(Gegenwind 387, Dezember 2020)
Wenn über Einwanderung diskutiert wird, geht es oft darum, ob Deutschland nur ein Einwanderungsland ist oder noch nicht. Und es geht oft auch um rassistische Anschläge wie in Hanau, die auch das Ziel haben, Einwanderer abzuschrecken oder zu vertreiben. Oft geht es darum, wie viel Einwanderung wir zulassen sollten, wie viel Integration kostet, ob es Parallelgesellschaften gibt oder das droht.
Dieses Buch verfolgt einen völlig anderen Ansatz. Die Autorin, Tochter einer Familie aus der Türkei, hat mit Einwanderern gesprochen, vor allem solchen, die in Deutschland geboren oder zumindest aufgewachsen sind. Dabei sprach sie mit zwei Dutzend Einwanderern, die als Rapper, Influencerin, Integrationsbeauftragte, Musikproduzentin, Regisseur, Profiboxer, Unternehmer, Model, Schuhdesigner, Labelbetreiber und so weiter arbeiten. Es werden keine Interview abgedruckt, sondern die Aussagen der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner werden in den acht thematischen Kapiteln eingearbeitet und ausgewertet.
Zunächst geht es um das Leben zwischen den Welten, wobei die beiden Welten in der Kindheit vor allem durch die Schule, damals die klar deutsche Welt, und das Elternhaus, damals die klar ausländische Welt repräsentiert werden. Und es geht um das Leben im Ghetto, also das Fehler deutscher Nachbarn oder den fehlenden Einblick in die deutsche Gesellschaft.
Danach geht es aber um Geschichten vom Aufstieg. Viele berichten, sie hätten mehr leisten müssen als andere. Einige bekamen auch gezielt Unterstützung von Lehrerinnen oder Lehrern, auch mal vom Firmenchef bei der ersten Anstellung. Bei manchen wurde eine Begabung entdeckt, andere entdeckten selbst eine Marktlücke. Einige mussten hart arbeiten, aber einige hatten auch Glück.
In einem weiteren Kapitel geht es um den Zusammenhalt. Die Interviewten kommen aus verschiedenen Ländern, aber viele identifizieren sich selbst als Kanaken, als (ungeliebte) Ausländerin oder Ausländer. Alle nennen sich auch selbst so, denn trotz längst erfolgter Einbürgerung (zumindest bei den meisten) werden sie so behandelt und identifizieren sich selbst deshalb nicht als Deutsche. Aber, in dem nächsten Kapitel ist das der Schwerpunkt, sie sind letztlich doch Deutsch. Das merken sie spätestens, wenn sie ins Land ihrer Eltern reisen, oder wenn sie Einwanderer der ersten Generation treffen.
Das Dasein als Kanake oder Kanakin ist Thema des nächsten Kapitels. Denn viele berichten, dass ihre Gewohnheiten, ihre Rezepte, ihr Verhalten inzwischen auch von deutschen Nachbarn übernommen wurde. Es gibt Stadtviertel, in dem bestimmte Elemente aus der Gesellschaft der Einwanderer inzwischen „typisch deutsch“ geworden sind. Die meisten Deutschen bemerken es ja schon beim Essen, das sich in den letzten fünfzig Jahren verändert hat, auch weil es in vielen Städten kaum noch deutsch geführte Restaurants oder Imbisse gibt - auch wenn fast alle Inhaberinnen und Inhaber natürlich Deutsche sind, von der Staatsangehörigkeit her gesehen.
Im letzten Kapitel geht es schließlich um Heimat. Und es wird klar: Die meisten Einwanderer der zweiten Generation haben keine zweite Heimat. Nur wenige pendeln zwischen verschiedenen Ländern. Aber die große, große Mehrheit lebt in Deutschland, auch wenn die Heimat meistens Berlin oder Frankfurt oder Dortmund ist, weil Deutschland dann doch zu abstrakt ist. Das wird ganz deutlich bei einer interviewten Jüdin aus Georgien, die hier aufgewachsen ist, hier lebt und über die faschistischen Anschläge und Morde in Deutschland spricht: Wohin gehen, wenn es wieder passiert? Sie hat kein zweites Land, in das sie einfach so wechseln könnte, und plant das auch nicht. Und so geht es fast allen, die eingewandert sind.
Wer nicht nur die rein deutschen Diskussionsbeiträge zur Einwanderung lesen will, sondern auch die der Expertinnen und Experten, sollte mit diesem Buch anfangen.
Reinhard Pohl