(Gegenwind 405, Juni 2022)
Gegenwind:
Wie beschreibst Du Deine Herkunft?
Sofya Kolomiets:
Ich bin zu drei Vierteln Ukrainerin und zu einem Viertel Russin. Ich bin in Russland geboren und aufgewachsen, habe da die Schule und die Universität besucht. Meine Muttersprache ist Russisch, aber ich bin zweisprachig aufgewachsen. Von meiner Mutter habe ich die Muttersprache Russisch, aber mein Vater war Ukrainer, also ist meine Vatersprache Ukrainisch. Ich habe sehr viel Zeit in der Ukraine verbracht, weil meine Oma väterlicherseits in der Ukraine lebte. Wir haben sie jedes Jahr drei Monate im Sommer besucht, so habe ich auch Ukrainisch gelernt. Ich habe die Ferien in der Ukraine verbracht, zusammen gezählt waren das Jahre.
Gegenwind:
Seit wann bist Du in Deutschland?
Sofya Kolomiets:
Ich bin seit 1995 in Deutschland. Ich bin damals als Austauschstudentin nach Kiel gekommen.
Gegenwind:
Hast Du Dich in Deutschland immer so vorgestellt?
Sofya Kolomiets:
Ich habe immer gesagt, dass ich aus Russland komme und Russisch meine Muttersprache ist. Ich habe aber immer zu meinen ukrainischen Wurzeln gestanden, und ich war immer stolz, Ukrainerin zu sein. Ich trage einen ukrainischen Nachnamen, Kolomiets, das kommt von der Stadt Kolomea. Diese Stadt liegt in der Westukraine, von dort stammen vermutlich meine Vorfahren. Ich habe meinen Nachnamen nicht abgelegt. Ich bin zum zweiten Mal verheiratet und habe meinen Mädchennamen bewusst als Teil meiner kulturellen Identität behalten.
Gegenwind:
Was hat sich für Dich verändert, als 2014 die Auseinandersetzungen zwischen Russland und der Ukraine anfingen?
Sofya Kolomiets:
Ich war entsetzt über die vielen Opfer und habe mir große Sorgen um meine Mutter und meine Schwester mit ihrer Familie gemacht, die in der Ukraine lebten.
Gegenwind:
Wurdest Du gefragt, wem die Krim gehört?
Sofya Kolomiets:
Ich habe diese Frage nie wirklich beantworten können. Ich habe mich mit der Zeit fast davon überzeugen lassen, dass die Krim vielleicht doch zu Russland gehört. Seit 2014 wurde es auch immer stiller, die ganze Welt schien das akzeptiert zu haben. Ich habe sehr viele Artikel und Interviews gesehen mit dem angeblich russischen Hintergrund der Krim, und ich habe mich langsam damit angefreundet. Aber es hat mich die ganzen Jahre auch gewurmt. Ich fand es nicht rechtens.
Gegenwind:
Welche Meinung hattest Du von Selenskij, als der gewählt wurde? Hast Du ihn ernst genommen als Präsidenten?
Sofya Kolomiets:
Zu dem Zeitpunkt, als er gewählt wurde, habe ich mich noch nicht wirklich für ukrainische Politik interessiert. Ich kannte ihn nicht, auch als Schauspieler in Russland nicht. Ich habe mir immer mal Sendungen aus dem russischen Fernsehen bei youtube angeguckt, aber nicht die Serien mit ihm. Ich weiß nur, dass mein Neffe Selenskij gewählt hat. Und die ersten Jahre wurde Selenskij ein bisschen belächelt, in der Ukraine und auch hier haben sich viele über ihn lustig gemacht. Ich konnte dazu wenig sagen, weil ich seine Politik wenig verfolgt habe.
Gegenwind:
Als Putin zwischen 2000 und 2008 als Präsident regierte, haben viele in Russland seine Arbeit gut gefunden, weil er das Land stabilisiert hat. Wie hast Du diese Zeit erlebt?
Sofya Kolomiets:
In dieser Zeit war ich sehr mit meinem Studium beschäftigt. Ich hatte kein russisches Fernsehen, und ich hatte auch keine Zeit, russische Zeitungen zu lesen. Ich war damals also neutral. Ich hatte den Eindruck, dass Russland sich positiv entwickelt. Aber nur im Allgemeinen, viel habe ich mich damit nicht befasst. Ich weiß nur, dass ich meine Heimat lange sehr vermisst habe.
Gegenwind:
Woraus bestand Dein ehrenamtliches Engagement in den letzten Jahren?
Sofya Kolomiets:
2016 bin ich der Deutsch-Russischen Gesellschaft in Kiel beigetreten. Ich wurde dann nach einiger Zeit in den Vorstand gewählt. Und letztendlich wurde ich 2021 zur ersten Vorsitzenden der Deutsch-Russischen Gesellschaft gewählt.
Gegenwind:
Sind in der Deutsch-Russischen Gesellschaft nur Leute aus Deutschland und Russland? Oder waren dort auch andere, zum Beispiel aus der Ukraine?
Sofya Kolomiets:
Wir hatten bis vor einem Jahr ein ziemlich aktives Mitglied im Vorstand aus Kiew. Die anderen Vorstandsmitglieder sind alle Deutsche, wir waren fünf im Vorstand, vier davon sind Deutsche.
Gegenwind:
Wie habt Ihr den 24. Februar und die Zeit danach erlebt und im Verein diskutiert?
Sofya Kolomiets:
Am Anfang wusste ich nicht, wie weit der Angriff geht, wie viele Opfer es geben wird. Ich habe in der Zeit mehrere Interviews gegeben*, in denen ich gesagt habe, dass ich als Vorsitzende der Deutsch-Russischen Gesellschaft Mitleid mit beiden Seiten empfinde. Mein Herz bricht in zwei Hälften, die eine blutet für Russland, die andere für die Ukraine. So habe ich das am Anfang auch empfunden. Ein Treffen der Gesellschaft musste ich dann absagen, das sollte ich eigentlich als Vorsitzende leiten, das musste ich aus gesundheitlichen Gründen absagen. Aber ich musste auch sehr mit mir kämpfen, weil ich nicht wusste, wie ich das machen soll. Ich hatte ein ganz komisches Gefühl dabei. Dann gab es ein Treffen, auf dem wir ein paar Sachen besprochen haben, die bevorstehen. Da war die Rede vom 8. Mai. Da organisiert die Deutsch-Russische Gesellschaft jedes Jahr eine Kranzniederlegung am Grab russischer Zwangsarbeiter auf dem Eichhof-Friedhof in Kronshagen, zu der auch Vertreter vom Russischen Generalkonsulat aus Hamburg kamen. Auf dem Treffen wurde ich als Vorsitzende beauftragt, mich beim Konsulat zu melden und die Leute zur Kranzniederlegung einzuladen. Ich empfand das als unangebracht, in diesem Jahr angesichts des Krieges die Leute vom Konsulat einzuladen. Ich kenne sie, ich habe nichts gegen sie persönlich, wir haben letztes Jahr mehrere Veranstaltungen mit ihnen gemacht. Aber im Moment sind das für mich Menschen, die die Macht Putins hier in Deutschland repräsentieren. Auch die Kranzniederlegung selbst fand ich gerade in diesem Jahr bedenklich. Ich habe so viel Gegenwind bekommen, alle anderen waren nicht einverstanden, jedenfalls die meisten, einige haben auch geschwiegen. Damals gab es schon Informationen darüber, Putin würde am 9. Mai, an diesem ganz besonderen Tag für Russland, oder dem Tag davor, irgendwelche Siege präsentieren wollen. Ich fürchtete, dass er für den Tag vielleicht etwas Schlimmes geplant hat. Das konnte eine Kriegserklärung an die Ukraine sein oder eine Mobilisierung im Land oder Androhung einer nuklearen Waffe. Man hätte alles befürchten können. Ich habe gesagt, wie stehen wir denn da, wenn wir feierlich Kränze niederlegen, und in der gleichen Zeit sterben vielleicht viele Menschen in der Ukraine. Wie stehen wir dann in der Öffentlichkeit da?
Ich habe damals sowieso nur daran gedacht, wie kann man der Ukraine helfen, wie geht es den Menschen da. Nicht die Kranzniederlegung als Gedenken an die Toten, sondern möglichst viele Menschen retten - das stand für mich im Vordergrund. Und das war auch noch ein paar Tage, nachdem die Ereignisse in Butscha bekannt geworden sind. Für mich war damit Schluss, spätestens mit Butscha.
Und dann habe ich meinen Rücktritt als Vorsitzende erklärt und bin aus der Gesellschaft ausgetreten. Mir wurde angeboten, eine Auszeit zu nehmen, also für ein paar Wochen zu pausieren und dann weiterzumachen, wenn der Krieg vorbei ist. Nur wie sollte ich danach weitermachen? Für was, für wen? Die Einstellungen im Verein fielen mit meinen nicht mehr zusammen.
Gegenwind:
Wie beurteilst Du das Verhältnis von Russen und Ukrainern in Kiel? Gibt es Aggressionen oder Kontaktabbrüche?
Sofya Kolomiets:
Soweit mir bekannt ist, gibt es beides, aber nicht übertrieben viel. Das hat keinen massenhaften Charakter. Viele Freundschaften sind abgebrochen oder einfach nur eingefroren. Das geht mir mit einigen Menschen auch so. Man möchte nicht weiter bohren, man möchte sich nichts gegenseitig vorwerfen, dann lässt man die Freundschaft einfach ruhen, damit es nicht eskaliert.
Gegenwind:
Hast Du im Moment mit ukrainischen oder russischen Flüchtlingen zu tun?
Sofya Kolomiets:
Ja, mit ukrainischen Flüchtlingen. Ich arbeite ja als Dolmetscherin, bin vereidigt und ermächtigt für Russisch. Tatsächlich sprechen die meisten Ukrainer auch Russisch. Und bei allem, wo man keine Vereidigung braucht, kann ich auch Ukrainisch dolmetschen. Ich werde gerne von Ämtern genommen, und von den Leuten werde ich auch akzeptiert, sobald sie meinen Namen hören: „Oh, ein ukrainischer Nachname.“ Dann sage ich auch, dass ich einen ukrainischen Bezug habe, dass ich auch Ukrainisch sprechen und verstehen kann. Und wenn die Leute sich keine andere Sprache wünschen, dann kann ich auch Ukrainisch sprechen, das ist aber bis jetzt nicht vorgekommen.
Gegenwind:
Der Präsident spricht ja auch Russisch.
Sofya Kolomiets:
Genau. Er spricht beide Sprachen perfekt.
Gegenwind:
Gibt es aus Deiner Sicht Formate, in denen man Ukrainer und Russen in Kiel ins Gespräch bringen könnte? Sie werden ja alle weiter in Kiel leben. Wünscht Du Dir so was?
Sofya Kolomiets:
Das kommt darauf an, was das Ziel sein soll. Menschen aus Russland, die hier leben und für die Ukraine Partei ergriffen haben, die brauchen keine weiteren Formate. Die sind sehr aktiv, ich kenne mehrere solche Menschen und bewundere sie. Allen anderen, wenn sie eine negative Sicht auf die Ukraine haben oder die Ukraine als störend empfinden, bringt es glaube ich nichts, sie zusammen zu bringen. Auf jeden Fall wäre es jetzt viel zu früh. Bei den Ukrainern sind die Wunden noch sehr frisch.
Gegenwind:
In Kiel ist zur Kieler Woche beschlossen worden, alle Partnerstädte einzuladen außer den russischen. Aber die Partnerschaft soll aufrecht erhalten werden, die Besuche sollen allerdings pausieren. Findest Du diesen Umgang richtig?
Sofya Kolomiets:
Das wusste ich bisher nicht. Ich habe gestern die Planung von der Kieler Woche gesehen, und in den letzten Jahren war ich als Dolmetscherin für die russischen Partnerstädte zuständig. Ich war meistens mit der Delegation aus Kaliningrad zusammen, aber ich kenne auch die Delegation aus Sovetsk. Ich war auch selbst in Sovetsk und Kaliningrad. In Sovetsk war ich als Dolmetscherin im Auftrag der Stadt Kiel mit einem Vertreter des Büros des Stadtpräsidenten. Da wurden Vereinbarungen über kulturelle Zusammenarbeit und Bildungskooperation abgeschlossen. Mir liegt schon an der Stadt und der Partnerschaft, weil ich mit daran gebaut habe. Allerdings war mir in letzter Zeit der Gedanke, dass die Kieler Woche kommt und so auch die russischen Delegationen, unangenehm. Ich dachte, man wird sich an mich wenden und fragen, ob ich wieder dolmetsche, und das habe ich für mich noch nicht entschieden. Ich wollte mich entscheiden, wenn ich gefragt werde. Aber wenn Du sagst, dass sie nicht kommen, bin ich erleichtert. Die Partnerschaften an sich sollten aus meiner Sicht natürlich weiter bestehen. Hier habe ich den gleichen Grund wie beim Generalkonsulat. Die Leute, die in diesem Jahr kommen würden, wären welche, die zum Apparat von Putin gehören. Über kulturelle, sportliche oder Bildungsthemen zu sprechen, das wäre für mich Heuchelei.
Gegenwind:
Wie werden Deine Enkel später Putin beurteilen?
Sofya Kolomiets:
Die ersten zehn Jahre kann ich nicht wirklich beurteilen, ich habe ja gesagt, dass ich damals hauptsächlich studiert habe. Aber er hat damals für Ordnung gesorgt und die Kriminalität erfolgreich bekämpft, so schien es zumindest. Nun hat er Russland, das wunderbare Land, auf das ich immer stolz war, ruiniert. Ich war stolz darauf, dass ich zu dieser großartigen Kultur und Literatur dazu gehörte, zu dem Land, das im Zweiten Weltkrieg den Faschismus besiegt hat. Dieses tolle Land hat Putin in den Abgrund geführt. Und jetzt muss Putin einfach weg. Und wenn ein neuer Präsident kommt und neu anfängt, hat Russland natürlich eine Chance. Es gibt in Russland viele Menschen, die gegen diese Politik sind. Aber die werden es dann sehr schwer haben.
Gegenwind:
Es gab in Kiel eine Gruppe, die wie jedes Jahr für den Internationalen Markt im Juni einen russischen Stand angemeldet hat. Die haben den Stand im März selbst wieder abgemeldet, wahrscheinlich haben sie befürchtet, stellvertretend beschimpft zu werden. Denkst Du, die Befürchtungen sind berechtigt? Kann man keinen Stand mit einer russischen Fahne machen, auch wenn es nur um Essen geht?
Sofya Kolomiets:
Ich glaube leider schon, dass die Befürchtungen berechtigt sind. Ich kenne diese Menschen und ihren Stand. Die waren auch im Winter da, sie haben einen Stand zu Weihnachten gemacht. Ich habe ein wenig geholfen, weil sie wegen Corona nicht so erfolgreich waren. Sie haben sich an unsere Deutsch-Russische Gesellschaft gewendet. Die Stadt wollte von den Standbetreibern einen kulturellen Beitrag, und ich war damit beschäftigt, eine Tanz- oder Gesangsgruppe zu organisieren. Die sollten auf der Rathausbühne auftreten. Schade, dass sie jetzt nicht kommen, aber ich glaube, das ist eine richtige Entscheidung.
Gegenwind:
Kennst Du selbst Beispiele, dass jemand angegriffen oder beschimpft wurde?
Sofya Kolomiets:
Ich habe vor Kurzem für eine moldavische Kundin im Krankenhaus gedolmetscht. Die hat erzählt, dass das Kind einer Bekannten in der Schule zusammengeschlagen wurde, weil es russisch gesprochen hat. Das war eine Schule in Mettenhof. Dann habe ich vor zwei Wochen von einer jungen Frau aus Kasachstan gehört, die hatte in Russland studiert und mit der Zeit die russische Staatsbürgerschaft erlangt, sie arbeitete in Deutschland in einer Pflegeeinrichtung, und ihr wurde gekündigt - der Grund war die russische Staatsbürgerschaft. Eigentlich ist es ein Beruf, wo händeringend Menschen gesucht werden, aber das wurde ihr so durch die Blume gesagt, dass das der Grund ist. Als sie sich woanders beworben hat, wo alles passte, von der Ausbildung und vom persönlichen Auftreten her, war Schluss, als man ihren Pass gesehen hat. „Leute mit russischer Staatsangehörigkeit stellen wir nicht ein.“
Gegenwind:
Denkst Du, das wird sich irgendwann wieder einrenken?
Sofya Kolomiets:
Ich würde sagen ja, aber es wird sicherlich Jahre dauern. Dafür ist als Erstes ein Machtwechsel in Kreml notwendig, aber auch ein Umdenkprozess in der russischen Bevölkerung. Das braucht Zeit.
Interview: Reinhard Pohl
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