(Gegenwind 419, August 2023)

Stop Putin's ra/uscism!
Gegen Putin, gegen den Krieg: Zum 8. Mai (Befreiung vom Faschismus) demonstrieren russische Oppositionelle 2022 in Köln.

Krieg oder Frieden?

Krieg in Europa - Aufrüstung der Bundeswehr?

Seit 2014 herrscht Krieg in Europa. Russland hat die Ukraine angegriffen - zuerst die Krim, dann die Ostukraine, im Februar 2022 dann die gesamte Ukraine. Die Begründungen waren wechselnd. Teils gab die russische Propaganda an, die Ukraine würde im Osten des Landes die „eigene Bevölkerung“ bombardieren, warum auch immer. Diese Darstellung hast Russland heute zurückgezogen, gegenüber der UNO gab Russland dagegen an, die Ukraine habe sich schon oder wollte sich mit Atomwaffen ausstatten und Russland angreifen.

Nach anfänglichem Zögern haben sich rund 50 Demokratien auf die demokratische Seite gestellt und damit beginnen, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen. Denn bereits Mitte April 2022 hat die Ukraine gezeigt, dass Russland besiegt werden kann. Militärexperten waren sich Ostern letzten Jahres einig, dass Russland den Krieg nicht mehr gewinnen kann.

Während zu Beginn des Krieges viele glaubte, die auf dem Papier zehnmal so große russische Armee würde schnell gewinnen, zeigte sich in der Praxis, dass die Armee der Diktatur von Korruption zerfressen war und die Soldaten wenig motiviert. Die offizielle Begründung, in der Ukraine gebe es Nazis, die die eigene Bevölkerung unterdrückten, war eine allzu plumpe Lüge, die die russischen Soldaten schon nach zwei, drei Tage nicht mehr glaubten. Gravierender war aber der erbärmliche Zustand von LKWs, Panzern, Truppentransportern, Geschützen und Munition - bis zu 60 Prozent der Munition versagte, und das bemerken Soldaten natürlich als erste.

Langer oder kurzer Krieg?

Im Sommer 2022 wurde darüber diskutiert, wie die Ukraine unterstützt werden sollte. Seit 2015 hatte Kanada die Armee beraten und komplett umorganisiert, und zwar vom sowjetischen auf das demokratische System. Die ukrainische Armee ist heute nicht mehr wie die russische zentral organisiert, sondern alle Einheiten entscheiden selbst, wie sie gestellte Aufgaben bewältigen. Das macht sie so erfolgreich. So wurde von Großbritannien, Norwegen, Polen, Deutschland, Frankreich und letztlich der EU entschieden sich, ukrainische Soldaten auszubilden, die jetzt seit Monaten fertig ausgebildet und frisch ausgerüstet in die Ukraine zurückgeschickt werden.

Die Ausrüstung mit Waffen war umstritten. Die USA schickten vor allem Artillerie, so Raketenwerfer der Typen M-270 und M-142, Deutschland konzentrierte sich mehr auf die Luftabwehr. Beides war sehr effektiv, auch wenn nur eine kleine Anzahl geliefert wurde. Die Ukraine kann allerdings Luftabwehr aus dem Westen nur rund um die Großstädte einsetzen, für den Einsatz an der Front reicht die Zahl nicht. Und die Raketenwerfer können nur an einzelnen Frontabschnitten eingesetzt werden, das gilt auch für die Panzerhaubitzen M-108, 2000 oder Zuzana. Die Ausbildung von Piloten wurde zugesagt, die Lieferung von Flugzeugen noch nicht.

Warum so langsam? Einerseits machte Russland viel Reklame gegen die Lieferungen, die wurde im Westen von einigen Gruppen verbreitet. Den wirklichen Grund nannte das US-Verteidigungsministerium Ende 2022 mit der rhetorischen Frage: Wie koche ich einen Frosch? Das Geheimnis ist, den lebenden Frosch in einen Kopftopf zu setzen und das Wasser so langsam zu erhitzen, dass der Frosch es nicht merkt und sitzen bleibt. So wird er langsam sterben. Ziel der USA und auch der Bundesregierung ist, die russischen Truppen so lange in der der Ukraine zu halten, bis sie nicht mehr angriffsfähig sind - die USA wollen erreichen, dass Russland selbst Länder wie Litauen nicht mehr angreifen kann.

Friedensbewegung

In Deutschland gab es wenig Kritik am Angriff Russlands 2014. Die - inzwischen sehr schwache - Friedensbewegung akzeptierte die Erklärungen Russlands, in der Ukraine gebe es Faschisten, die die Zivilbevölkerung angriffen, und wurde von der Kehrtwende der russischen Propaganda 2022 kalt erwischt. Nach dem russischen Angriff im Februar 2022 erwartete man einen schnellen Sieg Russlands. Als die Ukraine sich erfolgreich wehrte, wendet man sich gegen Waffenlieferungen aus Demokratien und folgte damit den Forderungen Russlands. Die Kritik an Russland, das den Krieg ja begonnen hatte, beschränkte sich oft auf einen Satz, während die Gruppe um Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer russische Kriegsverbrechen aktiv leugneten oder relativierten. So sagte Alice Schwarzer am Rande der Berliner Kundgebung auf die Frage nach den systematischen Vergewaltigungen ukrainischer Frauen durch russische Soldaten, so etwas würde im Krieg immer passieren und auf allen Seiten - eine unverschämte Lüge, weil ukrainische Soldaten bekanntlich im eigenen Land kämpfen und russische Frauen deshalb nicht in Gefahr sind.

Die zunehmenden Niederlagen der russischen Armee wurden von der Friedensbewegung dann mit Forderungen nach einem Waffenstillstand und einem „Einfrieren“ des Krieges begleitet. Das würde Russland die nötige Zeit verschaffen, neue Soldaten zu rekrutieren und auszubilden, um beim nächsten Angriff erfolgreicher zu sein.

Wer einen Waffenstillstand fordert, sollte auch Stellung nehmen zu den mehr als 30 Lagern in den besetzten Gebieten, in denen Hunderte Zivilistinnen und Zivilisten eingesperrt, gefoltert und hingerichtet werden. Ein Waffenstillstand würde Russland ermöglichen, genau diese Säuberungen fortzusetzen, wenn diese Lager nicht gleichzeitig zum Gegenstand von Verhandlungen werden.

Dennoch haben der französische Präsident Macron und der deutsche Kanzler Scholz vereinbart, regelmäßig Putin anzurufen, um die Möglichkeit von Verhandlungen zu eruieren, und das machen sie auch seit Monaten. Die Antworten von Putin sind bisher negativ, er glaubt an den Sieg.

Der Vize-Chef des russischen Sicherheitsrates, der ehemalige Präsident Medwedew, präzisierte die russischen Kriegsziele vor einem möglichen Waffenstillstand: Die ukrainische Bevölkerung sollte zuerst auf 20 Millionen Menschen reduziert werden, gab er bekannt. Dann könnte Russland das Land bis zum Dnjepr besetzen, die westliche Hälfte könnt an die EU fallen. Ein Stopp der Waffenlieferungen könnte Russland die Umsetzung dieses Planes ermöglichen. Bisher gibt es 44 Millionen Ukrainer:innen.

Entscheidung zwischen Krieg und Frieden

Frieden ist nur möglich, wenn Präsident Putin zu Verhandlungen gezwungen wird. Der „Wagner-Putsch“ am 24. Juni hat gezeigt, wie das geht: Als die Söldner über die Autobahn über die M4 Richtung Moskau fuhren, konnte die russische Armee keinen einzigen Panzer auftreiben. Die angreifenden Hubschrauber und das Flugzeug mit dem Einsatz-Stab wurden abgeschossen, die Besatzungen getötet. In dieser Situation war Putin zu Verhandlungen bereit, die offiziell Präsident Lukaschenko von Belarus leitete, in Wirklichkeit allerdings der Sekretär des Sicherheitsrates Nikolai Patruschew. Ein deutlicher Hinweis: Wenn man den Frosch nicht langsam kocht, springt er.

Da bedeutet für den Krieg in der Ukraine: Wenn die ukrainische Armee in die Lage versetzt wird, den russischen Nachschub zu unterbrechen (durch Lieferung von ATACMS) und die russische Luftwaffe an Angriffe zu hindern (durch Lieferung von F-16), wird Putin zu Verhandlungen gezwungen, und der Krieg wird enden.

Wenn die Unterstützung der Ukraine weiter verzögert wird, wird der Frosch gekocht: Russland wird noch 250.000 Soldaten verlieren, noch 2.500 Panzer verlieren. Die ukrainischen Soldaten sind natürlich durch die westlichen Schützenpanzer und Truppentransporter viel besser geschützt, aber auch auf ukrainischer Seite sterben Soldaten und durch den russischen Beschuss der Wohnviertel großer Städte Zivilist:innen.

Angriff belohnen?

Wer Forderung aufstellt, sollte noch eines bedenken: Wenn ein Angriffskrieg durch Gebietsgewinne belohnt wird, sät man damit die nächsten Kriege. Russland will zumindest die Krim, Cherson, Saporischschja, Luhansk und Donezk gewinnen. Ein Waffenstillstand würde Russland diesem Ziel ein großes Stück näher bringen. Man würde aber Millionen Menschen ihre Heimat nehmen, weil es für die zu zwei Dritteln geflohene Zivilbevölkerung natürlich unmöglich ist, unter russischer Herrschaft zu leben. Diejenigen, die noch dort leben, würde man faktisch aufgeben - Zehntausende Kinder sind schon entführt und russischen Familien zur „Russifizierung“ übergeben worden.

Es wäre ein Zeichen nicht nur für Russland: Wenn man bei der Verletzung internationalen Rechts nur brutal genug vorgeht, wird das belohnt. Die Gegenposition hat 1940 Winston Churchill vertreten: Der Aggressor muss verlieren, auch um künftige Kriege zu verhindern. Wer Angriffskriege belohnt und damit fördert, sollte sich auch nicht „Friedensbewegung“ nennen.

Und die Bundeswehr?

Mit dem Angriff Russlands beschloss der Bundestag ein 100-Milliarden-Euro-Programm zur Aufrüstung der Bundeswehr. Ob das so umgesetzt wird, ist noch immer nicht klar. Aber wenn die Bundeswehr-Beschaffung wie geplant reformiert wird, kann es in den nächsten zehn Jahren klappen.

Doch dieses Programm wurde in der Woche beschlossen, in der alle von einem schnellen Sieg Russlands ausgingen. Es ist eine Reaktion auf den prognostizierten Sieg Russland und des Angriffs auf die Republik Moldau, der für den 15. März 2022 geplant war. Russland hätte dann sein Ziel erreicht, die Armee direkt an der Grenze zur NATO zu stationieren.

Das ist jetzt nicht mehr möglich. In Russland kursiert ein bitterer Witz: „2021 glaubten wir, Russland hätte die zweitstärkste Armee der Welt. 2022 wussten wir, dass Russland die zweitstärkste Armee in der Ukraine hat. Und seit 2023 wissen wir, dass die russische Armee die zweitstärkste in Russland ist.“

Es stimmt auf jeden Fall, dass die russische Armee seit Ostern 2022 keine Gefahr mehr bildet, zumindest solange die Ukraine mit der Lieferung von Waffen und Munition unterstützt wird. Das hat die EU gerade bis 2028 abgesichert, die USA planen nur bis zur Wahl im November 2024.

Sinnvollerweise müssten alle Planungen der Realität angepasst werden. Das passiert wohlweislich nicht. Man kann die Pläne der Bundeswehr aber nur bekämpfen, wenn man die Realität in der Ukraine erkennt und nicht leugnet.

Reinhard Pohl

Diskussionsbeiträge dazu: redaktion@gegenwind.info

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