(Gegenwind 402, März 2022)
Zu Beginn eine Triggerwarnung: Im folgenden Bericht geht es um Abschiebung, Haft und auch Suizidalität. Wenn diese Themen dich triggern, dann lese ihn bitte nicht allein und höre auf, sobald es dir zu viel wird.
Es ist Freitagmorgen, kurz vor Weihnachten. Es ist kalt draußen, der Wind zieht durch meine Kleidung. Ich laufe durch Glückstadt, eine halbe Stunde dauert es zu Fuß vom Bahnhof bis zur alten Militärkaserne am Neuendeich. Gleich hinter dem Jobcenter entdecke ich dann endlich einige Minuten später den für Glückstädter Verhältnisse riesigen Gebäudekomplex.
Ich bin auf dem Weg zu einer Führung durch die Anlage, die interessierten Bürger*innen einen Einblick in die im August 2021 in Betrieb genommene Abschiebehafteinrichtung geben soll. Am morgen noch war ungewiss, ob ich und die anderen Mitglieder der ‚Besuchsgruppe' an der Führung überhaupt teilnehmen dürfen. Ich musste erst einen Anruf des Innenministeriums abwarten, der letztendlich das okay gab, woraufhin ich mich von Kiel aus auf den Weg machte. Die Begründung für die starke Begrenztheit der Teilnahmemöglichkeit war, so wurde es mir mitgeteilt, dass es für das Ministerium unverständlich sei, warum Menschen, die nicht selbst in Glückstadt wohnhaft sind, überhaupt Interesse an einer Führung durch die Einrichtung hätten. Das ist doch absurd, geht es mir auf dem Weg durch den Kopf - meine Nachbar*innen, genauso wie zahlreiche andere Menschen aus Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und der Hansestadt Hamburg können dort problemlos inhaftiert werden - aber es ist den Behörden unverständlich, dass es für mich als Schleswig-Holsteinerin interessant ist, was dort vor sich geht?
Nun ja, jetzt war ich ja doch vor Ort und mittlerweile vor dem Eingang angekommen. Dort warten bereits um die 15 Menschen, hauptsächlich mittelalte und ältere Männer. Ich kenne sie nicht, werde von einigen trotzdem gegrüßt - und antworte mit einem knappen ‚Moin'. Dann summt die Sicherheitstür und heraus kommt ein gut gelaunter Beamter - Feierabend. Ein paar der mit mir wartenden Männer klopfen ihm freundschaftlich auf die Schulter und wechseln ein paar Worte, bevor er sich verabschiedet und auf dem Parkplatz verschwindet. Aus dem Smalltalk wird klar, dass er selbst eine der vorausgegangenen Führungen gegeben hat - und die Wartenden ihn wahrscheinlich aus der Nachbarschaft kennen.
Wir müssen dann unseren Personalausweis abgeben und werden von dem Sicherheitspersonal durch die Eingangstür zur Garderobe geleitet. Die Handys, so ein Beamter auf Nachfrage, müssten wir leider hier im Spind lassen. Ich nehme also nur meine Jacke sowie einen Block und einen Stift zum Notizen schreiben mit. Unter den zahlreichen Fragen, die ich mir in Vorbereitung auf den Termin auf dem Block notiert habe, wird am Ende keine einzige Antwort stehen - so beschäftigt war ich mit dem Mitschreiben dessen, was alle Beteiligten, aber vor allem die beiden Führungsleiter gesagt haben. Noch bevor ich großartig Zeit habe, mir einen ersten visuellen Eindruck vom stacheldrahtgeschmückten Innenhof des Geländes zu machen, erschallt ein überschwängliches „Moooooiiin!“ und reißt mich aus meinen Gedanken. Breit lächelnd und gut gelaunt begrüßt uns der Herr, der später die meiste Zeit reden wird.
Bis dann endlich auch die letzten Teilnehmenden durch die Sicherheitskontrolle gekommen und im Hof versammelt sind, lausche ich noch den Gesprächen der neben mir stehenden Leute. Es geht um die Enkelin, die nun zum Studieren fortziehen wird und um ihre neue Wohnung in Hamburg. Wie können die bloß jetzt an so etwas denken, frage ich schweigend in mich hinein. Wolfgang Kossert vom „Landesamt für Zuwanderung und Flüchtlinge“ kommt dazu. Und dann geht es auch schon los.
Über den Hof gehen wir auf eine Tür zu, darüber ein Relikt aus der Zeit, als das Gelände und noch militärisch als Kaserne genutzt wurde. Es ist eine Art Steintafel, darauf steht : Begonnen Dezember 1935, gerichtet April 1936, bezogen Juli 1936. Nachdem wir die Treppenstufen hinaufgegangen sind, kommen wir in den Besuchstrakt. Zunächst in den Seelsorgeraum. Stolz wird berichtet, dass hier beide Konfessionen, sowohl die evangelische, als auch die katholische, vertreten seien. Moment, denke ich, sind nicht die meisten Geflüchteten... Ja, die meisten Inhaftierten seien muslimischen Glaubens, bestätigt da schon der Führungsleiter meinen Gedanken. Leider, so sagt er weiter, sei es ihnen bisher noch nicht gelungen, muslimische Seelsorgekräfte einzustellen, sie seien aber darum bemüht.
Dann kommt auch schon die erste Frage von einem der mir unbekannten Männer, die auch an der Führung teilnehmen: Ob dies der reguläre Weg wäre, den Menschen durchlaufen, die abgeschoben werden. Die Antwort darauf, die prompt kam, ließ dann kurz aber heiß Wut in mir hochkochen: Es würde alles versucht werden, bevor die „ausreisepflichtigen“ Menschen hier hergebracht würden. Der Staat würde ihnen mit riesigen Schritten entgegenkommen, sogar noch ihre Weiterbildung als Grundlage für ein gutes Leben im Herkunftsland fördern. Und erst, wenn die Geflüchteten diese ‚Geschenke' und Angebote mehrfach ausschlagen und sich nicht an Absprachen halten würden, kämen sie hierhin.
Darauf folgte dann auch gleich die nächste Frage, nämlich wie viele Leute denn momentan anwesend seien. Acht Leute lautete die Antwort, im Durchschnitt seien die Menschen zwölf Tage inhaftiert, es gäbe aber auch Ausnahmen. So auch ein „Fall“, der nun schon sechs Wochen in Glückstadt sei. Dass ‚nur' acht Leute zu diesem Zeitpunkt inhaftiert waren, ist zunächst einmal erfreulich - voraussichtlich wird sich das aber ändern, sobald das Sicherheitspersonal aufgestockt sein wird. Derzeit würde das Team, bestehend aus ca. 30 Wachleuten, die im Drei-Schicht-System arbeiten, eine Maximalaufnahmekapazität von 27 Menschen ermöglichen. Insgesamt würden in ganz Schleswig-Holstein pro Jahr ca. 400 Personen abgeschoben. Abschiebungen würden generell aber von Seiten der Behörde als „Misserfolg“ empfunden werden.
Wir gehen weiter durch einen Flur voller Zimmer, die für Besuchsgespräche gedacht sind. Darin befinden sich jeweils zwei gegenübergestellte Stühle und ein Tisch. Meine Frage, ob die Menschen hier denn auch eine Privatsphäre bzw. Atmosphäre haben würden, in der sie ungestört und unbeobachtet miteinander die Zeit verbringen könnten, wurde bejaht. Doch wie soll ein Mensch sich unbeobachtet fühlen, wenn in den Türen Fenster sind, durch die das Personal jederzeit hindurchschauen kann, selbst wenn die Tür verschlossen ist? Am Ende des Flures gibt es dann noch ein Besuchszimmer, welches von der einen bis zur anderen Seite mit einer massiven Panzerglasscheibe durchtrennt ist. Das sei notwendig für potenziell selbst- oder fremdgefährdende Inhaftierte, welche auch sonst getrennt von den anderen untergebracht seien. Inwiefern, so frage ich mich an dem Punkt, sollte es der betroffenen suizidalen Person helfen, wenn eine mehrere Zentimeter dicke Glasscheibe zwischen ihnen steht, während sie versucht in der Gesellschaft des*der vertrauten Besuchenden wenigstens ein bisschen Trost im grauen Haftalltag zu finden ? Die Glasscheibe als Schutzmaßnahme darzustellen verkennt, dass die Haftumstände und das Eingesperrt sein sowie die Aussicht auf Abschiebung in ein Land, aus dem die Menschen aus verschiedensten Gründen geflohen sind und in dem ihnen nach der Rückkehr nicht selten Verfolgung und Folter drohen, oft maßgebliche Gründe für psychische Leiden wie Depressionen bis hin zu Suizidalität sind oder diese zumindest massiv verstärken. Aber dazu später mehr.
Nun gehen wir weiter, an einem Richter*innenzimmer vorbei, in den Gruppenbesuchsraum. Dieser bietet mit einigen Tischen und Stühlen Raum für mehrere Familien. Am hinteren Rand des Raumes liegt ein Spielteppich mit Straßenaufdruck, darauf eine Kiste mit Spielzeug für Kinder. Gleich neben der Tür findet sich ein Tisch mit Laptop darauf, der sei für die Aufsichtsperson. Diese sei für diesen Raum notwendig, da es ja zu Konflikten unter den verschiedenen Familien kommen könne, wenn diese sich gleichzeitig im Raum befinden würden. Dann kommen die beiden auf das Personal zu sprechen: Diese würden neben der grundlegenden JVA-Beamt*innenenausbildung auch noch in zusätzliche „interkulturellen Kompetenzen“ geschult werden. Sie seien ja schließlich nicht nur da, um die Menschen zu bewachen, sie von A nach B zu bringen und Türen auf- und zuzuschließen, sondern würden auch „gemeinsam mit den Inhaftierten die Freizeiteinrichtungen besuchen und sie kennenlernen“. Deshalb würden sie eine „besondere Verantwortung“ tragen, um frühzeitig mögliche Eigen- und Fremdgefährdungen und auffällige Gemütslagen zu erkennen und zu melden.
Bei diesen Worten muss ich schlucken - für mich klingt das einfach nur nach Überwachung, dem Gegenteil von unbeschwertem Beisammensein und Freund*innenschaft. Wie absurd zu denken, dass die Begegnung der Menschen grundsätzlich gleichberechtigt sein kann, wenn nur die eine Person den Schlüssel in der Tasche hat und abends die Einrichtung verlassen und sich in das eigene Zuhause aufmachen kann - die andere bleiben muss, von den eigenen Freund*innen und Familienangehörigen getrennt.
Nun dürfen wieder Fragen gestellt werden - zum Beispiel, aus welchen Ländern denn die Inhaftierten kommen. Hauptsächlich kämen sie aus den Balkanstaaten, aber auch Marokko, Tunesien und generell ‚Schwarzafrika' seien vertreten. ‚Schwarzafrika' - das ist eine rassistische Bezeichnung für das subsaharische Afrika. Rassistisch ist die Verwendung diesen Begriffes deshalb, weil er zum einen von der Vorstellung herrührt, diese Region, in der mehrheitlich Menschen mit dunklerer Hautfarbe lebten sei, in Abgrenzung zum Norden des Kontinents, vollkommen kulturlos. Zum anderen suggeriert er, es handele sich beim südlichen ‚Rest Afrikas' um eine homogene Einheit. Doch so viel Zeit, über den Begriff nachzudenken, habe ich in dem Moment gar nicht - schon geht es weiter.
Ob denn keine Menschen aus Syrien oder Afghanistan da wären, will einer der Anwesenden wissen. Dies sei nicht der Fall, so Herr K., weil es zurzeit keine diplomatischen Kontakte zu Ländern wie Syrien gebe und eine Abschiebung in solche Länder somit nicht vertretbar sei. Falls doch mal Leute aus Syrien hierher gelangen, würden diese aufgrund des Dublin-Übereinkommens zurück ins erste europäische Land gebracht, das sie nach bzw. während ihrer Flucht betreten haben. Dort würden dann die jeweiligen Behörden entscheiden, was mit den Menschen geschieht. Inwiefern denn eine Abschiebung überhaupt vertretbar sein könne, frage ich wieder still in mich hinein, während ich mich bemühe, alles mitzuschreiben und nichts zu vergessen. Denn auch, wenn in den Balkanstaaten kein akuter Kriegszustand herrscht und es diplomatische Kontakte dorthin gibt - für die vielen geflüchteten Sinti*zze und Rom*nja, die jedes Jahr dorthin abgeschoben werden, ist das Leben dort alles andere als friedlich. Neben der systematischen alltäglichen Diskriminierung und Ausgrenzung in allen möglichen gesellschaftlichen und sozialen Bereichen droht ihnen nicht selten auch massive physische Gewalt durch rechtsextreme rassistische Gruppen.
Während wir weitergehen und die Treppen zurück in Richtung Innenhof hinabsteigen, stellen einige Menschen weitere Fragen. Ob die Inhaftierten Straftaten begangen hätten, was verneint wird. Manche Teilnehmenden wirken ernsthaft erleichtert, als sie sagen, sie hätten sich das alles „1000 mal schlimmer“ vorgestellt. Du bist ja auch nicht hier inhaftiert sondern nur zu Besuch, denke ich mir. Wie kann dieser Mensch nur einfach so hinnehmen, was er von den fröhlich lächelnden Führungsleitern erzählt bekommt? Während ich selbst immer wieder stocke, zum Beispiel, wenn von ihnen die Einrichtung als „Aufbewahrungsstation“ bezeichnet wird. Aufbewahren - das mache ich mit Dingen, nicht mit Menschen. Mein Blick fällt dabei durch Fenster, dann durch die massiven Gitter davor und schließlich durch den engmaschigen Zaun mit Stacheldraht oben drauf auf den Innenhof, in den wir jetzt wieder kommen. Eigentlich wollen wir uns die KFZ-Schleuse nun genauer ansehen, doch wir werden weggeschickt - es kommt wohl ein „Neuzugang“ und wir müssen aus Datenschutzgründen weitergehen.
Also geht es weiter, zu den außengelegenen „Freizeiteinrichtungen“. Die traurig und grau wirkenden ‚Spielplätze' bestehen aus einigen metallenen Sportgeräten auf kahlem Boden, ohne auch nur einen Grashalm darauf. Auch diese sind eingezäunt, oben auf den Zäunen sind zahlreiche rot blinkende Sicherheitskameras zu sehen. Dies sei ein super Angebot, doch es würde zur Zeit, witterungsbedingt, nicht wirklich genutzt. Auch einen abgetrennten Frauenbereich mit Sichtschutz gibt es. Also Sichtschutz vor den männlichen Insassen, allesüberblickende Kameras sind natürlich trotzdem an jeder Ecke des Bereiches angebracht.
Was nun gesagt wird, lässt wieder die Wut in mir hochkochen und mich fassungslos zurück. Es sei zwar nicht gewollt, aber es gäbe auch Zimmer für Frauen mit ihren Kindern in der Einrichtung. Die gängige Praxis, um den Aufenthalt von Kindern in der Haftanstalt zu verhindern, sei folgende: entweder würde nur ein Familienteil, bspw. der Vater inhaftiert und der Mutter mit dem Kind gesagt, wann sie sich wo zur „Familienzusammenführung“ und gemeinsamen Abschiebung einzufinden hätten. Oder nur die Eltern würden inhaftiert, das Kind/die Kinder währenddessen von dafür vorgesehenen Einrichtungen in Obhut genommen werden. Wie abgestumpft, denke ich, muss ein Mensch sein, der ernsthaft behaupten kann, dies sei eine Maßnahme für den Schutz der Kinder?
Doch dann geht es auch schon wieder weiter. Wir gehen auf einen Block zu, unter dessen Fenstern Abkürzungen stehen: B-OG-22, daneben B-OG-20, darunter B-EG-29 und so weiter. Auf unserem Weg fällt mein Blick auf das gegenüberliegende Gebäude, welches ähnlich aussieht wie das, welches wir gleich betreten werden. In manchen Fenstern brennen Lichter. Doch Menschen sehe ich keine darin.
Wir betreten einen Unterbringungstrakt. Gleich das erste Zimmer wird uns als fortschrittlich und inklusiv präsentiert: Es gäbe selbstverständlich eine Rampe und ein rollstuhl-/ gehbehindertengerechtes Zimmer. Toll, denke ich. Die weiteren Zimmer seien kleiner, für die „normalen“ Inhaftierten. Wie kann mensch so etwas ernsthaft als fortschrittlich präsentieren? Im Flur bleiben wir zunächst stehen. Die berechtigte Frage kommt auf, warum denn die Türen so massiv seien, wenn dies doch kein Gefängnis sei und die Inhaftierten nicht eingeschlossen würden, wie zuvor behauptet. Darauf weiß Herr Kossert dann auch keine wirkliche Antwort, er sagt er sei selbst zuerst sehr erschrocken gewesen, als er diese zum ersten mal gesehen habe. Die Türen seien auf den Rat eines externen Begutachters alle einheitlich so massiv gestaltet worden.
Mir stellt sich des Weiteren die Frage, wie man behaupten kann, die Menschen hätten prinzipiell freie Entscheidungsmöglichkeit über das Abschließen der Tür zum Schutz ihrer Privatsphäre, wenn die Türen natürlich zu jeder Zeit vom Personal geöffnet werden können. Badezimmer gibt es jeweils als abgetrennten Bereich in den Zimmern. Wir gehen nun an mehreren Funktionsräumen vorbei, neben einem geschätzt gerade einmal einen Quadratmeter großen „Internetraum“, in dem nichts als ein Tisch mit Laptop darauf und Stuhl davor steht, gibt es noch einen Raum zum Wäsche waschen, eine Gemeinschaftsküche und einen gemeinschaftlich nutzbaren Aufenthaltsraum mit Tischkicker, Fernseher und Sofa. Zu der Küche wird uns noch von einem Vertrag erzählt, den die Einrichtung mit dem in der Nachbarschaft ansässigen Edeka geschlossen hat und über den sie sehr froh und stolz sind. Es gäbe zwar drei mal täglich gestellte Mahlzeiten, aber dass die Inhaftierten selbst Essen bestellen und geliefert bekommen können, um dann eigenständig zu kochen, sei etwas sehr Tolles. Die Frage, ob sie das Essen selbst bezahlen müssten, wird bejaht. Sie würden ihr Geld zu Beginn der Haft „abgeben“ (falsch, es wird ihnen weggenommen...) und es werde dann von den Angestellten „verwaltet“, also die Ausgaben für z.B. Bestellungen bei Edeka abgezogen. Auch ihr Handy müssten sie abgeben und würden einen Ersatz ohne Kamera und Audioaufnahmemöglichkeit bekommen, in das sie dann ihre SIM-Karte stecken könnten.
Im Aufenthaltsraum wird es dann kurz emotional, als Herr Kossert uns empfiehlt, dass wir „ja auch mal versuchen müssten, uns in deren Lage hinein zu versetzen“. Sie hätten sich schließlich oft schon einen Freundeskreis hier aufgebaut. Dieser „psycho-soziale Bereich“ würde sie momentan am meisten beschäftigen und sie würden ein Auge darauf haben und versuchen, den Leuten soweit es geht „unter die Arme zu greifen“, damit es nicht zu Suiziden komme, wie es in anderen Einrichtungen traurigerweise der Fall wäre. Im Vergleich stehe diese Einrichtung und Schleswig-Holstein aber sehr gut da, in anderen Bundesländern wehe viel „kälterer Wind“. Eine Maßnahme, um das Selbstverletzungsrisiko zu minimieren sei zum Beispiel, dass keinerlei Bilder an den Wänden hängen. Dass es dadurch aber sehr trist und kahl aussehe, so gar nicht wie ein gemütliches Wohnzimmer, sei ein unerwünschter Nebeneffekt.
Ungemütlich ist es und wohlfühlen könnte ich mich hier wohl auch nie, denke ich - doch würde ein stilvolles Bild und ein paar bunte Sofakissen das wirklich ändern? Ich denke nicht. Als wir das Gebäude verlassen, um uns nun endlich die KFZ-Schleuse anzusehen, werden wir schon wieder vom Sicherheitspersonal weggeschickt, weil der Gefangenentransport das Gelände wohl wieder verlassen will. Diesmal mit noch mehr Nachdruck, welcher dazu führt, dass selbst der Führungsleiter irritiert scheint: „Wir haben ja nix zu verbergen“.
Zum Abschluss teilt uns Herr Kossert noch seine - sorgfältig als solche gekennzeichnete - eigene Meinung mit. Man könne ja in Zukunft überlegen, und sicherlich sei die neue Bundesregierung ein Schritt in diese Richtung, denjenigen Menschen, die es geschafft haben sich hier zu integrieren, eigene Jobs haben und eigenes Geld verdienen, statt nur einer weiteren Duldung irgendwann einen Aufenthaltstitel zu geben. Zumindest, wenn die Geflüchteten dringend gesuchte Berufe, zum Beispiel in der Pflege, übernehmen und damit zu „wertvollen Mitgliedern in unserer Gesellschaft“ würden, dann sollten sie nach seiner persönlichen Meinung bleiben dürfen. Wie großzügig und gutherzig, denke ich. So viel Verwertungslogik und kalte Berechnung lässt mich, wie so oft an diesem Tag, schaudern und ich bin froh, dass ein Ende in Sicht ist und ich bald nicht länger in diese unerträglich grinsenden, fast schon vor Freude sprühenden Gesichter gucken muss.
„Es hat mir viel Spaß gemacht“ und „Wir sollten in Verbindung bleiben“ sagt der Beamte zum Schluss, danach wünscht er uns noch frohe Festtage. Nein danke, denke ich, gehe zum Spind zurück und hole meinen Rucksack. Nun bekomme ich auch meinen Personalausweis zurück und darf unter dem Surren der Sicherheitstür und überschwänglichen Verabschiedungen der Mitarbeitenden das Gebäude verlassen. Mir ist gar nicht freudig zu Mute, ich bin geplättet von den tristen Eindrücken, die ich heute gesammelt habe. Ich bin wütend über das, was ich gesehen und gehört habe und weiß doch, dass ich längst noch nicht das ganze Ausmaß gesehen und verstanden habe. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als meine Gedanken mit anderen zu teilen und für eine Welt ohne Grenzen zu kämpfen, in der Abschiebegefängnisse wie das in Glückstadt der Vergangenheit angehören. Denn auch, wenn die Zuständigen immer wieder versuchen, mit euphorischen und verharmlosenden Formulierungen das Ganze als gar nicht so schlimm darzustellen und so, vielleicht auch vor sich selbst, ihr Handeln zu rechtfertigen: Das ganze bleibt gewaltvoll und unmenschlich.
Deshalb : Kein Abschiebegefängnis in Glückstadt und anderswo!
Anmerkung: Dieser Bericht ist auf Grundlage der von mir handgeschriebenen Notizen gemacht worden. Sehr prägnante Formulierungen und Bezeichnungen habe ich mir Wort für Wort notiert, an manchen Stellen habe ich aber natürlich auch nicht wortwörtlich geschrieben, was gesagt wurde. Die Bezeichnung „Abschiebegefängnis“ wird von den Behörden abgelehnt. Was dort passiere, sei „Wohnen Minus Freiheit“ und dies sei nicht mit einem Gefängnis zu vergleichen. Ich habe statt einheitlich immer nur „Abschiebehafteinrichtung“ zu schreiben auch diesen Begriff genutzt, da wie ich finde der Vergleich sehr Nahe liegt und keinesfalls übertrieben ist - auch, wenn es vielleicht rechtlich nicht die richtige Bezeichnung ist.
Freitag, der 19.12.2021
Pia Schack von der „Besuchsgruppe Abschiebehaft Glückstadt“