(Gegenwind 404, Mai 2022)

Rogatte Agbodjan

„Man fühlt sich plötzlich wie zu Hause“

Interview mit Rogatte Agbodjan aus Kiel, eingewandert aus Togo

2019 wurde Rogatte Agbodjan in Kiel in Anwesendheit des Stadtpräsidenten als „Kluger Kopf“ ausgezeichnet. Im Interview fragen wir sie nach ihrer Einwanderung und den Weg, den sie hier zurückgelegt hat.

Gegenwind:

Kannst Du Dich als erstes vorstellen?

Rogatte Agbodjan:

Mein Name ist Rogatte Esse Agbodjan, ich bin 26 Jahre alt. Ich wohne seit 12 Jahren in Deutschland. Ich habe zwei kleine Schwestern, eine wird demnächst 21 Jahre, die andere ist 11 Jahre alt. Ich lebe mit meiner Familie hier in Kiel und wohne seit drei Jahren alleine. Von den Töchtern bin ich die Älteste.

Gegenwind:

Warum seid Ihr nach Deutschland gekommen?

Rogatte Agbodjan:

Ich komme ursprünglich aus Togo, das liegt in Westafrika. Als erstes ist mein Papa alleine hergekommen, als Flüchtling. Das war 1999, er ist über Frankreich hierher gekommen. Nach zehn Jahren hat er uns dann dazu geholt. In diesen zehn Jahren hat er uns zweimal besucht. In den zehn Jahren hat er es immer versucht, ein Visum beantragt für uns, aber es hat erst 2010 geklappt. Wir drei sind gekommen, meine Mutter, meine Schwester und ich. Die jüngste Schwester, die erst elf Jahre alt ist, ist hier in Deutschland geboren.

Gegenwind:

Was wusstest Du vorher von Deutschland?

Rogatte Agbodjan:

Ich wusste, dass es eine andere Sprache gibt, dass ich die lernen muss. Ich wusste, dass ich in der Schule nicht Französisch sprechen werde, sondern alles auf Deutsch ist. Ich habe mich aber vorher wenig damit beschäftigt, weil ich die Hoffnung verloren hatte, dass wir überhaupt nach Deutschland zu meinem Papa dürften. Meine Mama ist in Togo zum Deutschkurs gegangen, das war beim Goethe-Institut, sie musste für das Visum lernen. Drei Monate war sie im Deutschkurs, da habe ich nebenbei mitbekommen, dass es die deutsche Sprache gibt. Bei uns in der Schule in Togo konnte man auch in der 11. und 12. Klasse Deutsch lernen, aber ich bin in Togo nur bis zur 10. Klasse gegangen.

Gegenwind:

Was hat Dich denn nach Deiner Ankunft überrascht?

Rogatte Agbodjan:

Das Wetter. Wir kamen im Januar 2010. Da war es ziemlich kalt, sehr sehr kalt. Ich hatte nicht gedacht, dass es so kalt ist. Ich kannte das ganz anders aus Togo.

Gegenwind:

Hat Dich auch etwas angenehm überrascht?

Rogatte Agbodjan:

Die Schule, insbesondere dass die Schule kostenlos ist, dass ich nichts bezahlen muss. In Togo müssen wir für die Schule bezahlen. Wenn Deine Eltern das Geld nicht haben, kannst Du in Togo nicht zur Schule gehen. Ich habe mich riesig gefreut, dass ich zur Schule darf, ohne dass ich Geld bezahlen muss.

Gegenwind:

Wie klappte das dann in der Schule? Wie lange dauerte es, bis Du alles verstanden hast?

Rogatte Agbodjan:

Das hat schon lange gedauert. Aber ich habe viel Unterstützung und Hilfe bekommen. Ich habe meine Zeugnisse aus Togo mitgebracht, und sie haben gesehen, dass ich schnell lernen kann. Ich kam dann direkt in die 7. Klasse, Realschule. Und daneben machte ich einen DAZ-Kurs, um Deutsch zu lernen. Das habe ich parallel gemacht.

Gegenwind:

Und seit wann kannst Du perfekt Deutsch?

Rogatte Agbodjan:

Weiß ich nicht mehr.

Gegenwind:

Wer war in der Familie am schnellsten?

Rogatte Agbodjan:

Meine kleine Schwester natürlich. Als wir kamen, war ich 15, sie war neun. Sie durfte gleich in der Grundschule anfangen, und in dem Alter lernt man schneller. Ich habe meine Schule in Togo vermisst, ich war ja in der Pubertät, und ich war traurig, dass ich hier keine Freunde hatte, ich habe meine Freunde vermisst. Mein kleine Schwester hat sich schneller integriert.

Gegenwind:

Warst Du die einzige Schwarze in der Klasse?

Rogatte Agbodjan:

Da war noch eine andere, auch aus Togo. Sie kam sechs Monate vor mir. Ich habe viel Unterstützung von ihr bekommen. Ich habe mich gefreut, dass sie auch aus Togo kam.

Gegenwind:

Hält man da automatisch zusammen?

Rogatte Agbodjan:

Ja. Es kommt auch auf das Alter an. Unsere Eltern kannten sich auch, wir haben in derselben Straße gewohnt, das hat alles gepasst. Nach der Schule haben wir auch zusammen gelernt. Und die Eltern haben sich auch gut verstanden. Ich habe sie aber erst in der Schule in Kiel kennen gelernt. Die Schule hat mich auch absichtlich in die Klasse getan, in der sie war, damit ich mich wohl fühle.

Gegenwind:

Waren in der Schule noch andere schwarze Kinder?

Rogatte Agbodjan:

Ja, Eli* zum Beispiel. Ich war in der Gemeinschaftsschule in Kiel-Mettenhof, und Eli war dort auf dem Gymnasium. Ich habe sie immer von Weitem gesehen, aber nicht mit ihr geredet, weil Gymnasium und Gemeinschaftsschule ein bisschen getrennt waren. Aber wir haben uns dann auf einer togoischen Veranstaltung gesehen, da habe ich den Kontakt gesucht, und wir haben miteinander geredet. Und seitdem haben wir immer Kontakt.

Gegenwind:

Wie bist Du insgesamt mit der Schule zurecht gekommen?

Rogatte Agbodjan:

Durch die deutsche Sprache hatte ich am Anfang Schwierigkeiten. Aber ich lerne gerne, ich lerne auch viel. Und ich kannte ja meine Situation in Togo und wusste, warum ich hierher gekommen bin. Ich weiß, was ich erreichen möchte, denn diese Chance kriegen nicht viele in Togo. Deswegen bin ich froh, dass mein Mama mich auch so erzogen hat, immer das Positive zu sehen und dass Bildung wichtig ist. Man sollte es immer schätzen, wenn man die Chance hat, zur Schule zu gehen.

Gegenwind:

Was hast Du denn erreicht?

Rogatte Agbodjan:

Ich habe den Realschulabschluss. Dann habe ich eine Berufsschule besucht, das habe ich als sozialpädagogische Assistentin mit Fachhochschulreife abgeschlossen. Dann habe ich noch einen Abschluss als Pflegehelferin.

Gegenwind:

Hast Du noch Kontakt mit Freundinnen in Togo?

Rogatte Agbodjan:

Ja, mit denen, mit denen ich zur Schule gegangen bin. Nicht mit allen, aber mit ein paar.

Gegenwind:

Wollen die auch nach Deutschland?

Rogatte Agbodjan:

Wenn sie die Chance bekommen, würden sie auch gerne nach Deutschland. Wenn die Familie Geld hat, gehen die Kinder zu besseren Schulen, dass die Kinder später auch ins Ausland gehen können. Aber wenn die Eltern nicht so viel Geld haben, müssen die Kinder selbst kämpfen. Und sie haben wenig Chancen, ins Ausland zu gehen.

Gegenwind:

Warst Du selbst auch wieder in Togo?

Rogatte Agbodjan:

Ja. Ich war 2016 mit meiner ganzen Familie dort. Und einmal 2021 zur Beerdigung von meinem Opa.

Gegenwind:

Hast Du hier Erfahrung mit Rassismus gemacht?

Rogatte Agbodjan:

Das ist ja jetzt ein großes Thema, es wird viel darüber gesprochen, aber mir war das früher nicht bewusst. Ich wusste früher nicht, dass das N-Wort für mich eine Beleidigung ist. Jetzt ist mir die Beleidigung bewusst, weil ich darüber auch viel gelesen habe und mich informiert habe. Ich wurde aber schon so benannt. Ich mag mit den Leuten, die mich beschimpfen, auch nicht diskutieren. Ich kann ja nichts dafür, dass ich eine dunkle Hautfarbe habe, das habe ich mir nicht ausgesucht.

Gegenwind:

Hattest Du denn sonst schon unangenehme Erlebnisse, bei denen vielleicht andere betroffen waren?

Rogatte Agbodjan:

Eine Freundin von mir hatte bei der Jobsuche ein Vorstellungsgespräch, davon hat sie mir erzählt. Am Telefon war alles gut, sie hatte einen Termin, hat sich drauf gefreut. Und als sie kam und die Chefin sie gesehen hat, hatte sie das Gefühl, dass die Chefin aufgrund ihrer Hautfarbe den Job nicht gegeben hat. Sie war geschockt über den Blick, den die Chefin ihr zugeworfen hat. Am Telefon hörte sich alles super an, sie ist auch hier geboren und spricht natürlich perfekt deutsch, sie hat nur eine dunkle Hautfarbe, das kann man am Telefon nicht merken.

Gegenwind:

Wie oft musst Du Deinen Namen buchstabieren?

Rogatte Agbodjan:

Immer, jedes Mal.

Gegenwind:

Wie ist die Gruppe von den „Klugen Köpfen“ auf Dich aufmerksam geworden, um Dir einen Preis zu verleihen?

Rogatte Agbodjan:

Das ist lange her, das war am Afrika-Tag hier bei den Interkulturellen Wochen. Da habe ich auch mitbekommen, dass es eine ähnliche Veranstaltung in Hamburg gab. Ich wurde dann angesprochen, aber ich weiß nicht mehr genau wie. Es gab eine Frau aus dem togoischen Verein, die war schon in dem Team, die hat mich dann gefragt und mich danach vorgeschlagen.

Gegenwind:

Wie fandest Du die Veranstaltung?

Rogatte Agbodjan:

Sehr schön und sehr motivierend. Als ich den Preis bekam, war ich stolz auf mich. Ich hatte das Gefühl, dass ich etwas erreicht habe. Da sitzen dann Menschen, die auch stolz auf mich sind. Da sitzen meine Eltern, die auf mich stolz sind und dann meine Geschwister, für die ich auch ein Vorbild sein kann. Sie wissen jetzt: Jede kann es schaffen, man muss sich Mühe geben.

Gegenwind:

Warst Du aufgeregt, bevor Du auf der Bühne warst?

Rogatte Agbodjan:

Sehr aufgeregt, sehr sehr aufgeregt. Ich sollte ja eine Rede halten, und dabei bin ich normalerweise sehr schlecht. Aber ich wollte sagen, was mir auf dem Herzen liegt, und was ich meinen Geschwistern mitgeben kann.

Gegenwind:

Wie fühlt sich für Dich solch eine Veranstaltung an? Es sind ja plötzlich in einem großen Raum viele Menschen, und mehr als neunzig Prozent sind schwarz. Ist das anders als bei anderen Gelegenheiten?

Rogatte Agbodjan:

Ja, man fühlt sich plötzlich wie zu Hause. Da ist man in der Heimat. Man ist nicht mehr in einem fremden Land. Und alle haben auch die gleichen Interessen.

Gegenwind:

Redest Du dann eher deutsch oder eher französisch?

Rogatte Agbodjan:

Eher deutsch. Aber Französisch kann ich auch. Ich bin zwar 12 Jahre in Deutschland, aber ich habe immer noch Schwierigkeiten. Mit den Freundinnen in Togo spreche ich Französisch, in der Familie spreche ich Französisch, Deutsch und Ewe. Wenn ich heute Französisch spreche, fehlen mir aber immer mal Wörter, weil ich das nicht jeden Tag spreche. Ich sage dann das Wort auf Deutsch, und ich suche das Wort auf Französisch.

Gegenwind:

Jetzt habt Ihr ja zweimal Preise verliehen, 2019 mit zusammen feiern und essen, 2021 dann wegen Corona mit Abständen und wenig Herumlaufen. Da waren aber fast nur Preisträgerinnen und Preisträger aus Westafrika. Wollt Ihr das ändern, um mehr Leute aus anderen afrikanischen Ländern dazu zu holen?

Rogatte Agbodjan:

Ja, auf jeden Fall. Das wird auch im Team besprochen, dass man die Studentinnen und Studenten mit einbezieht. Da sind ja viele auch aus Kamerun oder anderen Ländern. Wir wollen ja alle unterstützen und motivieren.

Gegenwind:

Du bist ja zu nichts gezwungen worden. Du hast ja 2019 den Preis bekommen, Du hättest dann einfach nach Hause fahren können. Aber Du hast Dich der Gruppe angeschlossen und dann mitgeholfen, die Veranstaltung 2021 vorzubereiten und bereitest die Veranstaltung von 2022 mit vor. Warum machst Du das?

Rogatte Agbodjan:

Ich unterstütze das gerne, weil ich durch meine Geschichte und durch meine Erfahrung viele Menschen helfen, motivieren und unterstützen möchte. Ich kann da viel erreichen, ich kann vielleicht andere motivieren, sich für „Kluge Köpfe“ zu bewerben. Und vielleicht auch, sich weiter zu bilden. Egal woher man kommt, egal wie schwer es ist, egal was man durchgemacht hat, kann man es schaffen.

Gegenwind:

Wie wichtig ist es, dass die Familien zur Preisverleihung auch die kleinen Kinder mitbringen?

Rogatte Agbodjan:

Das ist wichtig, damit die Kinder sich gleich vorstellen, dass sie vielleicht eines Tages auch dort oben stehen. Vielleicht können sie später auch eine Rede halten und andere motivieren und ihnen Kraft geben.

Gegenwind:

Was ist denn wichtiger: Einen Preis zu bekommen oder alle anderen zu sehen?

Rogatte Agbodjan:

Die Veranstaltung lohnt sich. Auch wenn man keinen Preis bekommt, kann man auf der Veranstaltung seine Erfahrungen anderen Menschen erzählen. Beim ersten Mal waren viele Personen, die im Anschluss an die Preisverleihung ihre Geschichte erzählt haben. Das hat mich motiviert. Bei der ersten Veranstaltung hat eine Ärztin erzählt, die in Eutin arbeitet. Sie hat erzählt, dass sie im Krankenhaus für die Putzfrau gehalten wurde, aber sie war die Ärztin. Ich habe gemerkt, dass sie nur aufgrund ihrer Hautfarbe als Putzfrau gesehen wurde. Aber auch mit einer dunklen Hautfarbe können wir Ärztin sein, wir können Rechtsanwältin sein. Wir können die Chefin im Büro sein.

Gegenwind:

Hat Ihr schon genug Vorschläge für den August 2022?

Rogatte Agbodjan:

Wir suchen noch. Wir treffen uns noch diese Woche, um weiter zu planen.

Interview: Reinhard Pohl

* siehe Interview mit Eli in: Gegenwind 403, April 2022

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