar Alias:

Ich fordere einen Schutzstatus für die Jesiden. Das haben sie leider sehr nötig. Sie sind der Verfolgung, der Diskriminierung, der Vernichtung ausgesetzt. Ganz klar also ein Abschiebestopp, unabhängig davon, welches Geschlecht sie haben. Die Errichtung eines Mahnmals, damit die Verbrechen des Völkermordes nicht in Vergessenheit geraten und die Menschen als Teil unserer Gesellschaft akzeptiert und anerkannt werden, indem man sie sieht. Damit sie keine Angst mehr haben und ihre Identität nicht mehr verleugnen müssen, weil man sie nicht kennt.

Gegenwind:

Die in Süden von Niedersachsen und in Norden von Nordrhein-Westfalen sind die Jesiden vergleichsweise gut organisiert. Sie haben zum Teil eigene Treffpunkte geschaffen. Das hat aber auch 20 Jahre gedauert. Was sind Deine Pläne für Schleswig-Holstein? Du willst ja nicht nach Oldenburg oder nach Celle umziehen.

Sahar Alias:

Nein, ich mag den Norden und hier im Norden mit der dänischen Minderheit haben wir viel Potenzial. Ich weiß auch, dass hier viele Jesiden leben, aber die haben einfach noch nicht die Reichweite, um hier etwas zu organisieren. Und da unterstütze ich jetzt. Ich stelle mein Wissen, meine Ressourcen und meine Erfahrung zur Verfügung. Ich engagiere mich seit Jahren im Menschenrechtsbereich, habe selbst Fluchterfahrung. Schon als Kind habe ich mir immer gewünscht, dass man weiß, wer die Jesiden sind, damit man ihnen nicht einen Teil ihrer Identität abspricht.

Gegenwind:

Wie alt warst Du, als Du nach Deutschland kamst?

Sahar Alias:

Ich war sieben Jahre alt, als ich mit meiner Familie nach Deutschland kam. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich nicht als Jesiden gesehen wurde, was an sich etwas Gutes ist, dass die Religion keine Rolle spielt, aber ich wurde aufgrund meines Aussehens und meiner Herkunft als Araberin und Muslimin kategorisiert, das war alles, was sich meine Umgebung vorstellen konnte. Selbst als ich noch sehr jung war, hatte ich das Gefühl, einen Teil meiner Identität zu verlieren. Natürlich habe ich das damals nicht so ausgedrückt, aber ich habe so gedacht. Man hat versucht, mir etwas wegzunehmen, weil das Wissen nicht da war und leider auch bis heute nicht ausreichend vorhanden ist.

Gegenwind:

In Kiel haben wir ja auch die größte Gemeinde christlicher Iraker. Hilft das, dass hier mehr Leute wissen, nicht alle Iraker und Irakerinnen sind Muslime?

Sahar Alias:

Für die christlichen Iraker war es auch nicht immer einfach, gesehen zu werden, aber mit dem Christentum kann man in einem überwiegend christlichen Land etwas anfangen. Aber mit den Jesiden aus dem Irak nicht, weil es eben zu wenig Wissen über sie gab und immer noch gibt. Und sie selbst nennen sich zum Beispiel in Schleswig-Holstein kaum so, weil viele Angst haben, in Erklärungsnot zu geraten, oder sie werden verleugnet, weil man sie nicht kennt. in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen ist das anders, da gehen die Menschen etwas offener damit um, aber auch nur, weil dort mehr Jesiden leben als hier in Schleswig-Holstein.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass bedrohte Minderheiten sich schnell integrieren. Sie passen sich an, weil sie über Jahrhunderte gelernt haben, sich anzupassen, um nicht ausgerottet zu werden.

Und in Schleswig-Holstein leben viele Minderheiten und hier werden sie geschützt und das muss auch bei vielen dieser marginalisierten Menschen ankommen, aber ich bin optimistisch und positiv für diese Entwicklung.

Wir, die „Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt SPD“, haben eine überparteiliche Veranstaltungsreihe in Norddeutschland ins Leben gerufen, um diese nachhaltige, demokratiefördernde Entwicklung zu unterstützen und über die Minderheit der Jesiden, ihren Glauben, ihre Überlebensgeschichte und den Völkermord an ihnen zu informieren. Unsere Forderung ist dabei ganz klar, ein Abschiebestopp und vor allem die Wahrung der besonderen Schutzbedürftigkeit.

Ein Mahnmal für den jüngsten Völkermord an den Jesiden wäre ein gutes und wichtiges Zeichen. Ein Zeichen der Toleranz, der Solidarität und des Wissens um diese Menschen. Denn leider haben sich auch hier im Norden Menschen radikalisiert, sind in ein fremdes Land gereist, um sich am Völkermord an dieser Minderheit zu beteiligen. Auch dafür brauchen wir ein Mahnmal - ein Zeichen des Nie wieder!

Gegenwind:

Vielen Dank!

Interview: Reinhard Pohl

Zum Weiterlesen:

Bericht aus dem Bundestag: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw03-de-jesiden-927032

Beschluss des Bundestages: Drucksache 20/5228

Jesidentum

Jeside wird man nur durch Geburt. Als geborener Jeside ist man automatisch zweierlei: einerseits Mitglied einer Religionsgemeinschaft, die nicht missioniert, und andererseits Angehöriger des „jesidischen Volkes“. Das Jesidentum ist eine monotheistische Religion. Sie sind fest davon überzeugt, dass es einen Gott gibt (ob Xode, Allah oder Gott, alles ist ein und derselbe Schöpfer), er ist der Schöpfer des Universums. Die Sonne stellt für die Jesiden ein zentrales Element dar, wodurch das Göttliche durch sie zeigt. Anders als Muslime, Christen oder Juden besitzen die Jesiden keine heilige Schrift, sondern geben ihr religiöses Wissen mündlich weiter. 74 Genozide haben das Wissen über sie, ihre Kultur und ihre Bräuche immer wieder vernichtet, so dass es nur wenige Werke über das Jesidentum gibt.

Die jesidische Religion ist ein eigenständiger Glaube, der weder dem Islam, dem Christentum, dem Judentum noch anderen heute existierenden Religionen zugeordnet werden kann. Diese Urreligion entstand etwa 3000 Jahre vor Christus. Man kann also davon ausgehen, dass viele der heutigen Religionen auf das Jesidentum zurückzuführen sind. Diese ethnisch-religiöse Gemeinschaft hat sowohl eine gemeinsame prägende Geschichte als auch Bräuche, Traditionen, Kultur, Sprache, Feiertage, einen heiligen Ort der Lalisch (Zentrum der Schöpfung) heißt im Nordirak.

Ihr traditionelles Herkunftsgebiet liegt seit vielen Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung in ihrer angestammten Heimat rund um das Shingal-Gebirge/Nordirak. Ihre Siedlungsgebiete liegen im Nordosten Syriens, im Südosten der Türkei und im Westen des Iran. Aufgrund ihrer jahrhundertelangen Verfolgung leben sie auch in Armenien, Georgien, der Ukraine und Russland. Die meisten Jesiden aus der Türkei und Syrien, aber auch eine wachsende Zahl aus dem Irak, leben heute in der Bundesrepublik Deutschland. Hier lebt mit rund 250.000 Jesiden die größte Diaspora. Vereinzelt leben Jesiden auch in den USA, Frankreich, Belgien, Dänemark, Schweden, der Schweiz und Österreich.

Die jesidische Gottesvorstellung ähnelt zwar dem des Christentums oder auch des Islam. So ist Gott allmächtig, allwissend und vollkommen. Entscheidend im Jesidentum ist, dass er keinen Widersacher hat. Aber auch die Verehrung Tausi Meleks, der nach jesidischem Verständnis als Stellvertreter Gottes auf Erden gilt, gibt dem Jesidentum sein charakteristisches Gepräge. Im jesidischen Verständnis gibt es keinen Widersacher Gottes, da Gott keine andere „böse“ Macht neben sich schaffen kann. Dies würde die Allmacht Gottes für die Jesiden in Frage stellen, weshalb sie den Namen des Gegenspielers, wie er in anderen Religionen vorkommt, nicht aussprechen, da es ihn für sie nicht gibt.

Sahar Alias

Veranstaltungen mit Sahar Alias über das Jesidentum und die Situation der Jesiden im Nordirak und in Schleswig-Holstein:

Kiel: 3. September, 16.00 bis 21.00 Uhr im Landeshaus.
10. Jahrestag des Genozids an den Êzîd:innen
Geschichte, Gefährdungslage, Aufenthaltsrechtliche Perspektiven
Einladung: Die Landesbeauftragte für Flucht-, Asyl- und Zuwanderungsfragen, www.landtag.ltsh.de/beauftragte/fb/, dort unter Veranstaltungen

Elmshorn: 4. September, 18.00 Uhr im Einwanderbund
Einladung: www.ewbund.de, unter Angebote / Veranstaltungen

Weitere Veranstaltungen werden geplant. Informationen: redaktion@gegenwind.info

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