(Gegenwind 397, Oktober 2021)
Wahlboykott oder Wahlbeteiligung ist nicht die Frage. Weder jetzt nach noch vor der Wahl. Wichtiger ist, ob in linken Parlamentsfraktionen genauso wie in der außerparlamentarischen, staatsfernen Linken Aktive für die Selbstermächtigung Unterdrückter und Ausgebeuteter eintreten.
Esther Bejarano betrieb im Mai 1978 in Hamburg-Eimsbüttel eine kleine Schmuckboutique, als an einem Samstagvormittag mitten im Wahlkampf zum Hamburger Landesparlament, der Bürgerschaft, die NPD in der Nähe einen Infostand aufbaute. Umringt von Protestierenden, und einen Polizeitrupp, der den Stand der NPD davor schützte, abgeräumt zu werden. Sie erschrak und empörte sich darüber, dass wieder Nazis auf der Straße präsent sein könnten. Getragen wurde der antifaschistische Protest gegen die an diesem Tag zahlreichen Infostände der NPD von radikalen Linken, die Aktiven der kandidierenden Parteien waren mit ihrem eigenen Wahlkampf beschäftigt. Mit zwei Ausnahmen: Die DKP beteiligte sich am Protest - und vor allem die Bunte Liste, eine vom damaligen Kommunistischen Bund initiierte Wahlplattform von Initiativen. Die Kandidatur der NPD und der antifaschistische Protest waren danach Stadtgespräch, die Stadtregierung aus SPD und FDP rechtfertigte sich: Eine legale Partei hätte das Recht auf Schutz ihrer Betätigung.
Esther Bejarano, Überlebende der Shoah, begann danach, sich antifaschistisch zu Engagieren. Sie gründete das Auschwitz-Komitees in der BRD e.V. mit, war bis zu ihrem Tod dessen Vorsitzende, Ehrenpräsidentin der VVN - und sie wurde Mitglied der DKP, für die sie 2017 sogar fast noch für den Bundestag kandidiert hat. Aber Wahlkämpfe oder parlamentarische Initiativen waren nie ihr Betätigungsfeld - das war die antifaschistische Basisarbeit - sie sprach im Laufe der Jahrzehnte vor hunderten Schulklassen, sprach auf vielen Demonstrationen, Veranstaltungen. Unvergessen ihre Auftritte mit ihrer Gruppe Coincidence auf den jährlichen Veranstaltungen zur Reichspogromnacht, wenn sie „Sog nisht kejnmol as du gejst dem letstn weg“ anstimmte, später ihre Hiphop-Auftritte mit der Microphone Mafia.
Dieses Engagement ist für mich wesentlich bedeutender als die Frage, ob Esther Bejarano bei Wahlen nun für die DKP, Die Linke oder sonst wen gestimmt hat. Das Kreuz in der Wahlkabine ist ein kurzer Akt alle paar Jahre. Selbstverständlich sollten alle hierzulande Lebenden, die strafmündig sind, unabhängig von Herkunft, Besitz, Gender das Recht haben zu wählen. Aber Stimmzettel auszufüllen ist vom Engagement her eine Eintagsfliege. Und sollte nicht überhöht werden zu einer Frage von Sein oder Nichtsein linker Infrastruktur. Selbstverständlich wird im institutionalisierten parlamentarischen Raum ausgehandelt, wie legislativ und exekutiv agiert wird. Aber dies basiert in der Regel auf gesellschaftlichen Entwicklungen einerseits und dem Bedarf guter Rahmenbedingungen für die Kapitalakkumulation andererseits.
Wie reaktionär oder progressiv eine Regierung oder parlamentarische Mehrheit ist, hat selbstverständlich Auswirkungen darauf, wie die Bundesrepublik Deutschland verwaltet und regiert wird. Aber eben nicht nur. Und dies hängt beim Gros der Parteien nur zweitrangig von der Programmatik ab. Gesellschaftliche Kräfteverhältnisse und die Krisenzyklen der politischen Ökonomie sind entscheidender. So wurden etwa das erste Anwerbeabkommen mit Italien 1955 über die Aufnahme von „Gastarbeitern“ unter dem CDU-Bundeskanzler Adenauer vereinbart, während der Anwerbestopp und die ersten Debatten über die Ausweisung von „Gastarbeiterfamilien“ 1973 von der Regierung unter dem ersten antifaschistischen SPD-Bundeskanzler Brandt beschlossen wurde. Denn auch die bisher progressivste Regierung der BRD verschloss sich nicht dem Interesse des Kapitals, die mit wilden Streiks und Sozialprotesten aufbegehrenden Arbeitsmigrantinnen zu disziplinieren. Mit dem Prinzip der Grenzöffnung nach ökonomischen, nicht humanitären Kriterien brach bis auf temporäre Ausnahmen bisher keine Bundesregierung.
Auch für die Debatten über das Asylrecht gilt: Wesentlich stärker als durch die AfD wurde diese Debatte durch das deutschnationale Erwachen infolge der „Wiedervereinigung“ nach 1989 beeinflusst. Ein halbes Jahr nach der tagelangen gewalttätigen Belagerung der Zentralen Aufnahmestelle für Geflüchtete in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 wurde im Mai 1993 vom Bundestag das Asylrecht massiv eingeschränkt. Die Gegenbewegung 2015, als kurzzeitig die eigentlich weitgehend abgeschotteten Grenzen geöffnet wurden, wurde nicht von Parteien, Parlamenten, Regierungen erreicht. Es waren die gemeinschaftlich in großen Gruppen nach Europa demonstrierenden Flüchtlinge vor allem aus dem brutal regierten Syrien, welche ihre Aufnahme erzwangen. Wie 2015 kollektives Agieren von Geflüchteten in einer Wechselwirkung mit einer Uneinigkeit der EU-Regierungen darüber, wie gewalttätig bei ihrer Abwehr vorzugehen sei, einen Raum für ein Bleiberecht aufgemacht hat, ist ein spannendes Thema, dass aber nur sehr bedingt etwas mit den Wahlergebnissen in Deutschland zu tun hat.
In Westeuropa gab es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine ganze Reihe von Wahlerfolgen linker Parteien. Für die erste Welle stehen Jospin, Blair, Prodi und Schröder/Fischer. Ihre Regierungen haben massiv die Sozialstaaten zurückgebaut, staatliche Betriebe und Daseinsvorsorge privatisiert und rabiat dereguliert. Auch rechte Regierungen betrieben eine solch reaktionäre Politik, mussten dabei aber mit Gegenwehr von Gewerkschaften und Zivilgesellschaft rechnen, die gegen die sogenannten linken Regierungen aber weitgehend marginal blieb: Dass waren ja schließlich „unsere“ Regierungen, und für die Akzeptanz des Sozialabbaus mit den Hartz-Gesetzen und der Bombardierung Belgrads haben wir immerhin das Dosenpfand bekommen. Das dem Lagerdenken geschuldete Stillhalten gegenüber der reaktionären Politik der ersten rotgrünen Bundesregierung war fatal. Die gesellschaftliche Linke kann nur verlieren, wenn sie sich selbst zu duldsamen Statisten einer vermeintlich linken Regierungspolitik entmündigt. Und nicht protestiert gegen Sozialabbau und Deregulierung, wenn beides von links gelabelten Parteien exekutiert wird.
Eine radikale außerparlamentarische Linke agiert jenseits der Logik der Sachzwänge, der auf Selbstreferenzialität angelegten parlamentarischen Betriebsamkeit. Parlamentarische Linke können auch so agieren, wenn sie sich mit der Beschränktheit und den Fallstricken parlamentarischer Arbeit kritisch auseinandersetzen. Essentiell ist eine Offenheit für gesellschaftliche selbstorganisierte Politik von unten, die an emanzipatorischen und Klasseninteressen ansetzt.
Wer diesen Ausgangspunkt teilt, kann sich verständigen - auch wenn die eine im Parlament Anfragen stellt und Reden hält und die andere eine Kampagne für graswurzelrevolutionären Wahlboykott organisiert. Den die Solidarität und das gemeinsame Interesse bestimmt sich nicht über das Wahlverhalten oder die Mitgliedschaft in Wahlvereinigungen - sondern über den Versuch, Sozialabbau und reaktionäres Rollback abzuwehren und Ansätze der Selbstermächtigung zu schaffen, die über den Kapitalismus hinausweisen, die Notwendigkeit der Selbstorganisation gegen Ausbeutung und Benachteiligung, für einen radikalen Bruch mit Kapitalverwertung und Naturzerstörung aufzuzeigen zu versuchen. Und mit der deutschen Ideologie zu brechen - jenseits der deutschen Normalität, ohne positive Bezugnahme auf deutsche Nationalität, immer ausgehend von der Frage: Wie lassen sich die deutschen Zustände, die Normalität, kritisieren und unterlaufen. Klar gibt es auch die vermeintlich linke Abgeordnete, die mit reaktionärem Ressentiment gegen eine „Lifestyle-Linke“ wettert. Aber da gibt es auch die andere Abgeordnete oder Funktionärin, die mit einem Auftritt gegen Sexismus, Autoritarismus oder Antisemitismus einen wichtigen Baustein zur Negation der Verhältnisse beiträgt. Während im Gegensatz dazu das Mitglied einer sich super radikal gerierenden Antiimp-Gruppierung unter Berufung auf den autoritären Stalin völkisch gegen Israel für ein Palästina eintritt. Damit steht das Mitglied einer Antiimp-Gruppe einer Emanzipation von Kapitalverwertung und bürgerlicher Ideologie eher im Weg. Denn Staatsferne und Parlamentarismuskritik sind gut, aber eben nicht Alles. Streit darum lohnt sich.
Aber wie Rosa Luxemburg in „Sozialreform oder Revolution?“ schrieb: „Und zwar ist die jeweilige gesetzliche Verfassung bloß ein Produkt der Revolution. Während die Revolution der politische Schöpfungsakt der Klassengeschichte ist, ist die Gesetzgebung das politische Fortvegetieren der Gesellschaft. Die gesetzliche Reformarbeit hat eben in sich keine eigene, von der Revolution unabhängige Triebkraft, sie bewegt sich in jeder Geschichtsperiode nur auf der Linie und solange, als in ihr der ihr durch die letzte Umwälzung gegebene Fußtritt nachwirkt, oder, konkret gesprochen, nur im Rahmen der durch die letzte Umwälzung in die Welt gesetzten Gesellschaftsform“. Wir zehren so gesehen immer noch vom Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland, auch wenn dies keine Revolution, sondern die Aufoktroyierung einer Demokratie war. Vielleicht kommt daher auch das typisch deutsche Gegeneinander von Autoritarismus und Pluralismus, dessen Verknotung sich oft in eine vorpolitische Wurstigkeit und kopflose Aufgeregtheit auflöst. So veröden selbst die Wahlkämpfe zu PR-Kampagnen für das bessere Parteiprodukt. Da ist es mir fast egal, ob emanzipatorische Linke für eine Stimmabgabe oder Wahlboykott eintreten - Hauptsache, sie argumentieren inhaltlich und mit einer Perspektive, die hinausweist über die schwer erträglichen Verhältnisse der Knechtung, Erniedrigung und Zerstörung für den Profit und Deutschland.
Gaston Kirsche