(Gegenwind 395, August 2021)
Herbst 2016: Das Ehepaar Husam Ibrahim und seine Frau, Wasan Nashat Ahmed, kommen als Flüchtlinge nach Schleswig-Holstein. Sie haben drei Kinder mit, drei Jungen: Keram (geboren 2011), Mustafa (geboren 2012) und Mohammed (geboren 2013). Anfangs leben sie in Neumünster und Boostedt, das BAMF hört sie in Glückstadt an.
Sie berichten von ihrem Leben und den immer neuen Verfolgungen in Mossul, Irak. Dort regiert der „Islamische Staat“, und auch nach dem Sieg der iranischen Milizen bleibt die Lage angespannt und gefährlich. Sie sind bedroht, müssen plötzlich weg. Mit einem zusätzlichen Problem: Sie haben vier Kinder, aber der älteste Jungen Shahm (geboren 2009) ist zu der Zeit bei seinem Großvater, dem Vater von Husum Ibrahim. Er bleibt im Irak zurück.
Das Bundesamt lehnt den Asylantrag ab, sieht keine Verfolgung. Allerdings sieht man Lebensgefahr, der Familie wird „subsidiärer Schutz“ gewährt. Zu der Zeit leben sie schon im Norden Schleswig-Holsteins, in einem kleinen Ort zwischen Schleswig und Flensburg. Später ziehen sie nach Flensburg um.
Sie werden unterstützt von einem Freundeskreis, hier insbesondere von Jakob Clausen. Ohne ihn, so berichten beide Eltern, hätten sie hier nicht Fuß fassen können, oder sie hätten alles erst viel später geschafft. Er hilft ihnen bei Ämtern und Behörden, bei Schule und Kindergarten, bei Deutschkurs und Arbeit, bei Wohnung und Ärzten.
2018, Veranstaltung im Flensburger Rathaus. Ich informiere über Flucht und Asyl, über Aufenthaltstitel und Familienzusammenführung. Das Foyer im Rathaus ist voll, dabei sind auch Jakob Clausen und Husam Ibrahim. Hinterher fragen sie noch: Wie funktioniert es mit dem Familiennachzug?
Später kommen dann Emails. Es geht darum, wie das zurückgelassene Kind, damals 7 Jahre alt, jetzt einen Visumantrag stellen kann und wo. Der Großvater musste Mossul auch verlassen, er ist nach Erbil in Kurdistan gegangen. Dort gibt es inzwischen ein deutsches Konsulat. Ich empfehle den Visumantrag dort und warne: Bei subsidiärem Schutz gibt es von der CDU-SPD-Regierung eine „Obergrenze“ von 1.000 Visa im Monat. Entschieden wird nicht nach „Warteschlange“, sondern man muss einzeln die humanitäre Dringlichkeit über die zuständige Ausländerbehörde begründen, das Bundesverwaltungsamt bringt die Anträge dann in eine Reihenfolge.
Die Klage gegen die Entscheidung des BAMF wurde im November 2018 vom Verwaltungsgericht Schleswig abgelehnt. Eine positive Entscheidung hätte die Familienzusammenführung beschleunigen können, so bleibt es aber beim subsidiären Schutz.
So geht es mit dem E-Mails hin und her, bis schließlich Ostern 2021 eine Mail von Jakob Clausen beim Gegenwind eintrifft: Es hat geklappt, das Kind ist da, die Familie ist vollzählig.
Nachdem ich im Juni in Flensburg geparkt habe und zum Haus in der Innenstadt gehe, sehe ich die Jungs schon aus dem Fenster hängen. Insgesamt hat die Familie nun fünf Kinder: Der wiedergewonnene Sohn Shahm ist seit April in Deutschland, aber in Flensburg wurde 2018 auch die Tochter Tasnim geboren.
Wie viel Aufwand bedeutete die Familienzusammenführung? Sehr viel Aufwand. Immer wieder mussten neue Urkunden und Bestätigungen beigebracht werden. Der Großvater fuhr von Erbil nach Mossul, bekam Urkunden, musste dann nach Bagdad, um sie abstempeln zu lassen. Manchmal brauchte eine Urkunde auch zwei Stempel. Der Vater ist hier zur Botschaft nach Berlin gefahren, sieben- oder achtmal. Jedes Mal kostete alleine die Fahrt 150 Euro, und die erhaltenen Urkunden musste er hinterher übersetzen lassen, auch das waren oft 100 Euro pro Urkunde. Im Irak wurden auch einige Urkunden nur ausgestellt, weil der Großvater Geld aus Deutschland bekommen hatte, oft brauchte man „Unterstützung“, um die Urkunden zu erhalten. Es ging vor allem darum, dass die Botschaft eine Geburtsurkunde und einen Reisepass verlangte, um beides zu bekommen, waren aber etliche Bescheinigungen vorzulegen.
Im Februar 2021 flog der Vater schließlich nach Erbil, nachdem wegen der Verfolgungen, der Bruder im Irak war nach der Flucht monatelang inhaftiert worden, die Familie lange überlegt hatte, ob nicht besser die Mutter fliegt. Der Sohn hatte aber, nach jahrelangen Bemühungen um das Visum, mehrmals am Telefon gesagt, dass er es nicht mehr aushält, von den Eltern und Geschwistern getrennt zu sein.
Der Vater arbeitet in Flensburg, deshalb konnte er nicht länger als 20 Tage in Erbil bleiben. er kam also zurück - nur um zwei Wochen später die Nachricht zu erhalten, dass das Visum gegeben wird. Also flog er im März wieder hin, aber diesmal, um nach einer Woche mit seinem Sohn zurückzukehren.
Wie viel das gekostet hat? Die beiden sehen sich an. Viel Geld, sehr viel Geld. Mindestens 7.000 Euro, sagt Husam Ibrahim schließlich, habe er ausgegeben. Nein, sagt Wasan Nashat Ahmed, es waren mehr, mindestens 8.000 Euro seit 2018. Aber schließlich ging es um ihr Kind, jetzt wäre alles in Ordnung.
Die Behörden im Irak mitsamt der Botschaft in Berlin waren insgesamt schwieriger als die Ausländerbehörde in Flensburg oder das Konsulat in Erbil.
Ich frage auch Shahm, wie es ihm geht. Er ist glücklich. Er geht in eine DAZ-Klasse, sie sind nur 17 Schülerinnen und Schüler in dieser Klasse in Flensburg. Im Irak waren es in der normalen Schule mindestens 50 Kinder, genau kann er das gar nicht sagen.
Und die kleinen Brüder wären groß geworden, so groß habe er sie sich gar nicht vorgestellt. Die kleinen Brüder lachen: Vor allem wäre er viel größer geworden. Er ist ja nun schon 12 Jahre alt.
Er spricht Deutsch, gemischt mit arabischen Wörtern, die die Geschwister routiniert ins Deutsche übertragen.
Es ist alles in Ordnung, sagt die Mutter.
Reinhard Pohl