(Gegenwind 406, Juli 2022)

Dr. Bernd Drücke

„Der Volkszählungboykott 1987 war ein Erfolg“

Interview mit Dr. Bernd Drücke

Bernd Drücke ist Soziologe und arbeitet im Archiv für alternatives Schrifttum (afas) in Duisburg. 1987 (Foto oben) stand er in Münster als Volkszählungsboykott-Aktivist vor Gericht.

Gegenwind:

Was hat der Zensus mit dem Volkszählungsboykott 1987 zu tun?

Bernd Drücke:

Der Zensus ist sozusagen eine kleine Volkszählung. Ohne die erfolgreichen Kampagnen gegen die Volkszählung in den 1980er Jahren gäbe es heute wahrscheinlich keinen Zensus. Anders als bei der gestoppten Volkszählung 1983 und der de facto gescheiterten Volkszählung 1987 werden beim Zensus 2022 nicht alle, sondern nur 10 Millionen Bundesbürger:innen befragt. Das erschwert auch den Widerstand. Eine Massenbewegung gegen den Zensus wie es sie 1983 und 1987 gegen die Volkszählungsversuche gab, ist nicht realistisch, auch weil die Menschen heute vereinzelter sind und sich daran gewöhnt haben, ihre Daten bei allen möglichen Gelegenheiten im Internet preiszugeben.

Gegenwind:

Dann war der Boykott 1987 ein Erfolg?

Bernd Drücke:

Der Boykott war insofern erfolgreich als 1983 die Volkszählung durch den massenhaften Protest der VoBo-Bewegung, wie wir die Volkszählungsboykott-Bewegung kurz nannten, gestoppt werden konnte und das Bundesverfassungsgericht erstmals das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bestätigt hat. Das hat zu einem Bewusstseinswandel und zum Problembewusstsein bei vielen Menschen geführt. Der massenhafte Protest gegen die Volkszählung 1987 hat dazu geführt, dass der Staat 1987 vor allem viele unbrauchbare Daten bekommen hat. Viele Menschen haben den Volkszählungsbogen für ihre Katze ausgefüllt oder ihn gleich bei der VoBo-Initiative abgegeben. Seit 1987 hat es deshalb keine richtige Volkszählung mehr in der Bundesrepublik gegeben. Das ist ein Erfolg. Der Staat hat daraus gelernt, dass er lieber nur einen Zensus durchführt und sich andere Daten über diverse Behörden besorgt.

Gegenwind:

Die Kritik an der Volkszählung hat sich damals über Jahre entwickelt?

Bernd Drücke:

Ja, während der Terroristen-Hysterie in den 1970er und 80er Jahren hat der westdeutsche Staat den Datenschutz ausgehebelt und durch Rasterfahndung, Überwachung und Repression insbesondere auch in den Neuen Sozialen Bewegungen das Vertrauen verspielt. Die Angst vor dem gläsernen Bürger hatte und hat gute Gründe.

Gegenwind:

Was waren die Gründe der Kritik und für den Boykott?

Bernd Drücke:

Ich denke, dass die Gründe vielfältig waren. Einerseits natürlich die Angst vor 1984, dem orwellschen Überwachungsstaat, der alles über seine Bürger:innen wissen will, um seine Herrschaft zu perfektionieren. Zählt nicht uns, sondern eure Tage, dieser beliebte Slogan der VoBo-Bewegung macht auch deutlich, dass sich große Teile der Aktivist:innen auch gegen die Herrschenden und das kapitalistische System richteten. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl, CDU, und sein Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann, CSU, waren als Hauptverantwortliche der Volkszählung keine Vertrauenspersonen, sondern für viele Aktivist:innen geradezu Feindbilder. Der Boykott der Volkszählung war eine gute Gelegenheit, um den Unmut über die repressive Politik und den Datenhunger des Staates deutlich zu machen.

Gegenwind:

Was für Medien hat die damalige Bewegung genutzt?

Bernd Drücke:

Die bevorzugten Medien waren die alternativen Stattzeitungen und Organe der Sozialen Bewegungen, wie Graswurzelrevolution, Arbeiterkampf und auch die taz. In Münster gab es während der heißen VoBo-Phase etwa ein Volkszählungsextra des alternativen Stadtblatts, das mehrmals wöchentlich rauskam und die neusten Infos aus den knapp 20 Münsteraner VoBo-Initiativen veröffentlichte. Auf unseren Büchertischen haben wir Flugblätter, Szeneblätter und Broschüren aus den Sozialen Bewegungen unter die Leute gebracht. "Vorsicht Volkszählung" und "Restrisiko Mensch" wurden in hoher Auflage gedruckt und verbreitet. Um das zu unterbinden, gab es 1987 eine Repressionswelle. Angeblich sei die in den Broschüren und Flugblättern zu findende Idee, die Kennnummer aus den Volkszählungsbögen zu schneiden, eine öffentliche Aufforderung zu Straftaten. Ich wurde damals in diesem Zusammenhang kriminalisiert, weil ich als 21-jähriger Student einen Büchertisch des Münsteraner Umweltzentrums mitverantwortet und Flugis verteilt hatte. Mein Prozess war dann 1987 trotz Verurteilung ein politisches Happening, das meine Haltung bestärkt hat. Die Prozesse dienten der Einschüchterung, was aber von den Initiativen durch Solidarität ein Stück weit unterlaufen wurde.

Gegenwind:

Berücksichtigt der Zensus den Datenschutz und ist wegen des Volkszählungsurteils datenschutzkonform?

Bernd Drücke:

Angeblich wird alles anonymisiert. Aber ich traue dem Braten nicht. Warum sollten sich nicht genauso wie bei der Volkszählung 1987 auch heute wieder Neonazis unter die Zähler:innen mischen, um Daten über unliebsame Menschen zu sammeln? Der Präsident des Statistischen Bundesamtes, Georg Thiel, hat in der Tagesschau den Zensus 2022 begründet. Wer gute Politik machen wolle, der müsse erst mal Fragen stellen, so Thiel. Wieso wurden wir dann alle nicht gefragt, wenn beschlossen wird einen Sonderetat von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr einzurichten und den Militäretat der Bundesrepublik auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen!

Gegenwind:

Warum ist es um den Zensus aber jetzt so still?

Bernd Drücke:

Ich denke, das hat mehrere Gründe. Einerseits geben die Menschen heute mit jeder Anfrage bei Google, mit jeder Veröffentlichung in den Sozialen Medien Daten an große Konzerne wie Google und Facebook weiter. Seit Edward Snowden wissen wir, dass de facto jedes Telefongespräch vom NSA mitgeschnitten wird. Die Dystopie, vor der wir 1987 gewarnt hatten, ist heute weitgehend Realität, auch wenn die repressive Überwachung im Vergleich zu Diktaturen wie China noch vergleichsweise harmlos wirkt. Die drastischen Strafandrohungen für Menschen, die den Zensus verweigern, spielen heute sicher eine größere Rolle als 1987. Wer beim Zensus 2022 falsche Angaben macht, soll 5000 Euro Strafe zahlen, wer sich weigert, wird immer wieder mit Bußgeldern überzogen, bis er oder sie antwortet. Die Empörung darüber ist kaum zu hören, weil sowohl Vereinzelung als auch Akzeptanz größer sind. Ohne Bewegung im Rücken ist es viel schwieriger, sich dem zu verweigern.

Gegenwind:

Vielen Dank Bernd Drücke!

Die Fragen stellte Gaston Kirsche

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