(Gegenwind 399, Dezember 2021)
„Andy, du bist so 1 Pimmel“, kommentierte Twitteruser @pauli_zoo am 30. Mai einen Tweet von Hamburgs Innensenator Andy Grote. Ein Polizist entdeckte den Kommentar, wies den Innensenator darauf hin, der erstattete Anzeige wegen Beleidigung. Polizei und Staatsanwaltschaft ermittelten - selbstverständlich so, wie sie es in jedem Fall gemacht hätten, bei jeder Frau, die wegen sexualisierten Beleidigungen und Gewaltandrohungen im Netz auf einem Revier Anzeige erstattet. Oder?
Obwohl Marlon P., der die Kneipe „Zoo St. Pauli“ mit betreibt, einer polizeilichen Vorladung nachkam, sich als Inhaber des Twitteraccounts @pauli_zoo und Verfasser des Tweets zu erkennen gab, stand drei Wochen später am 9. September Polizei bei seiner Meldeadresse vor der Tür: „Heute morgen um 6 Uhr gab es eine Hausdurchsuchung. 6 Beamt*innen in der Wohnung. Gesucht wurde das Gerät, mit dem ‚du bist so 1 Pimmel’ unter einen Tweet von Andy geschrieben wurde. Sie wissen, dass zwei kleine Kinder in diesem Haushalt leben. Guten Morgen, Deutschland“, erklärte @pauli_zoo in einem weiteren Tweet, der viel geteilt wurde.
Mit dem Pimmel-Kommentar hatte er am 30. Mai diesen Tweet von @AndyGrote gekontert: „In der #Schanze feiert die Ignoranz! Manch einer kann es wohl nicht abwarten, dass wir alle wieder in den Lockdown müssen ... Was für eine dämliche Aktion! Danke @polizeihamburg, die wieder einmal den Kopf hinhalten muss, damit die Pandemie nicht aus dem Ruder läuft.“ Senator Grote, der sich so über in Pandemiezeiten feiernde Jugendliche im Schanzenviertel aufregte, klatschte so der Polizei Beifall, die mit einem massiven Aufgebot gegen Verstöße gegen die Corona-Auflagen vorging. Pech für ihn, dass die Schwarmintelligenz nicht so schnell vergisst: Am 10. Juni 2020 feierte Andy Grote seine erneute Ernennung zum Innensenator mit einem Umtrunk mit 30 Gästen, in der Bar Toni des „Club 20457“ in der Hafen City. Damit verstieß er gegen die von ihm selbst mit erlassene Corona-Eindämmungsverordnung. Den eigentlich galt auch für den Herren Innensenator diese Regel: „Öffentliche und nicht öffentliche Veranstaltungen und Versammlungen sind untersagt, soweit sie nachstehend nicht gestattet sind.“ Aber wozu einen Fehler zugeben, wenn man sich rauswinden kann: Grote erklärte treuherzig, das Treffen sei keine Veranstaltung gewesen, es sei „ein falscher Eindruck“ entstanden, alles war eine „gemeinsame Verabredung zu einem Gastronomiebesuch“, absolut legal selbstverständlich: „Wir waren in einer Gaststätte, wo ein Gastwirt Gäste bewirtet hat“, so Grote. Hat hier jemand was von einem Umtrunk gesagt? Nur ein zeitgleicher, aber selbstverständlich nicht gemeinsamer, Barbesuch: getrennt feiern, gemeinsam anstoßen, sozusagen. Wer dabei war, verriet er als Ehrenmann auch nicht. Ein wahres Vorbild in Pandemiezeiten. Interessanterweise änderte der Senat zehn Tage nach dem Umtrunk, der keiner war, die Corona-Regeln: In der Verlautbarung des Senats zu den Corona-Regeln stand zuvor, dass bei allen Treffen nicht mehr als zehn Menschen aus maximal zwei Haushalten zusammenkommen dürfen. „Die Kontaktbeschränkung gilt auch für die Gastronomie“, stand dort unmissverständlich. Nachdem die Feier von Grote publik geworden war, wurde dies geändert: Nun durften plötzlich auch mehr als zehn Personen Gastro-Betriebe besuchen, wenn der Mindestabstand eingehalten wird.
Die nachträgliche Änderung konnte aber nicht verhindern, dass die Bußgeldstelle am 4. August 2020 ein Bußgeld von 1000 Euro gegen den Innensenator verhängte - wegen eindeutigem Verstoß gegen die Corona-Regeln. „Angesichts der Strenge, mit der der Senat Corona-Regeln erlassen und durchgesetzt hat, ist das kein unerheblicher Fehler“, erklärte dazu CDU-Innenexperte Dennis Gladiator. Aber der ist in der CDU, und wer hört schon auf die Opposition. Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher, wie sein Innensenator in der SPD, sah keinen Grund für einen Rücktritt. „Dass der Senat den Verstoß gegen die Corona-Regeln nachträglich legitimieren will, ist unerträglich. Der Bürgermeister hat das nicht nur akzeptiert, sondern schreckt nun nicht einmal davor zurück, die Regeln nachträglich so anzupassen, dass sie Grotes Verstoß legitimieren sollen“, so Dennis Gladiator: „Der Innensenator muss zurücktreten.“ Aber statt zurückzutreten, spielte sich Andy Grote 11 Monate nach seiner Corona-Feier als Gralshüter der Corona-Regeln auf.
Dies war der Anlass für den Pimmel-Tweet des Wirtes der Kneipe „Zoo St. Pauli“. Niels Boeing erklärte dem Autor: „Während Bars und Kneipen von der Hamburger Politik alleine gelassen und gemaßregelt wurden, gab Grote einen nicht coronakonformen StehEmpfang. Bad idea!“ Boeing, Aktivist auf St. Pauli und Mitglied des Barkombinats, eine Interessenvertretung von Bars und Kneipen in Hamburg, meint weiter zu Andy Grote: „Als Bewohner und regelmäßiger Barbesucher auf St. Pauli hätte er mal lieber dem barkombinat Hamburg zur Seite stehen sollen.“
Nun wohnt Andy Grote mitten auf St. Pauli, und nach der unverhältnismäßigen Hausdurchsuchung wegen des Pimmeltweets tauchten in der Umgebung seiner Wohnung knallgelbe Aufkleber mit dem Text des Tweets auf: „Andy, du bist so 1 Pimmel“. Der polizeiliche Staatsschutz hat Ermittlungen aufgenommen! Polizisten zählten 37 Aufkleber und kratzten diese ab: Wegen „Gefahr im Verzug“. Eine erneute Beleidigung! Dies rief jetzt allerdings das wenige Straßen weiter gelegene autonome Zentrum Rote Flora auf den Plan: Am Samstag, 22.10., hing ein großes Plakat mit derselben Aufschrift an der Fassade der Roten Flora. „Neue Runde... #Pimmelgate#pimmelgrote“ schrieb @roteflora dazu auf Twitter.
Einen Tag später übermalte die Polizei den Text mit schwarzer Farbe, wie ein Polizeisprecher bestätigte. „Er ist halt 1 Pimmel und deswegen war Soko ‚Wand und Farbe’ heute Morgen wohl im Einsatz“, konterte die Rote Flora. „Soko Wand und Farbe“ ist eine lustige Anekdote in der linken Szene, der es bis in die Satiresendung Extra Drei des NDR schaffte: Beim Versuch, die Parole „Sieg der PKK!“ 1994 an den ehemals besetzten Häusern in der St. Pauli-Hafenstraße zu übermalen, blamierte sich ein Großaufgebot der Polizei nachhaltig. „Die Berichterstattung über den übermotivierten Einsatz der Hamburger Polizei gegen Aufkleber, hat uns motiviert, einen überdimensionalen Aufkleber aufzuhängen“, so die Pressegruppe der Roten Flora zum Autor: „Wir wollten mal schauen, ob die gute alte Tradition des Stöckchenspringens bei der Hamburger Polizei noch funktioniert. Außerdem wissen wir aus der Vergangenheit, dass die Hamburger Polizei nur zu gerne an unseren Plakatwänden rummalt“. Zweimal rückte die Polizei zum Übermalen an - der am nächsten Morgen von Aktiven aus der Flora wieder erneuert worden war. Zuletzt stand noch daneben: „Flora : Bullen - 3:2“.
„Das Polizei-Leitung-Team hat ihn zum Gespött weit über die Hamburger Grenzen gemacht“, so die Aktivistin und Gewerkschafterin Beate Schwartau zum Autor: „Was für ein albernes Katz-und-Maus-Spiel, den Hamburger Polizeiapparat damit zu belasten Aufkleber und Schriftzüge zu entfernen. Wir haben in Hamburg echte kriminelle Sorgen. Für das Saubermachen der Straßen samt ihrem Zubehör bleibt da eigentlich keine Zeit. Das ist unwürdig für jede handelnde Polizist*in und auch unwürdig für einen Senator.“
Andy Grote hat bereits Übung darin, unangenehme Situationen auszusitzen: So berichtete die Lokalzeitung „Hamburger Abendblatt“ im Juli 2020, dass die Hamburger Staatsanwaltschaft gegen den Innensenator ermittelt habe, weil er in seiner früheren Funktion als Leiter des Bezirksamts Mitte mehrmals VIP-Tickets für Heimspiele des FC St. Pauli angenommen und genutzt habe. Vorgeworfen wurde ihm illegale Vorteilsnahme als Amtsträger.
Herausgekommen waren die Ticketgeschenke durch eine Razzia beim FC St. Pauli wegen Unregelmäßigkeiten in der Buchhaltung. Das NDR-Magazin „Panorama 3“ machte im Sommer 2019 öffentlich, dass sowohl Grote als Bezirksamtsleiter als auch Polizeipräsident Ralf Martin Meyer und der frühere Wirtschaftssenator Frank Horch in den Jahren 2013 bis 2016 mit VIP-Freikarten bedacht worden sein sollen. Grote seien die Tickets im Wert von rund 1.700 Euro „nicht ausschließlich zur dienstlichen Nutzung“ überlassen worden, so die Staatsanwaltschaft. Grote behauptete im August 2019 dagegen laut „Abendblatt“, dass sein Besuch von Heimspielen „jeweils in dienstlicher Funktion und auf Einladung der Vereinsführung“ erfolgt sei. Es sei um einen Austausch zu „relevanten Themen“ gegangen, etwa die bauliche Entwicklung und Nutzung des Stadions, so Grote laut „Abendblatt“. Worüber man halt so redet beim Fußball. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen ein. Aber während diese Ticketäffare in der Stadt kaum beachtet wurde, ist Andy Grote jetzt Stadtgespräch.
Die Pressegruppe der Roten Flora hat einen Rat für Andy Grote: „Du kannst den Kampf nicht gewinnen - tritt zurück!“ Sie kritisieren, dass Polizei und Innensenator mit zweierlei Maß messen. „Beachtlich, mit welchem Feuereifer die Polizei die Ehre des Innensenators verteidigte“, so die Pressegruppe der Roten Flora, „wohingegen viele Betroffene von Halte-Speech, Drohungen bis hin zu Vergewaltigung und Mord, lediglich ein müdes, polizeiliches Schulterzucken ernten“.
Tatsächlich erklärte Hamburgs Polizeiführung, den Spruch an der Flora jetzt stehen zu lassen: Der Senator würde keine weitere Anzeige erstatten. Andy Grote hat das Gegenteil erreicht: Anstatt den Pimmeltweet durch Polizei und Justiz aus der Welt zu schaffen, hat er seine Vervielfältigung und weite Verbreitung provoziert. Dies hat auch damit zu tun, dass die alternativen Subkulturen auf St. Pauli und im Schanzenviertel den Belagerungszustand und die Polizeigewalt beim G20-Gipfel 2017 nicht vergessen haben: Andy Grote ist dafür mitverantwortlich und seit 2016 Innensenator Hamburgs. Er ist auch mitverantwortlich, dass in Hamburgs Polizeiführung von dem Rechtspopulisten Ronald Schill protegierte, gegenüber linken Versammlungen hart bis an die Grenze der Rechtsbeugung agierende Männer das sagen haben. „Anstatt die uniformierten 1pimmelaufkleberabkratzer gewähren zu lassen, sollte Andy Grote endlich mit dem unsäglichen Schill-Erbe der Hamburger Polizei aufräumen“, so Niels Boeing: „Die Schillianer in den Ruhestand schicken, die Polizei komplett reformieren und eine unabhängige Polizei-Aufsichtsbehörde einrichten - darauf warte ich seit G20“.
Andy Grote trat auch gegen die nicht gesetzestreuen G20-Proteste markig auf. Selbst nach den brachialsten Einsätzen gegen G20-Proteste 2017 kam kein Wort der Kritik oder auch nur des Bedauerns über die Lippen des Innensenators - bis heute nicht. „In den letzten 30 Jahren hat sich in Hamburg gezeigt, dass nicht der Innensenator die Polizei führt, sondern die Polizei den Innensenator“, so die Pressegruppe der Roten Flora: „Darüber hinaus ist aber nicht zu vergessen, dass sein Messen mit zweierlei Maß in Bezug auf die Corona-Maßnahmen, der Ursprung dieser Posse ist“. Der Senator hat eifrig seinen Ruf ruiniert: „Das wir Hamburger gerne humoristisch auf solche Ereignisse reagieren, hätte Andy Grote als Hamburger Jung an zehn Fingern abzählen können“, so Beate Schwartau: „Im Winter wächst das Gras auch nicht so gut. Da braucht er jetzt etwas Geduld und Zuversicht“.
Ende Oktober tauchten perfekt imitierte Werbeplakate für die neue Ausgabe eines Nachrichtenmagazins „Der Pimmel“ auf. Auf dem Titel: Andy Grote. Dazu Überschriften unter der Gürtellinie. Hamburgs Innensenator wird aber wohl so schnell nicht wieder Anzeige erstatten.
Ein Tipp für Andy Grote: Nimm dir ein Beispiel an Putin - reite öfter mal mit nacktem Oberkörper auf einem Polizeipferd über St. Pauli an die Elbe. Dann redet niemand mehr über #Pimmelgate.
Gaston Kirsche