(Gegenwind 400, Januar 2022)
Schon als Anfang der 70er Jahre der geplante Bau eines Kernkraftwerkes in Brokdorf bekannt wird, regt sich Widerstand. Allerorts entstehen Bürgerinitiativen und Aktionsbündnisse mit einem gemeinsamen Ziel: Den Bau des Atomkraftwerkes zu verhindern. Dieses Ziel vereint verschiedene gesellschaftliche Gruppen ganz unterschiedlicher weltanschaulicher Überzeugungen: Landwirt:innen und Anwohner:innen, Aktivist:innen aus dem linken und liberalen Spektrum, Umweltgruppen, engagierte Christ:innen und weitere atomkritische Bürger:innen aller politischen Richtungen aus dem gesamten Bundesgebiet.
Trotz zahlloser Bürgerproteste und gerichtlicher Klagen beginnen Ende Oktober 1976 ohne jegliche Vorankündigung die Bauarbeiten. Mitten in der Nacht rücken die Baufahrzeuge an. Der Platz wird eingezäunt - Stacheldraht, tiefe Wassergräben und ein hohes Polizeiaufgebot mit Hundestaffeln schützen die „Festung Brokdorf“. Die AKW-Gegner:innen sind entsetzt. Sie werden vor vollendete Tatsachen gestellt. Das Signal: Widerstand zwecklos.
Ein Jahr zuvor hatten Bürger:innen im baden-württembergischen Wyhl den Bauplatz eines geplanten Kernkraftwerkes besetzt. Mit Erfolg: Das AKW wurde nie gebaut. Wyhl wird zum Symbol für die erfolgreiche zivilgesellschaftliche Einflussnahme auf die Politik und ein Vorbild für die Anti-AKW-Bewegung. Brokdorf - ein zweites Wyhl? Das wollen die regierende Politik und die Atomindustrie unbedingt verhindern. Trotzdem schaffen es Ende Oktober 1976 rund 2.000 Menschen nach dem Vorbild von Wyhl den Bauplatz in Brokdorf zu besetzen. Unter dem massiven Einsatz von Wasserwerfern und Tränengas wird das Gelände geräumt. Der Konflikt zwischen Staatsmacht und Protestierenden spitzt sich zu.
Nach zahlreichen gerichtlichen Einsprüchen der Atomkraftgegner:innen verhängt das Oberverwaltungsgericht Lüneburg (Schleswig-Holstein hatte damals noch kein Verwaltungsgericht) 1977 einen vorläufigen Baustopp - vor allem, weil die Frage nach der Endlagerung des hochgiftigen Atommülls vollkommen ungeklärt ist. Sie ist es bis heute! Das Atomgesetz regelt, dass Kernkraftanlagen nur betrieben werden dürfen, wenn gesichert ist, dass der anfallende hochradioaktive Müll sicher entsorgt werden kann. Die ungelöste Endlagerfrage hätte zum Fallstrick der Atomindustrie werden können. Doch es kommt anders.
Ende September 1979 treffen Bund und Länder den „Entsorgungsvorsorgebeschluss“. Damit entsteht eine neue Rechtslage: Jetzt reichen der Nachweis einer Zwischenlagerung der atomaren Abfälle für sechs Jahre und die Suche nach einem Endlager aus. Dass die Atomindustrie gegen jeden Widerstand durchgesetzt werden soll, wird spätestens jetzt offensichtlich. Die laufende Klage einer Klägergemeinschaft gegen das AKW Brokdorf ist damit zum Scheitern verurteilt. „Das war ein Schock!“, fasst der Anwohner Karsten Hinrichsen zusammen, der zwölf Jahre lang gegen die Inbetriebnahme des AKW Brokdorf geklagt hat. „Es war der Beginn der Entsorgungslüge. Bis heute hat sich daran nichts geändert.“ Für einige ist das Vertrauen in die Demokratie nachhaltig erschüttert: „Da war der Traum vom demokratischen Rechtsstaat vorbei“, resümiert der Milchbauer Ali Reimers resigniert, der Teil der Klägergemeinschaft war.
Als die Bauarbeiten für das AKW im Februar 1981 wieder aufgenommen werden, kündigen rund 50 Organisationen für den 28. Februar eine Großdemo an. Noch bevor es zur Anmeldung kommt, erlässt der Landrat des Kreises Steinburg eine Allgemeinverfügung, die jegliche Demonstration verbietet. Die Begründung? Weil mit Gewalt zu rechnen sei. Schon Wochen vorher wird in Politik und Medien Stimmung gegen die Atomkraftgegner:innen gemacht. So warnt der damalige schleswig-holsteinische Innenminister Uwe Barschel vor gewaltbereiten „Reisechaoten“. Es wird massiver Druck ausgeübt - Schüler:innen droht man mit Schulverweis, wenn sie sich an der Demo beteiligen.
Einen Tag vor der geplanten Demonstration hebt das inzwischen zuständige Verwaltungsgericht Schleswig das Verbot größtenteils auf - setzt es aber in der Nacht zum 28. Februar wieder in Kraft. Zu diesem Zeitpunkt sind bereits viele Menschen auf dem Weg in die Wilstermarsch. Um die Demonstration zu verhindern, hat die Polizei das Gebiet weiträumig abgeriegelt, bereits in Niedersachsen sind Autobahnen gesperrt. Trotzdem werden am Ende 100.000 Menschen im Kreis Steinburg demonstrieren. Sie umfahren Straßensperren, klettern über Weidezäune und schlagen sich teils kilometerweit über die gefrorenen Felder durch.
Die Großdemonstration beginnt mit einer Auftaktkundgebung des Bundesverbands Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) in Wilster. Anschließend setzen sich viele Demonstrierende in Richtung Brokdorf in Bewegung. Schätzungsweise 35.000 Menschen kommen bis zum Baugelände durch. Über den Köpfen der Demonstrant:innen kreisen die Polizeihubschrauber im Tiefflug, der Lärm ist ohrenbetäubend. „Das war schon ein bisschen kriegsähnlich“, erinnert sich Karsten Hinrichsen im Rückblick. Die Polizei ist mit einem Großaufgebot von 10.000 Beamt:innen im Einsatz. Ein Teil der Demonstrierenden versucht den Bauplatz zu besetzen. Mit Wasserwerfern und Tränengas räumen die Einsatzkräfte das Gelände. Es kommt zu regelrechten Jagdszenen auf einzelne Demonstrant:innen. Es ist der bis dahin größte Polizeieinsatz in der Geschichte der Bundesrepublik. Fünf Jahre später wird das Bundesverfassungsgericht das Versammlungsverbot für verfassungswidrig erklären.
Vier Jahre nach der Großdemo in Brokdorf erklärte das Bundesverfassungsgericht das Versammlungsverbot von 1981 für unzulässig und verfassungswidrig. Es war das erste Mal, dass sich das Bundesverfassungsgericht intensiv mit der Versammlungsfreiheit auseinandersetze und mit dem sogenannten „Brokdorf-Beschluss“ eine Grundsatzentscheidung fällte, die bis heute gilt: Im Zweifel für die Versammlungsfreiheit. Denn auch wenn mit Ausschreitungen Einzelner zu rechnen ist, bleibt der Schutz der Versammlungsfreiheit erhalten. „"Die bloße Möglichkeit und der Hinweis auf frühere Ausschreitungen (...) reichten nicht aus“, begründet das Gericht, denn „mit einer solchen Begründung ließe sich jede Demonstration untersagen.“ (BVerfGE 69, 315)
Trotz weiterer Proteste in den nächsten Jahren wird der Bau fortgesetzt. Wenige Monate nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl geht das AKW Brokdorf im Oktober 1986 ans Netz. Auch nach der Inbetriebnahme setzen Kernkraftgegner:innen ihren Widerstand fort. Mit monatlichen Mahnwachen fordern sie beharrlich die vollständige weltweite Abrüstung und den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie - symbolträchtig jeweils am sechsten Tag eines Monats, um an den Atombombenabwurf auf Hiroshima am 6. August 1945 zu erinnern. „Wir wollten damit die enge Verzahnung von militärischer und ziviler Atomnutzung deutlich machen“, sagt Karsten Hinrichsen. Viele der Menschen, die sich gegen das AKW Brokdorf engagiert haben, opferten dafür einen erheblichen Teil ihrer Freizeit. Über viele Jahrzehnte den Widerstand aufrechtzuerhalten, erfordert viel Durchhaltevermögen. Einige von ihnen empfanden es als persönliche Niederlage, dass das Kernkraftwerk trotz allen Widerstandes in Betrieb genommen wurde. Der Weg bis zum Atomausstieg war steinig, lang und umstritten.
Im Jahr 2000 wird unter der rot-grünen Bundesregierung der Atomausstieg bis 2020 beschlossen. Als die folgende Regierungskoalition von CDU und FDP 2010 den Beschluss wieder rückgängig macht und eine deutliche Verlängerung der Laufzeiten für Kernkraftwerke plant, gehen dagegen bundesweit wieder unzählige Bürger:innen auf die Straße. Im April 2010 bildet sich eine Menschenkette vom AKW Brunsbüttel über das AKW in Brokdorf bis zu dem AKW in Krümmel. 120.000 Menschen stehen dicht gedrängt auf 127 Kilometern, um gegen die Aufhebung des Atomausstiegs zu demonstrieren. Noch im selben Jahr tritt die Verlängerung der Laufzeiten für Kernkraftwerke in Kraft. Nur wenige Monate später bebt in Japan die Erde. Erst nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima wird 2011 endgültig der Atomausstieg bis 2022 beschlossen.
Der Atomausstieg ist beschlossen, Brokdorf geht Ende 2021 vom Netz. Hat es sich damit also endlich ausgestrahlt? Keineswegs! Was bleibt sind rund 17.000 Tonnen hochradioaktiver Müll, den die Atomkraftwerke bis dahin produziert haben. Dieser muss mindestens eine Million Jahre sicher vor dem Eindringen in die Biosphäre aufbewahrt werden. Wo und wie - das ist bis heute ungeklärt. Ein hochgiftiges Erbe, das an die kommenden Generationen weitergegeben wird.
Und ein teures noch dazu: Die Kosten für die Lagerung allein bis Ende dieses Jahrhunderts werden auf rund 170 Milliarden Euro geschätzt. Nach dem Verursacherprinzip müssten dafür die Atomkonzerne aufkommen. Aber E.ON, Vattenfall & Co. haben sich freigekauft: Rund 24 Milliarden Euro haben sie in einen Fonds eingezahlt, der durch Investitionen die Kosten für die Entsorgung erwirtschaften soll. Die Finanzierung der Endlagerung liegt seitdem in der Allgemeinheit. Und derweil sich die Suche nach einem Endlager fortsetzt, wird der Atommüll auf den Geländen der Kernkraftwerke zwischengelagert - auf unbestimmte Zeit.
Artikel bis hierher am 1.2.2021 unter dem Titel „Im Friesennerz gegen Wasserwerfer“ erschienen im Magazin „Lebensart im Norden“ (www.lebensart-sh.de)
Trotz jahrelanger Proteste ging das AKW Brokdorf 1986 ans Netz. Der Film „Das Ding am Deich“ unternimmt fast 25 Jahre später eine Reise in den abgelegenen Landstrich. Ein Jahr lang beobachtet Regisseurin Antje Hubert den Alltag mit einem AKW vor der Haustür und taucht mit den bewegenden Erinnerungen der widerständigen Anwohner:innen in die Vergangenheit ein.
Das Ding am Deich. Vom Widerstand gegen ein Atomkraftwerk, D 2012, Regie: Antje Hubert, 96 Min., DVD 12,90 Euro Erhältlich über: www.diethede.de
Nach dem vierfachen SuperGau in Fukushima 2011 gründete sich die Initiative Brokdorf-akut. Deren Zielsetzung und Aktivitäten sind auf der Homepage www.brokdorf-akut.de nachzulesen.
Besondere Aufklärungsbemühungen widmete Brokdorf-akut einem renegade-Ereignis des Jahres 2018, als der Funkkontakt eines Verkehrsflugzeugs zur Luftüberwachung abbrach, während gerade das Haupttor des AKW Brokdorf blockiert wurde, siehe Luftsicherheits-Gesetz. Die nicht im AKW benötigten Mitarbeiter:innen wurden mit Polizeifahrzeugen evakuiert, während sich niemand um die ebenfalls gefährdeten Demonstrant:innen kümmerte.
Während des Brennelementwechsels im Jahr 2017 wurden im Reaktor unzulässig hohe Rostschichten an einigen Brennstabhüllrohren entdeckt. Die bei einem Störfall erforderliche Einspeisung von kaltem Primärkühlmittel kann in einem derartigen Szenario das Brechen der Hüllrohre bewirken, was zu einer Dampfexplosion oder Kernschmelze führen könnte. Brokdorf-akut hat zusammen mit dem Verein „.ausgestrahlt“ versucht, die Ursache zu finden. Das Modell zur Vorhersage der Korrosionsschichtdicke lieferte seit Betriebsbeginn keine korrekten Werte. Die Ursache konnte (wie im schweizerischen AKW Leibstadt) nicht gefunden werden. Dennoch wurde das AKW nach sechs Monaten Stillstand unter Auflagen wieder ans Netz gelassen. Bis zur Revision im Jahr 2020 lief das AKW deshalb nur mit reduzierter Leistung. Dann stellte der Betreiber PreussenElektra den Antrag, wieder Volllast fahren zu dürfen. Dafür bot er an, alle Brennelemente mit dem verdächtigten Hüllrohrtyp durch 72 neue Brennelemente eines anderen Herstellers zu ersetzen. Diese Brennelemente werden bis zur Stilllegung Ende dieses Jahres nur 1,5 Jahre lang Energie geliefert haben gegenüber 4 bis 5 Jahren im Regelfall. Sie stellen beim Rückbau eine besondere Gefahr dar.
Obwohl also das AKW drei Jahre lang mit abgesenkter Leistung betrieben, es in den Jahren davor bereits im Lastfolgebetrieb (wenn Wind und Sonne reichlich vorhanden waren) gefahren wurde, hat der Betreiber dennoch zweimal Strommengen von anderen AKW gekauft (einmal für ein halbes Jahr und jetzt kurz vor Stilllegung noch einmal für 4 Tage). Ob in der 13. Atomgesetznovelle nicht berücksichtigt wurde, dass dem AKW im Jahr 2006 eine thermische Leistungserhöhung von 3765 auf 3900 Megawatt gestattet wurde?
Schon im Jahr 2017 stellte PreussenElektra (PEl) den Antrag auf Rückbau des AKW Brokdorf. Mit dem Rückbau wollte PEl möglichst sofort nach der Stilllegung beginnen; denn Zeit ist Geld. Doch die erhoffte Genehmigung wird wohl erst im Jahr 2023 vorliegen.
Dem Antrag liegen nur der Sicherheitsbericht, die Umweltverträglichkeitsuntersuchung und ein Kurzbericht bei. Außerdem wurde der Bau und Betrieb einer Transportbereitstellungshalle beantragt. Sie soll die abgebauten schwach- und mittelradioaktiven Anlagenteile in Endlager gerechten Containern aufnehmen.
Nicht beigelegt wurden dem Antrag ca. 20 Technische Berichte, die den Einwender:innen bei der Erarbeitung ihrer Einwendungen hätten helfen können. Und für die Einleitung von Nukliden sowie von Bor in die Elbe (Bor wird nach der Stilllegung für die Abschaltung des Reaktors nicht mehr benötigt) wurde keine neue Erlaubnis beantragt. PEl hat auch keine Angaben darüber gemacht, auf welche Deponie(en) die freigemessenen, gering strahlenden Materialien verbracht werden sollen. (Das MELUND hat für die zu deponierenden Abfälle aus dem Rückbau des AKW Brunsbüttel Verfügungen an die Stadt Lübeck und die Gemeinde Gremersdorf versandt, die nun dagegen klagen.)
Es wurden ca. 800 Einwendungen gesammelt, auch der BUND-SH hat eine Einwendung erhoben.
Es fand Corona-bedingt kein Erörterungstermin statt, sondern nur eine online-Konsultation. Dadurch wurde eine intensive Diskussion - insbesondere der sehr oberflächlichen Antworten der PEl - verhindert.
Die Einwendungen thematisierten u.a. folgende Punkte:
Es ist zu befürchten, dass der Rückbau gegenüber dem Leistungsbetrieb zu einer höheren Strahlenbelastung in der Umgebung führt. Für die Einleitungen in die Elbe ist das bereits absehbar. Ob die Rückbaugenehmigung beklagt wird, kann erst nach deren Vorliegen entschieden werden.
Hanna Wendler
Redakteurin des Magazins „Lebensart im Norden“ (1. Teil)
Karsten Hinrichsen
Brokdorf-akut (ab Zwischenüberschrift „Brokdorf-akut“)