(Gegenwind 385, Oktober 2020)


Bushaltestelle Brauner Berg: Die KVG hatte schnell das Hakenkreuz beseitigt.

Wo sind die Nazis geblieben?

10 Jahre Runder Tisch gegen Rechte Ecken in Kiel (Pries-Friedrichsort)

2020 ist der Kieler Stadtteil Pries-Friedrichsort bei Haus- und Wohnungssuchenden sehr begehrt. Nicht nur gut situierte junge Familien wollen hier wohnen, sondern auch etliche Geflüchtete von den ehemals über 1.000 BewohnerInnen der Flüchtlingsunterkunft in der ehemaligen Kaserne des MFG 5 haben hier eine Bleibe gefunden.

Das Zusammenleben scheint in friedlichen Bahnen zu verlaufen. Der Falckensteiner Strand und der Kleine Strand am Skagerrakufer bieten hervorragende Erholungsmöglichkeiten. Besonders am Kleinen Strand sind viele Sprachen zu hören, Familien breiten ihre Picknickdecken aus. Wer die Einkaufssituation früher nicht kannte, ist vermutlich mit REWE, Aldi, Lidl, aber auch einigen inhabergeführten Geschäften zufrieden.

2010 verdrehte das Gegenüber die Augen, wenn man oder frau gestand, dass man/frau hier gern wohnte. Misstrauen schlug einer/m entgegen. Bist du Nazi? Hast du keine Angst? Willst du da nicht weg?

Pries-Friedrichsort Hotspot brauner Propaganda und Gewalt

In der Nacht zum 1. Mai 2009 tauchten an jedem Laternenpfahl oder Verkehrsschild im Stadtteil Nazi-Aufkleber auf. Seit ca. 2 Jahren war dies nicht mehr zu übersehen: Aufkleber und Parolen mit NS-Propaganda wurden vermehrt beobachtet. In einigen Wohngebieten vernahmen die NachbarInnen rechtsradikale Musik. Protestierten sie dagegen, wurden sie drangsaliert, in mindestens einem Fall wurde ein türkischer Arbeiter krankenhausreif geschlagen.

MigrantInnen wurden beleidigt und bedroht. Türkische Jugendliche schritten zur Selbsthilfe. Die Polizei versuchte die Gruppen zu trennen. Das löste aber die Probleme nicht. Während es dem Jugendtreff und der Moschee gelang, dass die türkischen Jugendlichen die braune Provokation nicht mehr mit Gewalttaten beantworteten, entzogen sich die von den Rechten beeinflussten Jugendlichen immer mehr. Mit den Worten: Schule sei nicht nötig, sie würden woanders unterrichtet, lehnten sie Schulbesuch und Ausbildungsangebote ab. Grundschüler übten sich im Hakenkreuzmalen, ältere Schüler ließen sich Hakenkreuze auf die Arme tätowieren und schoren sich die Köpfe.

Der sogenannte Nationale Widerstand marschierte kurz vor den Sommerferien 2009 durch die Einkaufsstraße, verteilte Propagandamaterial gezielt an SchülerInnen, machte einen Propagandainfotisch. Beides wurde von der Polizei gut beschützt.

Alkoholexzesse an den Stränden, in Wohnungen und Kleingärten nahmen immer mehr zu. Am sogenannte „Kleinen Strand“ wurde die Hakenkreuzflagge gehisst. Ältere Rechte fuhren vor und beschäftigten sich mit den Jugendlichen. Viele FriedrichsorterInnen, insbesondere MigrantInnen, hatten Angst sich hier zu erholen. Auf Spielplätzen wurden Kinder, die sich der braunen Propaganda entzogen, massiv bedroht.

Eine Serie von Einbrüchen und Zerstörungen ängstigten Geschäftsleute und BürgerInnen. Kielweit Aufsehen erregte im Dezember 2010 die Zerstörung der Einrichtung einer kleinen türkischen Bäckerei. Sie wurde mit Hakenkreuzen beschmiert. Nachts waren Schüsse hörbar, angeblich von Jägern.

Kirche und igf (früher: Integrierte Gesamtschule, jetzt Gemeinschaftsschule mit integrierter Oberstufe) wurden besonders oft mit Propaganda attackiert.

Hinsehen - nicht wegsehen!

Unter diesem Motto stellte sich Runde Tisch gegen rechte Ecken am 14.2.2011 im Gemeindehaus über 110 ZuhörerInnen vor. Torsten Albig, der Kieler Oberbürgermeister, nahm als Schirmherr teil und eröffnete den Abend. In seinem Grußwort bekräftigte er,

Der Referent Rechtsanwalt A. Hofmann analysierte die Situation im Stadtteil. Es bestanden gezielte Absprachen und Aufgabenteilungen zwischen der NPD und den anderen rechten Organisationen. Die NPD meldete z.B. Demonstrationen an. Die Gewalttaten wurden dann von anderen verübt.

Die in Pries-Friedrichsort zu beobachtenden Parolen und Aufkleber waren vermutlich Teil einer bundesweiten Strategie. Hier wurde die Subkultur der Jugendlichen angesprochen: Besuche von Fußballspielen und Konzerten, Feiern aber auch Schutzaufgaben bei Demonstrationen im Bundesgebiet, Parolen sprühen und Schlägereien. Damit wurden die Jugendlichen der Erwachsenenwelt entzogen und eine eigene Erlebniswelt, ein positives Wir-Gefühl aufgebaut. Von Kiel aus strahlten neue Ideen ins Bundesgebiet aus. Es reichte nicht aus, wenn ein bis zwei Jugendliche ins Gefängnis gingen und/oder aufhörten. Die Szene reproduzierte sich selbst. Das hatte deutlich gegenüber früheren Jahren zugenommen. D. Zöllner, ein bekannter „Führer“, wie ihn die Jugendlichen nannten, der auch in Pries-Friedrichsort aktiv war, hatte bekundet, dass Kiel „Frontstadt“ werden müsse und „Werwolfeinheiten“ aufgebaut werden müssten.

Dagegen half nur, dass alle GegnerInnen der neuen Nazis zusammenstanden.

Was tun?

Wegschauen und hoffen, dass man selbst nicht betroffen ist? Verharmlosen und verkünden, dass Auswärtige am Werk seien, dass man nicht schlafende Hunde wecken soll? Vielleicht sei es auch eine Phase, die von allein verschwindet. Im Übrigen müsse man diese wenig gebildeten Jugendlichen nicht ernst nehmen, weil sie eine dumme Minderheit sind. Sich bloß nicht mit denen anlegen. Was sie im stillen Kämmerlein treiben, geht uns nichts an. Obwohl oben beschriebene Vorfälle viele erschreckte, hörte man diese Meinungen oft.

Zum Glück verschloss der Ortsbeirat (OBR) nicht Mund, Augen und Ohren, sondern handelte. Das Beratungsnetzwerk gegen Rechtsextremismus des Landes Schleswig-Holstein wurde zu einer OBR-Sitzung eingeladen. Der NPD-Ratsherr Gutsche erschien mit Anhang und verkündete, dass die im Stadtteil aufgetauchte Propaganda von Linken getätigt wurde, um der nationalen Bewegung zu schaden. Aus Angst vor Schneebällen, die von über den Besuch aufgebrachten Bürgern geworfen werden könnten, ließen sich die NPD-Mitglieder von der Polizei zu ihren Autos eskortieren.

Nun reichte es!

Im Frühjahr 2010 wurde der Runde Tisch gegen rechte Ecken gegründet. TeilnehmerInnen waren sowohl Einzelpersonen als auch VertreterInnen verschiedener Organisationen des Stadtteils.

Die erste öffentliche Handlung war Anfang Juli eine Reinigungsaktion. Ca. 70 Personen zogen durch Pries-Friedrichsort, ausgerüstet mit Bollerwagen, Musik, diversen Reinigungsmitteln und guter Laune, um rechte Aufkleber zu entfernen. Nazis versuchten zu fotografieren, junge Mütter aus der rechten Szene begleiteten mit Kinderwagen den Reinigungstrupp. Die Polizei schützte die Putztruppe vor möglichen Übergriffen.

Wenig später wurden der Jugendtreff, die Gesamtschule (igf) und strategisch gut sichtbare Wände mit verfassungsfeindlichen Parolen übersät. Zu diesem Zeitpunkt dauerte es noch sehr lange bis alles gesäubert wurde. Ein Polizist empfahl einer Bürgerin wegzugucken, als diese die Parolen bei der Polizei anzeigen wollte. Sie wohne doch nicht dort. Als sich der „Runde Tisch gegen rechte Ecken“ einschaltete, wurden dann schnell für die Reinigung Zuständige gefunden.

Auch bei Aldi wurde zunächst gesagt, dass Aldi kein Geld für die Reinigung der Hauswand hätte. So etwas passierte jetzt, da der „Runde Tisch gegen rechte Ecken“ allgemein bekannt war, kaum noch. Lediglich die e.i.g., eine Finanzberatung, der Miethäuser gehörten, weigerte sich trotz mehrfacher Bitte die großflächigen Parolen an ihren Mietshäusern zu entfernen.

Im November 2010 brachte der „Runde Tisch gegen rechte Ecken“ seine Erklärung heraus. Am 6. Dezember 2010 zogen viele Nikoläuse mit wärmendem Punsch durch die Geschäftsstraße. Die Aktion „Nikolaus schickt Nazis raus“ fand viel Zuspruch. PassantInnen und Geschäftsleute berichteten den Nikoläusen eigene Erlebnisse und waren froh, dass endlich etwas gegen die rechte Szene getan wurde. Die Aktion „Nikolaus schickt Nazis raus“ findet seit nunmehr 10 Jahren immer noch statt.

Während am Anfang nur wenige FriedrichsorterInnen den Mut hatten, Aufkleber abzukratzen, taten es jetzt viele, so dass die Aufkleber und Parolen keine lange Überlebenschance im Stadtteil hatten.

Aktivitäten anderer Gruppen

Im Oktober 2010 feierten die Jugendtreffs im Norden und der Mädchentreff ein Fest „Gegen die Gleichgültigkeit“. Einige Jugendliche, die mit den Rechtsradikalen sympathisierten, feierten mit. Sie tranken ihre Cola unter dem Transparent „Nazis rein, wir sagen Nein“.

Parallel zu den Aktivitäten des „Runden Tischs gegen rechte Ecken“ fand eine Diskussion um die Umbenennung der Frenssenstraße statt.

Im Mai 2010 wurde für den wegen „Wehrkraftzersetzung“ 1944 hingerichteten ehemaligen Direktor Alfred Bräuer der Friedrichsorter Rüstungsfirma Poppe vom Künstler Gunter Demnig ein Stolperstein verlegt. Der Kieler OB Albig hielt eine eindrucksvolle Rede, in der er unter anderem hervorhob, dass die damaligen Machthaber erschreckend jung waren. Abiturienten der igf (heute Gemeinschaftsschule) verfassten Flyer über Alfred Bräuer und seine Frau, die sich aus Verzweiflung das Leben genommen hatte. Die SchülerInnen schlugen vor, die Frenssenstraße in Alfred-Bräuer-Straße umzubenennen.

Der „Runde Tisch gegen rechte Ecken“ war bei der Stolpersteinverlegung zahlreich vertreten. Das prosperierende Rüstungsunternehmen Sauer u. Sohn, Nachfolger der Fa. Poppe dagegen, war trotz ausführlicher Information und Einladung nicht vertreten.

Der Kulturreferent der Stadt Kiel, Rainer Pasternak informierte bei einer Ortsbeiratssitzung die Friedrichsorter BürgerInnen über das Wirken Frenssens. Er nannte ihn einen Täter der NS-Herrschaft. Es gäbe in Kiel noch viele Straßen, mit denen Männer geehrt werden, deren Leistungen kritisch betrachtet werden müssen. Niemand von diesen sei jedoch so belastet wie Frenssen. Am 10.2.2011 informierte Propst A. Crystal, der seine Doktorarbeit über Frenssen verfasst hat, die FriedrichsorterInnen ausführlich über Frenssen (siehe „Kieler Nachrichten“ vom 19.2.2011). Fazit: Frenssen war der „Theologe“ des Faschismus. Er bezeichnete sich selbst als Wegbereiter des Nationalsozialismus und rechtfertigte die Euthanasie.

Der OBR stimmt am 10.2.2011 einstimmig für die Umbenennung, auch um ein Zeichen zu setzen, dass braunes Gedankengut in Pries-Friedrichsort keinen Platz hat. Erschreckend war, dass die meisten AnwohnerInnen der Frenssenstraße sich gegen eine Umbenennung sträubten. Sie fürchteten die Kosten, obwohl die Stadt Kiel die Verwaltungskosten, wie die Änderung der Ausweise übernahm. Andere verteidigten Frenssen mit kruden Argumenten.

Im Januar 2011 fand im Jugendtreff ein Konzert „beats against nazis“ mit ca. 200 begeisterten TeilnehmerInnen statt. Es wurde veganes Essen, Informationsmaterial, aber kein Alkohol verkauft. Im Vorfeld konnten sich viele nicht vorstellen, dass Antifas so friedlich feiern. AnwohnerInnen brachten ihre Autos in Sicherheit, verbarrikadierten sich in ihren Häusern oder quartierten sich woanders ein.

Viele Polizeifahrzeuge, zum Glück nicht sichtbar für die Konzertbesucher, warteten vergeblich auf ihren Einsatz. Eine nicht weit entfernte Hochhaussiedlung, in der einige rechte Jugendliche, die an diesem Abend von der Polizei Hausarrest erhielten, wohnten, wurde später mit den Einsatzfahrzeugen umstellt. Es wurde befürchtet, dass sie Gewalttaten gegen die KonzertbesucherInnen begehen könnten, aber auch dass Antifas ihnen einen Besuch abstatten könnten. Es kursierten Gerüchte über Gräueltaten, die aus diesem Spektrum verübt worden seien.

Noch mal: Hinsehen, nicht wegschauen

Die mutigen Pastoren hatten im Februar 2011 den Gemeindesaal für eine Veranstaltung mit mehreren prominenten Referenten zur Verfügung gestellt.

Der „Runde Tisch gegen rechte Ecken“ wurde von der Ortsbeiratsvorsitzenden und einem Vertreter von PFiFF vorgestellt. Er hat bis heute ca. 30 Mitglieder, die verschiedene Organisationen im Stadtteil oder nur sich selbst vertreten und trifft sich alle zwei Monate. Das Beratungsnetzwerk gegen Rechtsextremismus des Landes Schleswig-Holstein stellte nicht nur Informationen von anderen Initiativen und den Kontakt zu anderen Gruppen her, sondern beriet den Runden Tisch gegen rechte Ecken in vielen wichtigen Bereichen. Das Beratungsnetzwerk und der Buchladen „Zapata“ zeigten und verkauften während der Veranstaltung auf einem Büchertisch Literatur.

Andreas Speit, Journalist (taz), Autor und Experte zum Thema Rechtsextremismus, informierte über rechtsextreme Netzwerke, aktuelle Entwicklungen bei der NPD und den Freien Kameradschaften in Schleswig-Holstein und Kiel. Er stellte die Frage, wann Behörden, besonders die in Kiel, bei Straftaten mit rechtsextremem Hintergrund schneller hätten handeln können. Wann stehen junge Täter vor Gericht? Die Erfahrung zeige, dass sie sich, wenn lange Zeit keine Sanktionen erfolgen, immer weiter in der rechten Szene verankern. BeobachterInnen der Pries-Friedrichsorter Szene konnten da nur zustimmen. Der Referent zeigte auf, wie die NPD durch H. Apfel und U. Voigt ein neues Gesicht erhalten hat. „Holocaust interessiert nicht, sondern Hartz IV!“ verkündeten sie, aber auch „viel Masse, wenig Klasse“, womit sie ihre Anhänger meinten.

Die NPD war bestrebt, die Menschen dort abzuholen, wo sie sich geistig befanden. Das ist pädagogisch auf dem neuesten Stand. Die zum Teil platte Sprache sollte deshalb sehr ernst genommen werden. Die NPD erreichte mit diesen Themen die Mitte der Gesellschaft. Wer weiß denn schon, dass die Bezeichnung „Kinderschänder“ aus dieser Ecke kommt? Kennen wir nicht alle Leute, die für diese die Todesstrafe oder zum mindestens lebenslänglich fordern? „Volksrente“ statt „Altersarmut“ stand auf einem Plakat mit einer freundlich und intellektuell aussehenden älteren Dame. Wer wünscht sich das nicht? Bis zu 50 % der GewerkschafterInnen befürworteten, dass Deutsche bei der Arbeitsplatzsuche bevorzugt werden. „Wir kümmern uns“, sagte U. Pasteurs (NPD) aus Mecklenburg-Vorpommern und richtete ein Bürgerbüro für Hartz IV-Beratung ein. Von der NPD und den ihr nahestehenden Organisationen initiierte Kinder- und Dorffeste lockten die Menschen an. Eine Blaskapelle aus dem braunen Spektrum wurde regelmäßig für Feuerwehrfeste, Familienfeiern, u. ä. gebucht. Warum soll man/frau da nicht hingehen, wenn es sonst nichts gibt?

Die gewalttätige Seite der braunen Kameraden lernten diese Gutgläubigen nur selten kennen. Durch das Info-Leck im Internet erfuhren wir aber, wie die NPD-Funktionäre wirklich dachten. Sie grüßten sich mit „88“ (Heil Hitler), kritisierten, dass „Bilder die Kanaken nicht so richtig eklig rüberbringen“, und vieles mehr.

In Norddeutschland waren die braunen Gruppen eng vernetzt. Nur 200 Parteimitglieder? Das ist doch wenig. Zu bedenken ist, dass es keine Karteileichen gab und nicht wenige Mitglieder keine 25 Jahre alt waren.

Die NPD stand, auch wenn sie es leugnete, in enger Verbindung zu den Jungen Nationalisten, den Autonomen Nationalisten und den Freien Kameradschaften. Die jungen AnhängerInnen hatten Stil und Gestus der Linken übernommen. Sie wirkten dynamisch, modern und militant. Nicht nur in den östlichen Bundesländern wurden viele Straftaten mit rechtsextremem Hintergrund begangen. Schleswig-Holstein stand an 4., zeitweise an 5. Stelle in der Statistik, berichtete A. Speit.

Die Referenten klärten an diesem Abend nicht nur über die Vorfälle, sondern auch über die politischen und sozialen Hintergründe auf. Dietrich Lohse und Alexander Hofmann vom Runden Tisch gegen Rechtsextremismus und Faschismus in Kiel berichteten über die Kieler Nazi-Szene. Referent D. Lohse (Drucker, ver.di-Mitglied) warnte davor zu glauben, dass der Verfassungsschutz stets korrekt aufklärt. Während der Verfassungsschutz behauptete, es gäbe kaum Verbindungen zwischen NPD und dem Rockermilieu, schildert D. Lohse aus eigener Anschauung wie sich z. B. der damalige NPD-Vorsitzende Peter Borchert mit seinen Kumpanen im Rotlichtviertel versteckte und die Polizei sie dabei schützte.

„Wer den Nazis öffentlich Raum zur Verfügung stellt, wird auf Widerstand stoßen. Es müssen Forderungen an die Politik gestellt werden und um den richtigen Weg gestritten werden.“ Mit dieser Aussage erklärte D. Lohse, warum es immer wieder Demonstrationen (2005 in Kiel mit 8- bis 10.000 TeilnehmerInnen) aber auch sog. Ausschreitungen gegen Nazi-Aufmärsche gab. Das ist auch die Erklärung, warum die Aktivitäten der AfD heute nicht nur wachsam beobachtet werden sondern auch gegen sie demonstriert wird. Was 2011 galt, gilt auch heute.

Die neuen Nazis sprechen nicht nur die Sprache der NSDAP, sondern auch ihre Vorgehensweise unterscheidet sich nur darin, dass sie die heutige Zeit analysieren und entsprechend reagieren. Sie sind TrittbrettfahrerInnen der sozialen Frage, wenn sie sich um Hartz IV- Betroffene kümmern.

Referent A. Hofmann (Rechtsanwalt) fragte, wo kann man Nazis den Raum wegnehmen? Er berichtete über die Schließung einer Kneipe. Die Nachbarschaft hatte sich gegen ihren Betrieb gewehrt und war letztendlich erfolgreich.

Die anschließende Diskussion zeigte, dass auf vielen Ebenen Handlungsbedarf bestand. Ein erblindeter Bürger deutete an, dass er als Kind als „unwertes Leben“ fast von den Nazis ermordet wäre. Er appellierte gegen das Ausgliedern von Menschen mit Behinderungen aus der Gesellschaft.

Eine KN-Austrägerin wollte für Frau Celik, die Bäckereibesitzerin, sammeln. Potentielle Opfer sollten sich wehren lernen. Eine Mutter sagte aufgebracht, es sei genug geredet, jetzt muss endlich etwas getan werden.

Mehrfach wurde die Forderung nach „streetwork“ gestellt. Die Anwesenheit des OB ließ hoffen. Die Jugendlichen, die fest in der Szene verankert sind, werden möglicherweise nicht mehr erreicht werden können, wohl aber werde durch ein derartiges Angebot die Nachwuchsrekrutierung erschwert. Am „Kleinen Strand“ konnten nicht nur die Nazis Partys feiern! Er wurde z. B. durch eine Strandparty am 6. Mai 2011 zurückerobert.

Wie es weiterging

Die Grillparty bereitete den TeilnehmerInnen viel Freude. Es gab wider Erwarten keine Störungen. Dieses Beisammensein war der Vorläufer für das Festival am Kleinen Strand! Das Festival kann 2021, wenn nichts dazwischen kommt, sein 10jähriges Bestehen feiern. Das Festival am Kleinen Strand ist mittlerweile nicht nur in Kiel bekannt. Je nach Wetterlage hatten bis zu 3.000 BesucherInnen Spaß am letzten Sonnabend im August. Es ging um 14 Uhr los mit einheimischen KünstlerInnen auf der Bühne. Glücklich war, wer ein freies Plätzchen am Strand, im Wasser oder auf der Brücke erwischte. Es gab Kaffee und Kuchen vom Runden Tisch gegen Rechte Ecken. Hier konnten Kinder Dosen werfen. Auf den Dosen stand z.B. Faschismus, Homophobie u.a. Hier konnte auch der Einwanderungstest gemacht werden. Viele Deutsche befürchteten, dass sie ihn nicht bestehen würden. Außer Informationsmaterial konnten Kinderbücher zur Nazizeit angesehen werden. Ein Ordner und ein Banner mit Parolen und Aufklebern aus den Jahren ab 2009 bis heute erregte mache Gemüter.

Die jugendlichen Nazis von 2010 besuchten auch das Festival. Die meisten haben jetzt Kinder. Sie schlenderten wie die anderen BesucherInnen über das Geschehen. Einige sammelten eifrig Flaschen. Allerdings gab es jedes Jahr auch kleine Vorfälle, die schnell von der Polizei mit Platzverweisen beantwortet wurden. Es waren jeweils Einzeltäter aus dem Stadtteil, die vermutlich unter Alkoholeinfluss meinten sich produzieren zu müssen.

Im Lauf der Jahre sind immer mehr Stände dazu gekommen. Ab 19 Uhr wurde das Gedränge immer größer.

Lokaler Aktionsplan/Demokratie leben

Der Kulturreferent der Stadt Kiel beantragte 2011 beim Bundesprogramm „Lokaler Aktionsplan“ Geld. Es förderte Projekte gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit. Anfangs wurden nur Projekte für die drei Stadtteile nördlich des Nord-Ostsee-Kanals gefördert. Hier war die Dringlichkeit am größten. Jetzt heißt das Förderprogramm „Demokratie leben“ und fördert Projekte in allen Kieler Stadtteilen. Von Anfang an gehörte das Festival am Kleinen Strand dazu. Die Projekte waren und sind sehr unterschiedlich.

2011 fertigte die FH eine Situations- und Ressourcenanalyse der nördlichen Stadtteile Kiels an. Es wurden Akteure aus den Stadtteilen interviewt, ihre Erfahrungen in Beziehung zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse gesetzt und Ressourcen aufgezeigt. Deutlich wurde immer wieder, dass rechte Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft den Boden für rechte Gewalttaten darstellen.

Immer wieder dabei ist die Schule für Schauspiel. Besonders eindrucksvoll war ein Filmprojekt des RBZ. Ältere SchülerInnen mit und ohne Migrationshintergrund mit und ohne Aussicht auf einen höheren Schulabschluss erforschten das Leben jüdischer MitbürgerInnen. Es gab ein Kochprojekt des Jugendtreffs Holtenau, ein großes Picknick am Falckensteiner Strand, interkulturelle Begegnungen des Kulturzentrums Kaukasus, Maskenbau in der igf, eine Projektmesse in der Festung, ein Kinderbuch auf deutsch und arabisch,…. Die Liste ist sehr lang.

Sehr wichtig war das Lotsen-Projekt. Geflüchtete, die bereits deutsch konnten, begleiteten die Neuankömmlinge. Die AnwohnerInnen vom MFG 5 wurden auf die Ankunft von ca. 1.000 Geflüchteten vorbereitet.

Sportvereinigung Friedrichsort

Besonders hervorzuheben waren und sind die Aktivitäten des Sportvereins. Die ehrenamtlichen TrainerInnen sahen und sehen ihre Aufgabe nicht in erster Linie darin, Beiträge zu kassieren und ihren Einsatz dem Verein in Rechnung zu stellen. Sie haben eine enge Bindung zu den TeilnehmerInnen aufgebaut. Außer dem Training und den Wettbewerben werden Veranstaltungen organisiert, die alle Vereinsmitglieder und auch Nichtmitglieder zum Mitmachen einladen. Alle zwei Jahre findet ein großes Sport- und Spielfest statt, zu dem auch Gäste aus anderen Stadtteilen kommen. Es gibt mehrere Mannschaften von Geflüchteten. Ein „Urgestein“, „Schuffi“, wurde am 18.8.2020 mit einem KN-Artikel gewürdigt. „Mein Engagement gilt nicht dem Selbstzweck, sondern den Mannschaften. Wenn ich dabei noch Spaß habe, ist allen geholfen“, erklärte er lachend. Mit dieser Einstellung ist er nicht allein. Sie trägt den Verein. Hervorzuheben sind die Mannschaften mit Geflüchteten.

Stadtteilkonferenz

Die Stadtteilkonferenz trifft sich ca. alle 3 Monate. Dort sind alle pädagogischen Einrichtungen, aber auch die Polizei und der Sportverein vertreten. So ist ein Austausch über wichtige Anliegen des Stadtteils gewährleistet. Sie ermöglicht auch die Zusammenarbeit einzelner Institutionen. Referenten stellen ihre Arbeit z.B. in der frühkindlichen Prävention oder Altenarbeit vor. Fast alle TeilnehmerInnen beteiligen sich am o.e. Sportfest, dass stets vom Projekt „Sport gegen Gewalt“ federführend organisiert wurde. Es gibt immer noch eine Projektgruppe in der Grundschule. Früher gab es drei Gruppen (Breakdance, Basketball, offenes Angebot). Es richtet(e) sich an Kinder und Jugendliche, die aus unterschiedlichen Gründen (noch) nicht Vereinsmitglied werden woll(t)en.

PfiFF

Die Bürgerinitiative Pries-Friedrichsorter Initiative für Freunde und Förderer des Stadtteils wurde 2008 gegründet. Sie hat mit viel Schwung zur Verschönerung des Stadtteils beigetragen und Feste wie das Osterfeuer organisiert.

Stadtentwicklungskonzept, Entwicklungspotentiale der Festung Friedrichsort

Hier wurden Pläne für die Zukunft entwickelt, an denen auch die BürgerInnen des Stadtteils teilnehmen konnten.

Flüchtlingsunterkunft im ehemaligen Marine-Flieger-Geschwader 5 (MFG5) in Holtenau an der Grenze zu Pries-Friedrichsort

Bei vielen EinwohnerInnen gab es große Ängste, als die Pläne von der Ankunft der Geflüchteten bekannt wurden. Auch die Befürchtungen der PlanerInnen waren groß. Es wurden Übergriffe aus der rechten Szene erwartet. Dem wurde u.a. mit Baumaßnahmen entgegengewirkt.

Kurz nach der Ankunft gab es im Stadtteil eine große Einbruchsserie. Die Täter, die aus Albanien stammten, wurden bald gefasst. Es gibt keine Informationen über eine Häufung von Straftaten, die von Geflüchteten begangen wurden.

2014 wurde eine Bürgerinitiative WiF „Wir in Friedrichsort“ gegründet. Als die Geflüchteten eintrafen, gab es etliche BürgerInnen, die verschiedene Hilfen und Unterstützung anboten. Die Nähstube, die Fahrradwerkstatt, der Deutschunterricht und das Kunstprojekt mit Kindern bestehen heute noch.

Die Kleiderkammer wurde mangels Nachfrage aufgelöst. Missverständnisse gab es auch: die Geflüchteten wollten für ihren Einsatz bezahlt werden. Sie glaubten nicht, dass die Deutschen ehrenamtlich ohne Bezahlung tätig sind.

Zu wünschen wäre ein besseres Miteinander. Das Festival am Strand und andere Feste wurden von den Geflüchteten nur spärlich besucht. Trotzdem freuen wir uns, dass die schlimmen Befürchtungen nicht eingetreten sind.

Die Schulen - bis auf die Lernwerft - haben DaZ (Deutsch als Zweitsprache)-Klassen eingerichtet. Einige Mittelschichtseltern haben Angst, dass ihre Sprösslinge nicht genug lernen, wenn Geflüchtete in den Klassen sind. Sie melden sie in der Lernwerft, in der es weder Geflüchtete noch Kinder mit Förderbedarf gibt, an.

I-Punkt Friedrichs

Seit einigen Jahren bietet das DRK in seinen Räumen Beratung für Migranten und Deutsche, Deutschunterricht und Veranstaltungen für den Stadtteil an.

Kirchen und Moschee

Die religiösen Einrichtungen boten jährlich mehrere Veranstaltungen für die Öffentlichkeit an.

Kritik

Es gab auch ablehnende Stimmen von Polizisten und anderen Akteuren im Stadtteil: „Die Aktivitäten des Runden Tischs gegen Rechte Ecken bewirken,

„Wundert euch nicht, wenn die Rechten eure Autos kaputt machen oder Aufkleber an euren Gartenzaun machen.“ Ein Autohaus lehnte es ab, Plakate für das Festival am Strand aufzuhängen, weil es Kunden verschrecken könnte.

Was tun, wenn ein Hakenkreuz stört?

Nach 2012 gab es ab und zu Parolen, Aufkleber und kleine und riesige ca. ein Meter große Hakenkreuze zu sehen. Polizisten warnten davor, Parolen oder Hakenkreuze eigenhändig weg zu machen. Das sei Sachbeschädigung. Für mich könnte es Pensionskürzung bedeuten. Die Sachbeschädigung könnte eintreten, wenn ein nicht fachgerechtes Mittel zur Reinigung benutzt wird.

Folgender Weg ist richtig, wenn eine Parole, ein Hakenkreuz o.ä. entdeckt wird:

Leider hat dies nicht immer zeitnah (2 bis 4 Wochen) geklappt. Nachdem ich eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Unbekannt gestellt hatte, gibt es nichts mehr zu beanstanden.

Fazit

Jetzt im August 2020 scheint alles ruhig zu sein. Da viele von den jugendlichen Nazis von 2010 nach wie vor im Stadtteil wohnen, sich ihre soziale Lage nicht verbessert hat und ihre grundsätzlichen Einstellungen nicht verändert haben, können sie und ihr zahlreicher Nachwuchs vermutlich reaktiviert werden. Die Führerpersönlichkeiten von damals haben den Stadtteil verlassen. Erscheinen ähnliche Charaktere mit Geld, Alkohol und guten Worten, lässt sich nicht vorhersehen, ob ihre Bemühungen Erfolg haben könnten.

Die sogenannte Mitte ist wie überall nach rechts gerutscht. Die AfD ist im Ortsbeirat vertreten. Ressourcen, wie sie in der Situationsanalyse beschrieben wurden, sind vorhanden. Zum Teil mangelt es aber an finanzieller Unterstützung.

Marlies Rathje

Vorgeschichte

Ab 1945:

Nach 2000 nahm die Arbeitslosigkeit im Stadtteil zu. Die Firmen engagierten sich kaum mehr für den Stadtteil. Soziale Einrichtungen wurden geschlossen. 3 Schulen wurden geschlossen. Aus der Integrierten Gesamtschule(igf) wurde eine Gemeinschaftsschule mit integrierter Oberstufe. Das bedeutete Umstrukturierung, im Klartext: Abbau sozialer Angebote. Die neue Schule, die Lernwerft, engagiert sich nicht im Stadtteil. Geschäfte schlossen, junge gut ausgebildete Menschen fanden keine Arbeit in Pries-Friedrichsort. Folge: die soziale Schere klaffte weiter auseinander. Die braune Propaganda fand einen idealen Nährboden.

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