(Gegenwind 406, Juli 2022)

Kateryna Gratschow

„Russland kann man nicht mehr vertrauen“

Interview mit Kateryna Gratschow aus Eckernförde

Gegenwind:

Wie beschreibst Du Deine Herkunft?

Kateryna Gratschow:

Ich wurde in Polen geboren. Meine Eltern lebten dort, weil sie dort Arbeit hatten. Sie kamen aus der Sowjetunion. Mein Vater ist russisch, meine Mutter ukrainisch. Später sind wir in die Ukraine gezogen, dort bin ich zur Schule gegangen.

Gegenwind:

Was habt Ihr zu Hause gesprochen?

Kateryna Gratschow:

Russisch. In Kiew haben wir draußen Ukrainisch oder Russisch gesprochen.

Gegenwind:

Spielte es eine Rolle, woher Deine Eltern stammten?

Kateryna Gratschow:

Nein, überhaupt nicht.

Gegenwind:

Welche Rolle spielte es, ob Ihr Russisch oder Ukrainisch gesprochen habt?

Kateryna Gratschow:

Das war völlig egal. Das interessierte niemanden, es wurde darüber auch nicht diskutiert.

Gegenwind:

Wann bist Du nach Deutschland gekommen?

Kateryna Gratschow:

Das war 2012.

Gegenwind:

Wolltest Du denn nach Deutschland? Oder wolltest Du nur ein Jahr ins Ausland?

Kateryna Gratschow:

Ich wollte nie auswandern. Ich wollte nur für ein Jahr als Au-Pair nach Deutschland kommen, das Land kennen lernen und die Sprache lernen. Ich habe einen Onkel hier, der eine Familie kannte, die jedes Jahr ein Au-Pair-Mädchen suchten. So hat es mit dem Au-Pair letztendlich geklappt.

In demselben Jahr habe ich meinen späteren Mann kennen gelernt, und habe mich deshalb entschieden hier zu bleiben.

Gegenwind:

Erinnerst Du Dich an die Zeit, als der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine 2014 anfing?

Kateryna Gratschow:

Ja doch. Das war eine harte Zeit für die Ukraine, die hauptsächlich unserem damaligen Russland loyalen Präsidenten Janukowitsch zu verdanken ist. Aus meiner Sicht hat Russland damals schon eine entscheidende Rolle zu den chaotischen Umständen innerhalb der Ukraine beigetragen. Auf ein Mal gab es so viel ethnische Russen, die sich plötzlich ausgegrenzt und diskriminiert gefühlt haben.

Wenn ich an dieser Stelle meine Meinung dazu äußern darf, würde ich sagen, obwohl das wahrscheinlich hart klingen mag, dass alle Russen, die in der Ukraine leben und mit der Ukraine nicht einverstanden sind, ihre Koffer packen und nach Russland gehen sollen. Die Grenze ist ja gleich in der Nähe.

Ich bin nämlich der Meinung, dass Menschen, die seit Jahren oder sogar Jahrzehnten in der Ukraine leben, dieses Land und diese Kultur, wozu auch die ukrainische Sprache gehört, respektieren müssen.

Gegenwind:

Wie hast Du den 24. Februar erlebt? Hattest Du mit dem Kriegsbeginn gerechnet?

Kateryna Gratschow:

Nein. Damit habe ich gar nicht gerechnet. Am 23. Februar ist mein Bruder mit seiner schwangeren Frau und deren kleinen Sohn zu uns für eine Woche zu Besuch gekommen. Am nächsten Morgen haben wir beim Frühstück aus den Nachrichten von den Kriegsanfang erfahren. Das war ein Schock für uns!

Gegenwind:

Woher in der Ukraine kamen sie?

Kateryna Gratschow:

Aus einem Vorort von Kiew.

Gegenwind:

Was hast Du denn im Februar gedacht, wer den Krieg gewinnt?

Kateryna Gratschow:

Ehrlich gesagt, ich wusste nicht was ich denken soll. Im ganzen Februar und auch im März befand ich mich in einem Schockzustand. Das einzige, was ich dachte: das kann doch nicht wahr sein. Ich habe viel geweint, das tue ich immer noch. Ich und meine Familie saßen die ganze Zeit am Handy und haben übers Internet die Nachrichten verfolgt. Der Krieg hat unser Leben hier endgültig verändert. Mein Leben hat sich in die Zeit vor dem Krieg und nach dem Krieg geteilt.

Zuerst habe ich gar nicht daran gedacht, wer gewinnt oder verliert. Ich dachte, es kann nicht wahr sein, das ist bald vorbei. Jetzt glaube ich ganz stark an den Sieg meines Heimatlandes. Denn wenn es nicht dazu kommen sollte, verliere ich wahrscheinlich den letzten Glauben an die Gerechtigkeit und die Adäquatheit dieser Welt.

Gegenwind:

Weißt Du noch, was Du vorher vom ukrainischen Präsidenten gehalten hast? Hat sich das Bild verändert?

Kateryna Gratschow:

Ich war von Anfang an für Selenskij. Viele haben gesagt, ein Komiker kann kein Präsident werden. Aber die ukrainische Bevölkerung hatte die Nase voll von seinen Vorgängern, die sich im Grunde sehr ähnlich waren und das Ziel hatten sich zu bereichern und das Land zu bestehlen.

Meiner Meinung nach, besitzt Selenskij alle wichtigen Eigenschaften, um die Entwicklung unseres wunderschönen Landes voranzutreiben. Es ist ganz klar, dass nicht alle Probleme innerhalb kürzester Zeit gelöst werden können. Aber ich bin überzeugt, er war auf dem richtigem Weg, weil er diesem Job mit Herzblut nachgegangen ist. Wie man jetzt sieht, ist Selenskij auch in den härtesten Zeiten seinem Land treu geblieben.

Gegenwind:

Hat Dich die ukrainische Armee überrascht?

Kateryna Gratschow:

Ja, absolut. Aber nicht nur die Armee, mich haben alle Ukrainer überrascht. Es haben sich so viele Menschen auf unterschiedlichste Art und Weise daran beteiligt, der Armee und dem Land in dem Kampf gegen den Aggressor den Rücken zu stärken. Diese Katastrophe hat die Ukrainer sehr stark zusammengeschweißt.

Gegenwind:

Bist Du mit der Reaktion der deutschen Politik zufrieden?

Kateryna Gratschow:

Ja. Nicht nur zufrieden, ich bin auch sehr dankbar für die herzliche Aufnahme der Ukrainer in Deutschland. Die Ukrainer werden hier schnell mit dem Nötigsten versorgt, die Zusammenarbeit zwischen beteiligten Behörden läuft also meines Erachtens gut.

Als Migrationsberaterin bei UTS e.V. finde ich nur schade, dass dieses Engagement nicht bei allen Geflüchteten so war. Entweder hat Deutschland aus der früheren Flüchtlingskrise gelernt, oder Deutschland macht Unterschiede, was ich schade fände. Mir ist egal, wer zu mir in die Beratung kommt, ein Geflüchteter ist ein Geflüchteter. Ob aus Syrien oder Ukraine, es darf kein Unterschied gemacht werden. Ich hoffe, alle haben daraus gelernt und verbessern die Aufnahme jetzt.

Gegenwind:

Bemerkst Du hier Spannungen zwischen Russen und Ukrainern?

Kateryna Gratschow:

Ja, sehr. Seit dem Kriegsanfang beobachte ich ein erschreckendes Phänomen, nämlich dass Menschen in Russland selbst ihren ukrainischen Verwandten nicht glauben wollen. Sie verneinen beispielsweise, dass Russland zivile Objekte und somit massenhaft friedliche Menschen bekämpft. Aus meiner Sicht haben die Ukrainer ein Recht darauf, die Russen aus ganzem Herzen zu hassen. Was dabei aber ganz komisch ist, dass die Russen durch die massive Propaganda die Ukrainer hassen. Leider sind mir auch in Deutschland mehrere Fälle dieser Spannungen persönlich bekannt.

Gegenwind:

Hast Du den Eindruck, dass hier lebende Russen mehr mitbekommen als die, die in Russland leben?

Kateryna Gratschow:

Das ist schwer zu sagen. Ich habe mit zu wenigen gesprochen. Einige sagen: Ich weiß nicht, wer die Wahrheit sagt. Mich wundern solche Antworten, denn jeder der Internetzugang hat, kann sich die Mühe machen und selbst recherchieren. So wie es aussieht, machen das leider nur die wenigsten.

Gegenwind:

Gibt es hier organisierte Putin-Anhänger?

Kateryna Gratschow:

Mir sind einige prorussische Aktionen gegen die Ukrainer in Deutschland bekannt. Zum Beispiel eine ukrainische Familie musste bereits zweimal das Auto waschen, weil das von jemandem mit dem Buchstaben „Z“ beschmiert wurde.

Gegenwind:

Rechnest Du damit, dass der Krieg lange dauert?

Kateryna Gratschow:

Ja, ich denke nicht dass es bald aufhört.

Gegenwind:

Kannst Du schätzen, wie vielen Du weitergeholfen hast?

Kateryna Gratschow:

In meiner Beratungsstelle bei UTS e.V. habe ich bereits mindestens 80 Neukunden aus der Ukraine aufgenommen und begleite diese auf dem Weg zur Integration in Deutschland. Privat engagiere ich mich zusammen mit weiteren freiwilligen Helfern auch für die Flüchtlingshilfe.

Gegenwind:

Es gibt ja in Deutschland auch Auseinandersetzungen darüber, wie man weitermachen soll. Es gibt eine Unterschriftensammlung, der Ukraine keine Waffen zu liefern, sie soll einfach Gebiete aufgeben und hoffen, dass Russland dann den Krieg beendet. Und es gibt eine andere Unterschriftensammlung, die Bundesregierung soll auch schwere Waffen liefern, damit die Ukraine gewinnt. Beteiligst Du Dich an solchen Diskussionen?

Kateryna Gratschow:

Das habe ich bisher nicht gemacht, weil ich dafür keine Zeit hatte. Aber wenn Du mich fragst, bin ich natürlich gegen den Krieg. Es sind aber die Russen, die in die Ukraine einmarschiert sind, nicht umgekehrt. Daher denke ich schon, dass die Ukraine sich wehren muss und dabei auf die Hilfe von anderen Ländern angewiesen ist.

Gegenwind:

Glaubst Du, dass die Ukraine Gebiete aufgeben kann, und Russland hört dann mit dem Krieg auf?

Kateryna Gratschow:

Nein. Russland hat eine Reihe von Forderungen aufgestellt, die für die Ukraine unangemessen und nicht akzeptabel sind. Russland kann man nicht mehr vertrauen.

Gegenwind:

Kann es sein, dass in Russland die Regierung wechselt, wenn die Putin-Regierung in der Ukraine verliert?

Kateryna Gratschow:

Das ist schwer vorstellbar und gleichzeitig sehr wünschenswert. Es wird sich hoffentlich bald zeigen.

Interview: Reinhard Pohl

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