(Gegenwind 418, Juli 2023)


Migrantischer Widerstand

Mobile Ausstellung: Die Wandzeitung „Migrantischer Widerstand im Hamburg der 1990er Jahre“

Auf zwölf großen Tafeln dokumentiert die Wandzeitung „Migrantischer Widerstand im Hamburg der 1990er Jahre“ öffentlich zugänglich antifaschistischen und antirassistischen, selbstorganisierten Widerstand von Migrant*innen in Hamburg und auch darüber hinaus. Die 12 Tafeln hängen derzeit an drei Orten in Hamburg.

Auch an anderen Orten und in anderen Städten soll die Wandzeitung ausgestellt werden und auf die historischen Kämpfe aufmerksam machen. Dies ist leicht machbar: Die Tafeln werden als PDF zugeschickt und können vor Ort ausgedruckt und aufgezogen werden. Das Konzept erinnert an das Selbstverständnis des migrantischen Selbstorganisationsansatzes, der Thema der kompakten kleinen Ausstellung ist: Leicht zugänglich, auf Partizipation und aktive Teilhabe ausgerichtet.

Die Wandzeitung wurde von dem Hamburger Soziologen und Aktivisten Gürsel Yildirim kuratiert und stützt sich auf sein umfangreiches Archiv zu migrantischem Widerstand, dass er seit Anfang der 1990er Jahre zusammengestellt hat. Zu sehen sind bisher unveröffentlichte Fotos sowie Originalflyer und -plakate zu folgenden Themen:

Gürsel Yildirim schreibt im Editorial: „In diesen frühen Jahren des wiedervereinigten Deutschlands nahmen rassistische Gewalt und völkische Hetze derart erschreckende Ausmaße an, dass eine neue Stufe selbstorganisierten Widerstands notwendig wurde. Dieser wurde ab Mitte der 1990er Jahre wieder schwächer. Nach der Selbstenttarnung des NSU 2011 und vor allem als Reaktion auf das Massaker in Hanau vom 19. Februar 2020 ist eine neue Generation von antirassistischen Aktivist*innen dabei, sich gegen die vielfältigen Rassismen und den neuen Faschismus der Gegenwart zu formieren. Mit dieser Wandzeitung möchten wir einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass der selbstorganisierte Widerstand gegen die völkische Bewegung noch stärker wird und diese mit anderen emanzipatorischen Bewegungen zu einer gerechten und solidarischen Gesellschaft führt. Die Wandzeitung verstehen wir als einen winzigen Schritt in diese Richtung.“

Seit den 80igern: Selbstverteidigung gegen Nazis und Erinnern an die Opfer

Um an Opfer rassistischer Gewalt zu erinnern und für um den heutigen Rassismus zu bekämpfen, setzen sich seit den 80iger Jahren Initiativen für die Umbennenung von Straßen und Plätzen nach ihnen ein. Denn der Straßenterror von Neonazis begann vor der Wiedervereinigung. Migrantische Selbstverteidigung wurde kriminalisiert, Neonazitreiben bagatellisiert. Die bekannteste und erfolgreichste Umbennungsinitiative ist die Hamburger Ramazan-Avci-Initiative, RAI. In ihr schlossen sich 2010 Migrant*innen zusammen, die sich als Jugendliche bereits in den 80igern gegen Rassismus gewehrt haben.

Am 21. Dezember 1985 wurde Ramazan Avci abends von Nazis auf offener Straße in Hamburg am Boden liegend zusammengeschlagen, bis der Schädel brach. Am S-Bahnhof Landwehr wurden er, sein Bruder und ein Freund aus einer bekannten Skinheadkneipe heraus angegriffen. Die Tat war einer der ersten rassistischen Angriffe mit Todesfolge, die in der Bundesrepublik bekannt wurden.

Anlässlich seines 25. Todestags gründete sich Anfang Dezember 2010 die RAI. Sie forderte, dass der triste, namenlose Bahnhofsvorplatz, in dessen unmittelbarer Nähe sich der Angriff ereignete, in Ramazan-Avci-Platz umbenannt wird. Denn der Angriff auf Avci ist für viele Migrant*innen ein Symbol für die rassistische Gewalt auf deutschen Straßen. Bereits am 24. Juli 1985 war ebenfalls in Hamburg der 29-jährige Bauarbeiter Mehmet Kaymakci von drei Rechtsradikalen angegriffen und ermordet worden. Sie schlugen ihn nachmittags, als er auf dem Heimweg von der Arbeit war, zusammen und zertrümmerten mit einer Gehwegplatte aus Beton seinen Schädel. „Wir wollten den Türken fertigmachen“, erklärte einer der drei Täter offen nach seiner Festnahme.

Viele Neonazis sahen sich bei ihrem Terror gegen Einwanderer*innen lange vor der Wiedervereinigung als Vollstrecker eines Volkswillens. Gegen die Angriffe der Naziskins wehrten sich Jugendgangs wie die „Bomber“, die sich in der Hamburger Hochhaussiedlung Nettlenburg zusammenfanden: „Wenn die Polizei uns nicht so oft gegriffen hätte, wären die Skins nicht so groß geworden“, erklärte ein Bomber nach Ramazan Avcis Tod.

Gegen die sogenannten ausländischen Jugendbanden wurde in den 80er Jahren repressiv vorgegangen. Die Selbstorganisation von Jugendlichen MigrantInnen, neben dem Versuch der Selbstermächtigung gegen alltägliche Diskriminierung auch ein Selbstschutz gegen die Naziskins, war unerwünscht. So wurden die „Bomber“ zwar von Jugendlichen unterschiedlichster Nationalität gebildet, was sie der Polizei aber umso verdächtiger machte. Die Gruppe konnte bei Nazialarm mithilfe befreundeter Jugendgangs bis zu 400 Leuten mobilisieren. „Einmal standen wir uns gegenüber“, erklärte ein „Bomber“ Anfang 1986 der taz: „Die Skins riefen immer ‚Ausländer raus’ oder ‚Deutschland den Deutschen’. Als wir dann anfingen mit ‚Deutschland den Ausländern’ und ‚Nazis raus’, da hat die Polizei uns angegriffen.“ Gegen die 80 Jugendlichen der „Bomber“ ermittelte fast zwei Jahre eine besondere Einsatzgruppe der Polizei, zur Observation wurde eine konspirative Wohnung angemietet, 29 Ermittlungsverfahren eingeleitet. Die Naziskins aus Lohbrügge wurden derweil nur punktuell festgenommen, aber gegen sie wurde bereits in den 80er Jahren nicht systematisch ermittelt.

Ende 1991 forderte dann das „Volkshaus der Türkei“ auf St. Pauli, die Straße am S-Bahnhof Landwehr in Hamburg-Eilbek in Ramazan-Avci-Straße umzubenennen und eine entsprechende Kampagne auf die Tagesordnung der antirassistische Gedenk-und Erinnerungspolitik zu setzen.

In der Ausstellung heißt es auf der Tafel „Umbenennungen“: „Im Kern geht es darum, die Geschichte der Opfer von rassistischer Gewalt nicht nur als etwas Vergangenes zu verstehen, sondern auch in die Gegenwart zu übertragen und zu verhindern, dass die Opfer namenlos werden. Ignatz Bubis, der verstorbene Vorsitzender des Zentralrats der Juden mahnte schon 1993 beim ersten Gedenktag in Mölln: ‚Wenn wir die Vergangenheit nicht in Vergessenheit geraten lassen, dann nicht um Schuldgefühle zu erzeugen, sondern wir tun es für die Zukunft’. Die Umbenennung von Straßen und Plätzen ist einer von mehreren Wegen, dies zu tun.“

Die 2010 gegründete Ramazan Avci Initiative RAI knüpfte an die aktivistischen Kämpfe der vorherigen Jahrzehnte an und konnte mit Beharrlichkeit und Dialogbereitschaft einen Erfolg feiern: 2012 wurde der Vorplatz des S-Bahnhofs Landwehr zum Ramazan-Avci-Platz. Am 24. Juli 2021 wurde am Kiwittsmoorpark endlich auch eine Gedenktafel für Mehmet Kaymakci unter Teilnahme von Angehörigen, Vertreter*innen des Bezirksamts Hamburg-Nord, der Stadt Hamburg, der auch hier aktiven RAI und Faruk Arslan, Überlebender der Möllner Brandanschläge 1992, sowie Aktiven aus der Zivilgesellschaft eingeweiht.

Gaston Kirsche

Die Wandzeitung ist in Kooperation mit der Kunstfabrik Kampnagel entstanden und wurde von der Sozialbehörde Hamburg im Rahmen des Programmes Stadt mit Courage gefördert. E-Mail-Kontakt für Aussteller*innen: guersel2@gmx.de

Infos: https://www.facebook.com/wandzeitungavni

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