(Gegenwind 378, März 2020)
1931 erschien in der Kulturzeitschrift „Sport im Bild“ (die sich nicht nur mit Leibesübungen beschäftigte) ein Artikel mit der Überschrift „Eine Frau photographierte“ von Artur Gläser. Er war dem Andenken der britischen Fotografin Julia Margaret Cameron (1814-1879) gewidmet und beginnt mit den Worten:
„Ich kann euch nicht sagen, Freunde, wie sie aussah: ich kenne kein Bild von ihr. Sie hat uns das Antlitz vieler Menschen in geistvollen Umschreibungen überliefert - sind ihre eigenen Züge niemals überliefert worden? Auch weiß ich von ihrem Leben so gut wie nichts. Denn was geben die spärlichen Auszüge aus Berichte, die ich zusammengetragen fand? Die Bedeutenden gehen heute rasch und unbemerkt dahin. Es ist mühsam, sie wieder zu erwecken.“
Fast achtzig Jahre später finden sich bei Wikipedia recht ausführliche biographische Informationen über Julia Margaret Cameron, auch ein Foto von ihr selbst. Das lässt hoffen für eine Berufskollegin, die 1931 auf dem Zenit ihres Schaffens stand und über die heute fast mit denselben Worten geschrieben wird, die damals Gläser benutzte.
„Was bleibt, wenn nichts bleibt“ betitelte Sabine Krusen (Brunnhilde e.V.) vor einigen Jahren einen Vortrag in der Berliner Inselgalerie über Charlotte Joël und brachte damit das Problem zugespitzt auf den Punkt. „Nichts“ ist natürlich untertrieben, denn dann hätte es keinen Vortrag geben können. Geschweige denn ein Buch.
Doch dem Ende 2019 im Göttinger Wallstein Verlag erschienenen Band über Charlotte Joël ist ein biographischer Essay vorangestellt, dessen Verfasser, Werner Kohlert, klagt: „Das Leben dieser Frau aus Fundstücken fügen. Aber alles bleibt Torso. (...) Auch ihre äußere Gestalt bleibt im Dunkeln (...), denn es gibt kein Bild von ihr.“
Sie wäre, meint er, vergessen worden, „wäre da nicht ihr Werk“. Charlotte Joël ist in erster Linie bekannt durch ihre Porträts von Karl Kraus und Walter Benjamin. Ohne die Prominenz dieser beiden Männer wäre auch „ihr Werk“ vergessen.
Über ihr Leben konnte bisher nur wenig ermittelt werden. Charlotte Joël kam am 13. September 1887 in Charlottenburg, das damals noch nicht zu Berlin gehörte, in einer jüdischen Familie zur Welt. Ihr Vater Georg war Bankkaufmann bzw. Bank-Kommissionär, er starb nach einem unsteten Leben schon im Jahre 1900 in Halle/Saale durch Selbstmord. Sein Tod warf den ersten großen Schatten auf das Leben der damals 12jährigen Charlotte.
Ihre Mutter Gertrud begann danach als Apothekenhelferin ihres Bruders, des namhaften Berliner Urologen Dr. Carl Posner, zu arbeiten und war später als „wissenschaftliche Hilfsarbeiterin“ beim Städtischen Medizinalamt Berlin angestellt. Posner war nicht nur ein international agierender Wissenschaftler von Rang, sondern auch musisch höchst interessiert, ein Freund Rudolf Virchows und ein begabter Autor, der u.a. mit Theodor Fontane und Lovis Corinth Umgang pflegte. Er hatte sich vom jüdischen Glauben abgewandt und sich evangelisch taufen lassen.
Lotte, wie sie von ihrer Familie genannt wurde, wuchs also in einem kulturell anregenden Milieu auf, vermutlich in Kontakt zu ihrem älteren Cousin Hans Ludwig, der ebenfalls Arzt wurde, und zu ihrer Cousine Helene.
Am nächsten stand ihr jedoch ihr sechs Jahre jüngerer Bruder Ernst. Hochintelligent, idealistisch gesinnt und sozial engagiert, trat er bereits während seines Medizinstudiums in Berlin als Leiter der Freien Studentenschaft und als Funktionär der fortschrittlichen Jugendbewegung hervor. 1915 gab er die politische Zeitschrift „Der Aufbruch“, die vorsichtig gegen den Krieg agitierte, heraus. Er wurde daraufhin unter einem Vorwand relegiert, und die Zeitschrift wurde von der Militärbehörde verboten. Joël hatte sich während seines Studiums mit dem angehenden Arzt Fritz Fränkel - einem späteren Mitbegründer der KPD -, mit Gustav Landauer, Kurt Hiller, Max Hodann und anderen Sozialisten befreundet. Auch den Dichter Alfred Wolfenstein und den späteren Philosophen Walter Benjamin hatte er kennengelernt. Nach seinem erzwungenen Wechsel an die Universität Heidelberg erweiterte sich sein Freundeskreis u.a. um den Religionsphilosophen Martin Buber, den er besonders verehrte, und der ihn „das edelste Gesicht der deutschen Jugendbewegung“ nannte.
Charlotte Joël erlernte vermutlich an der 1890 gegründeten Photographischen Lehranstalt des Berliner Lette-Vereins den Beruf einer Fotografin. Als sie 1916 zusammen mit ihrer Kollegin Marie Heinzelmann in Charlottenburg, in der Nähe vom Bahnhof Zoo, ihr „Atelier für moderne Photographie“ einrichtete, war sie bereits 29 Jahre alt.
Ihr Bruder war ihr behilflich, indem er ihr seine Freunde ins Fotostudio schickte. Ihr erstes bekanntes Porträt zeigt Gustav Landauer und stammt vom August 1916. Danach fotografierte sie u.a. Martin Buber, die Dichterin Hedwig Lachmann - Landauers zweite Frau - und Fritz Fränkel.
Wohl mehr zufällig geriet 1918 die blutjunge Marlene Dietrich in ihr Atelier, die gerade die Schule beendet hatte und noch brav, ungeschminkt, aber mit einer riesigen Propellerschleife im Haar vor der Kamera saß.
Nach dem Ersten Weltkrieg gelangen der Fotografin feinfühlig-impressionistische Aufnahmen der Musikerinnen Ursula Hildebrand und Ilse Fromm-Michaels. Mehrmals posierten die Ballettmeisterin Mary Zimmermann von der Deutschen Oper Berlin und der Stummfilmstar Erich Kaiser-Titz, der u.a. 1918 in der Hauptrolle eines Films über Ferdinand Lassalle auftrat.
Zu einem besonderen Besucher ihres Ateliers, bald einem Dauergast, wurde ab 1921 der österreichische Schriftsteller Karl Kraus. Es ist unbekannt, wer diesen Kontakt vermittelt hat. Bis 1930 kam er regelmäßig, fast jedes Jahr, da er insgesamt mehr als hundert Lesungen in Berlin absolvierte. In dieser Zeit war sie seine bevorzugte Porträtistin. Sein Bild in der Öffentlichkeit ist bis heute von ihren Aufnahmen geprägt.
Ernst Joël war inzwischen ein engagierter und angesehener Arzt in Berlin, als Stadt-Oberschularzt auch für die Betreuung von Kindern und Jugendlichen zuständig. Er hatte die erste Fürsorgestelle für Alkohol- und Suchtkranke gegründet und war 1925 an der Gründung des Gesundheitshauses Kreuzberg beteiligt. Er führte einen leidenschaftlichen Kampf gegen den Alkoholismus und verfasste u.a. mit Fränkel mehrere Publikationen zum Thema Rauschgiftsucht. Zuletzt bereitete er noch die Aufklärungsausstellung „Gesunde Nerven“ vor, die im Oktober 1929 in Kreuzberg eröffnet wurde, was er jedoch nicht mehr erlebte. Die Ursache seines plötzlichen Todes ist bisher ungeklärt. Angeblich ist er medizinischen Selbstversuchen mit Drogen erlegen, die er zusammen mit Fritz Fränkel und Walter Benjamin unternahm. Es kann sich aber auch um einen Herzinfarkt oder sogar um Selbstmord gehandelt haben.
Charlotte Joël war in seiner Ausstellung mit zwanzig Kinderfotos auf der Schautafel „Säugling und Kleinkind“ vertreten. Sein Tod traf sie bis ins Mark.
An Martin Buber, der ihrer Mutter einen Beileidsbrief gesandt hatte, und den sie wenig später bei einem Vortrag wiedersah, schrieb sie verzweifelt: „Wo? Herr Buber - habe ich ihn jetzt zu suchen? In mir selbst, könnte eine Antwort sein. Ja, da war er stets. Aber wo, wo noch? Wo wird er sein, wenn auch ich gestorben bin?“
Sie machte sich bittere Vorwürfe, ihren Bruder nicht von seinen Drogenexperimenten abgehalten zu haben. Es ist einer von nur zwei bisher bekannten Briefen, die etwas über ihr Wesen und ihre Gefühle aussagen. Er macht deutlich, wie sehr sie - eine Anhängerin Schopenhauers - mit dem Verhängnis des Todes, vielleicht auch mit einem gewissen Fatalismus rang.
In den 1920er Jahren hatte sich Charlotte Joël einen festen Platz unter den Berliner Fotograf(inn)en erobert, ihre Bilder erschienen in Zeitungen und Zeitschriften sowie in Kalendern.
Für das „Jüdische Jahrbuch von Groß-Berlin“ (1926) fotografierte sie den Rabbiner Ismar Freund, Mitbegründer des Preussischen Landesverbands jüdischer Gemeinden, und Leo Wolff, den damaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Berlin. Solche Aufträge sprechen dafür, dass sie sich der jüdischen Gemeinde verpflichtet fühlte, obwohl ihre Mutter und ihr Bruder - vielleicht auch sie selbst - evangelisch getauft worden waren. (Vor ihrem Tod bezeichnete sie ihre Konfession als „jüdisch“.)
Auch einer der damals führenden Pariser Couturiers, Paul Poiret, fand sich in den 1920er Jahren bei ihr ein. Sein in ihrem Atelier entstandenes Porträt erschien 1926 in der Zeitschrift „Der Querschnitt“ von Paul Westheim. Es fehlt leider in der vorliegenden Publikation ebenso wie ihre Aufnahmen Freunds und Wolffs oder wie die des 1922 verstorbenen Lyrikers Paul Kraft, der Hamburger Pianistin und Komponistin Ilse Fromm-Michaels und der Soubrette Trude Troll, die 1918 in einer Hauptrolle in Ernst Lubitschs Stummfilmkomödie „Meyer aus Berlin“ hervortrat.
Ende der 20er Jahre porträtierte Charlotte Joël mehrmals Walter Benjamin und seine Schwester Dora sowie Theodor W. Adornos spätere Frau Gretel. Außerdem machte sie sich einen Namen mit liebevollen Kinderbildern; sie fotografierte auch Berliner „Exotenkinder“, wie es damals hieß, etwa Tochter und Sohn eines hochrangigen japanischen Diplomaten, kleine Inder und halbwüchsige Araber. Etliche ihrer Motive wurden als Ansichtskarten vervielfältigt.
Dabei verzichtete die Künstlerin beinahe auf jede Raffinesse, „auf jegliche Originalität durch extreme Perspektiven oder Verzerrungen (...) Ungewöhnliche Bildausschnitte, Retuschen oder ein dominantes Spiel von Licht und Schatten sind ihr fremde gestalterische Mittel“. (W. Kohlert) Gewöhnlich setzte oder stellte sie ihre Modelle vor einen gleichmäßig dunklen oder hellen Hintergrund, vor dem matten Faltenwurf eines Vorhangs. Zudem scheint sie sich auffällige Posen und Mienen, jedes Gestikulieren und Kokettieren verbeten zu haben. Es ist erstaunlich, dass sich überhaupt Schauspieler bei ihr einfanden, denn im Vergleich zu anderen Fotostudios dieser Zeit gab es bei ihr keinerlei Effekte, keine Dekoration, keine Lichtreflexe im Haar. Wer auffällige Publicity wünschte, musste ihr Atelier meiden. Wer sich dramatisch, modisch, erotisch, neckisch oder „interessant“ dargestellt sehen wollte, musste anderswohin gehen.
Sie zeigte den Menschen bürgerlich, möglichst schlicht, reduziert auf seine charakterliche oder seelische Substanz, soweit sie sich erschließen ließ. Und mit ihrer eingangs erwähnten Kollegin Cameron könnte sie gemeinsam gehabt haben, dass sie langsam und wortkarg arbeitete, womöglich die Geduld ihrer Kunden strapazierte einige Gesichter zeigen Anzeichen von Ermüdung, Ratlosigkeit oder Resignation. Sie schien den Blickkontakt zu meiden, nahm gern Profile auf.
Karl Kraus bildete eine Ausnahme; er flirtete ganz offen mit der Kamera - oder mit der Frau dahinter?
Wie gut sie zugleich die modernen Gestaltungsmittel beherrschte, zeigt ihr expressives Porträt des Schauspielers Bernhard Minetti. Er lehnt lässig an der Wand, genau zwischen einer hellen und einer dunklen Fläche; dieser Kontrast wiederholt sich zwischen weißem Hemd und schwarzem Anzug, und die Rhomben des schwarzweiß gefliesten Fußbodens kehren optisch in den Dreiecken vom dunklen Schlipsansatz, im angewinkelten Arm und im Winkel des weißen Einstecktuchs wieder.
Eindrucksvoll wird so die Ambivalenz und die Ambition des jungen Mimen bezeichnet, der in Kiel unter Carl Zuckmayer erste Erfahrungen mit avantgardistischem und politischem Theater gemacht (vgl. Gegenwind 376 vom Januar 2020) und seine gutbürgerliche Familie damit schockiert hatte. Hals über Kopf hatte er sich dann auch noch verliebt, hatte geheiratet, war Vater geworden - und brach gerade zu neuen Ufern auf.
Der Fotografin war ein hellsichtiges Psychogramm gelungen!
Bernhard Minetti wurde 1905 in Kiel als Sohn des Architekten und späteren Stadtbaurats Henry Minetti (mit italienischen und schwedischen Vorfahren) geboren. Er besuchte das Gymnasium in Kiel und machte 1923 sein Abitur. Sein Sohn Hans-Peter Minetti, später einer der größten DEFA-Stars (u.a. in den Thälmann-Filmen), schreibt in seinen Erinnerungen über ihn:„Schon als Pennäler hatte er sich entschlossen, Schauspieler zu werden. Das Theater und die Literatur hatten seine Phantasie entfesselt, er spielte in Schüleraufführungen, las alle Theaterkritiken, besuchte das Kieler Stadttheater (hatte einen festen Stehplatz im Rang für 40 Pfennige) und durfte schließlich sogar als Statist mitwirken. So lernte er Gustav Gründgens und Ernst Busch kennen, Hans Söhnker und andere junge Schauspieler in Gründgens´ Gefolge.“
„Die Mitteilung meines Vaters an seine Eltern, er wolle zum Theater, soll diese wie ein Schock getroffen haben. Immerhin war eine Tante meines Vaters, also die Schwester meines Großvaters, von heute auf morgen aus dem Familienalbum gestrichen worden, als es sie zu einem Zirkus hingezogen hatte. Fortan galt sie als ‚verschollen’. (...) Nein, die Familie Minetti war gutbürgerlich und deutsch-national gesinnt.“Bernhard Minetti erklärte sich daraufhin bereit, erst einmal seriös Germanistik zu studieren. Zu diesem Zweck ging er nach München, wo er jedoch eine Bekannte, die Tochter des Kieler Verlegers Gerbrandt („Kieler Neueste Nachrichten“) wiedertraf. Beide verliebten sich stürmisch ineinander und Anne Gerbrandt wurde schwanger. Diese „neueste Nachricht“ traf den Kieler Verleger sehr schmerzhaft, und nur widerwillig und gezwungenermaßen wurde die Entscheidung getroffen, dass die beiden jungen Leute so schnell wie möglich heiraten müssten.
Das geschah im September 1925. „Im April 1926 erblickte ich in Berlin das Licht der Welt“, so Hans-Peter Minetti. „Die Geburt erfolgte in einem Krankenhaus in Charlottenburg (...) Mein Vater war zur Zeit meiner Geburt noch Schauspielschüler!“ Bernhard Minetti hatte also durch einen „doppelten Skandal“ doch noch seinen Berufswunsch durchsetzen können.
Er zog noch vor der Geburt des Kindes nach Berlin, weil dort Leopold Jeßner, der Leiter des Preußischen Staatstheaters, eine Schauspielschule gegründet hatte. „Mein Vater wusste zu überzeugen, und Jeßner nahm ihn auf und wurde ihm zu einem beispielhaften väterlichen Freund.“
Für die Spielzeit 1927/28 wurde Bernhard Minetti erstmals als Schauspieler engagiert, und zwar zunächst an das Theater der thüringischen Kleinstadt Gera, 1928 nach Darmstadt. Das Foto, das Charlotte Joel von ihm aufnahm, könnte also 1926/27 entstanden sein.
Die politischen Neigungen Bernhard Minettis waren links-anarchistisch, seinem Sohn erzählte er später, er habe für die KAPD (Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands) rezitiert. Selbst trat er keiner Partei bei. Er war mit kommunistischen Kollegen wie dem 1933 von den Nazis ermordeten Schauspieler Hans Otto, mit Wolfgang Heinz und mit dem Schriftsteller Adam Kuckhoff befreundet, der im Dezember 1942 wegen seiner Tätigkeit für die „Rote Kapelle“ hingerichtet wurde. „Aber für politische Ziele konnten sie meinen Vater nicht gewinnen.“
Doch Bernhard Minetti bewahrte während der NS-Zeit verbotene Literatur auf, darunter Werke von Brecht, Feuchtwanger und sowjetischen Autoren. Als sein Sohn diese Bücher entdeckte, erlaubte er ihm, sie zu lesen. Später sagte er im Scherz, er habe seinen Sohn marxistisch infiltriert.
Cristina Fischer
Quellen: Hans-Peter Minetti: Erinnerungen. Ullstein Verlag Berlin 1997, S. 22 ff.
Zur Teilnahme Minettis an einer avantgardistischen Theatergruppe in Kiel unter Carl Zuckmayer 1922 vergleiche Günther Stamer: „Wir Revolutionäre des Geistes...“ Kieler Künstler und der Geist der Novemberrevolution. In: Gegenwind 376, Januar 2020, S. 56 ff.
Vermutlich war der Tod ihres Bruders für Charlotte Joël die schärfste Zäsur in ihrem Leben. Im Folgejahr, 1930, stellte sich Karl Kraus ein letztes Mal vor ihre Kamera. Es ist nicht auszuschließen, dass es die Künstlerin war, die diesen „Bruch“ der Arbeitsbeziehung herbeiführte.
1933 besiegelte dann Hitlers Machtübernahme das Ende ihres beruflichen Höhenflugs.
Fritz Fränkel war von den Nazis verhaftet und misshandelt worden, er emigrierte bereits im März in die Schweiz und dann nach Paris, wo ihn Charlotte Joël noch besuchte. Er drängte sie zu bleiben, „aber sie wollte sich nicht von ihrem Atelier trennen und ihrer Geschäftspartnerin und kehrte wieder nach Berlin zurück“, wie Hilde McLean, Fränkels damalige Frau, später mitteilte.
Im Mai 1934 schrieb Charlotte Joël an Karl Kraus: „Berlin ist völlig leer für mich. Diejenigen Menschen, die mir nach dem Tod meines Bruders überhaupt noch etwas galten, sind auch nicht mehr hier. Ich selber habe mein Atelier noch weiter, es geht ganz leidlich u. ich hoffe, dass ich es halten kann, denn ein neues Leben irgendwo anders aufzubauen, wie so viele meiner Bekannten, hätte ich nicht viel Lust mehr u. nicht den Elan. So mache ich meine tägliche Arbeit u. lebe übrigens an der Zeit vorbei, fast nicht einmal an ihr leidend, denn mein Zeiger ist zurückgewendet.“
„Völlig leer“ kann Berlin für sie allerdings nicht gewesen sein, denn in den Jahren von 1933 bis 1937 entstanden u.a. mehrere einfühlsame Porträts von Hilde und Georg Benjamin und von ihrem neugeborenen Sohn Michael. Der kommunistische Arzt Georg Benjamin, Bruder von Walter und Dora Benjamin, war 1933 in „Schutzhaft“ genommen worden und wurde 1936 erneut verhaftet, da er sich am Widerstand der KPD beteiligt hatte. Seine Frau schickte ihm die Fotos des Kindes in die Haft.
Charlotte Joël fotografierte 1937 auch „Mischa“ Benjamins Freund Werner Wüste, den späteren DEFA- Dokumentarfilmregisseur, der sich heute noch vage an die Künstlerin erinnern kann. Sein Vater, Ernst Wüste, war damals ebenfalls wegen seines Widerstands als Kommunist im Zuchthaus.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich Charlotte Joël mit diesen beruflichen und menschlichen Beziehungen politisch positionierte, und dass sie solidarisch zu den Menschen stand, die ihr als Freunde und Genossen ihres Bruders teuer waren.
Als einen Akte der Subversion, ja des stillen Widerstands muss man es auch werten, dass sie 1934 oder später eine Postkarte mit dem Foto des kleinen „Mischa“ Benjamin in Umlauf bringen ließ - eines Kommunistensohns, der nach damaligen Begriffen zudem als „Halbjude“ galt. Wäre das entdeckt worden, hätte sie große Schwierigkeiten bekommen können.
Noch bis 1938 scheint die Zusammenarbeit der beiden Fotografinnen im Atelier in der Hardenbergstraße gedauert zu haben, doch spätestens das Novemberpogrom, die sogenannte Reichskristallnacht, machte ihr ein Ende. Marie Heinzelmann zog nach Halensee, wo sie nun allein ein Fotoatelier eröffnete. Charlotte Joël fand Aufnahme bei ihrer zehn Jahre älteren Freundin Clara Grunwald, einer 1933 aus dem Schuldienst entlassenen Montessori-Pädagogin, die in der Cuxhavener Straße im Hansaviertel wohnte.
Im November 1941 ließen sich beide auf dem Landwerk Neuendorf im Sande nieder, in der Nähe der brandenburgischen Kleinstadt Fürstenwalde. Das Lager wurde von dem mit Clara Grunwald eng befreundeten Ehepaar Martin und Bertel Gerson geleitet, in ihm waren früher Juden auf ihre Auswanderung vorbereitet worden. Nun lebten dort bis zu zweihundert Menschen in Holzbaracken und leisteten Zwangsarbeit. Unter ihnen auch die 17jährige Esther Bejarano, heute als Sängerin und prominente Antifaschistin bekannt.
Charlotte Joël war als „Hausgehilfin ohne Gehalt“ im Lager angestellt und plagte sich täglich bis zu dreizehn Stunden in der Küche. Nebenbei fotografierte sie ihre Freundinnen; so entstanden zum Beispiel sechzehn Porträtstudien der Bibliothekarin und Künstlerin Clotilde von Schenck zu Schweinsberg, deren lebhafte Mimik und Gestik sie fasziniert haben muss.
Bereits Anfang April 1942 wurden über sechzig meist ältere Juden aus dem Lager deportiert. Sie waren fast alle „so würdig und gefasst, dass einem dabei das Herz noch schwerer wurde“, schrieb Clara Grunwald an eine Freundin, die Anklamer Quäkerin Margarete Lachmund. Ergreifende Szenen hatten sich zuvor abgespielt - zwei Paare hatten geheiratet, um zusammen fortgebracht zu werden, eine alte Dame hatte darum gekämpft, dass ihre Kinder sie begleiteten. Junge Frauen, die tagsüber in der Fabrik arbeiteten, opferten ihren Schlaf, um nachts für die Abreisenden noch die Wäsche zu waschen.
„Du kannst Dir von der Totenstille, die heute herrscht, keine Vorstellung machen“, fügte Clara hinzu, „alle Menschen sind hier, aber du hörst kaum ein Wort.“
Die Porträts, die Charlotte Joël von Clara Grunwald und von der Familie Gerson anfertigte, auch von deren beiden Kindern Ruth und Miriam, sind ausdrucksvolle letzte Andenken. So wie auch andere Fotos im Buch auf ergreifende Weise an Ermordete erinnern.
Noch ein ganzes Jahr blieben die beiden Frauen im Lager. Anfang März 1943 berichtete Clotilde Schenck: „Es war große Packerei, heute oder morgen findet die Abreise statt. Charlottchen war sehr blass und mitgenommen, Clara sah eigentlich gut aus (...).“
Clara Grunwald hatte darauf bestanden mitzufahren, da ihre Freundin fest entschlossen war, sich sonst das Leben zu nehmen.
Die „Abreise“, die Deportation über Berlin nach Auschwitz, kam erst im April zustande. Anfang des Monats war noch die Habe der Fotografin bürokratisch-listenmäßig erfasst und vom Staat als „volks- und staatsfeindliches Vermögen“ eingezogen worden. „Beider Haltung während des Umzugs hat allgemeine Bewunderung erregt“, schrieb Clotilde Schenck. Weder von Charlotte Joël noch von Clara Grunwald hat es danach ein Lebenszeichen gegeben.
Nach Auschwitz deportierte Ältere, Kranke und Kinder wurden sofort für die Vergasung selektiert.
Vom damaligen Transport der Neuendorfer haben nur einige Jüngere, wie Esther Bejarano und ihre Freunde, überlebt.
Erst in den 80er Jahren begann die Suche nach Informationen über die Fotografin, so von seiten des Antikriegsmuseums, einer oppositionellen kirchlichen Gruppe der DDR in Berlin, die Ausstellungen organisierte, und die Kontakt zu Clotilde Schenck knüpfen konnte, von der sie Fotos erhielt.
Eine erste Einzelausstellung kam durch Sabine Krusen zustande, die im Jahr 2000 eine kleine Sammlung von Bildern Charlotte Joëls im Heimatmuseum Berlin-Wedding zeigen konnte.
Friedrich Pfäfflin, ehemaliger Leiter der Museumsabteilung des Schiller-Nationalmuseums in Marbach a.N., war wiederum durch seine Beschäftigung mit Karl Kraus auf die Fotografin aufmerksam geworden. Erst durch Forschungen Dritter über Fritz Fränkel, Ernst Joël und Clara Grunwald (siehe Literaturangaben) sowie mit Hilfe von Sabine Krusen, Werner Wüste und Ursula Benjamin kam allmählich genug Substanz für eine eigenständige Publikation zusammen. Aufgrund von Arbeitsüberlastung - so edierte Pfäfflin in den 2000er Jahren mehrere Bände mit Briefen und Schriften von Karl Kraus - und aus gesundheitlichen Gründen waren seinen Recherchen jedoch Grenzen gesetzt, und letztlich überließ er den biographischen Teil einem Freund, dem früher bei der DEFA tätigen Kameramann und Regisseur Werner Kohlert.
Der Bildband enthält mehr als 200 Fotografien, die aus verschiedenen Archiven und privaten Sammlungen mühsam zusammengetragen wurden, darunter dem Deutschen Literaturarchiv Marbach, dem Archiv des Antikriegsmuseums (Friedensbibliothek) Berlin, dem Jüdischen Museum Berlin, der Wienbibliothek und dem Leo Baeck Institute New York. Auf diese Weise sind 28 mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten, die Charlotte Joël vor ihre Kamera bekam, erfasst worden. Es hätten jedoch, wie schon weiter oben erwähnt, etliche mehr sein können, die das Bild, das wir nun von der Künstlerin haben, bereichert hätten.
Leider weist vor allem der biographische Essay einige Ungereimtheiten und Fehler auf. Der von Pfäfflin hergestellten Katalogteil und dokumentarische Anhang, obwohl ungemein detailliert, ist nicht in jedem Punkt korrekt und nachvollziehbar. Vier dort genannte Fotomotive von Charlotte Joël fehlen übrigens ohne Begründung im ansonsten auf weitgehende Vollständigkeit orientierten Bildteil. (Zwei weitere standen, wie der Herausgeber im nachhinein mitteilte, nicht zur Verfügung).
Im Walter-Benjamin-Archiv der Akademie der Künste Berlin werden außerdem sechs Fotos von Benjamins Freundin, der lettischen Schauspielerin Asja Lacis aufbewahrt - und, obwohl nicht signiert, ebenfalls Charlotte Joël zugeschrieben. Einige davon sind andernorts schon mit entsprechender Angabe veröffentlicht worden. Warum sie hier fehlen, wird nicht erörtert. Dafür ist die Autorschaft bei mindestens einem der publizierten Kinderfotos fraglich.
So ist die am Ende von Pfäfflin gezogene Bilanz, es handle sich aufgrund äußerer Umstände um kein gutes Buch - ein besseres sei ihm leider nicht mehr möglich gewesen - zwar überzogen, aber man wünschte doch, die Herausgeber hätten sich noch etwas Zeit gelassen.
Ihre schön gebundene und gestaltete, auf hochwertigem Papier gedruckte, auch vom Anliegen her wertvolle Publikation regt hoffentlich weitere Nachforschungen an.
„Aber wo, wo noch“, diese Frage, die Charlotte Joël im schmerzvollen Gedenken an ihren toten Bruder aufgeworfen hatte - sie gilt erst recht für sie selbst. Wo, außer in ihren Werken, sind noch Spuren dieser Künstlerin zu finden?
Cristina Fischer
Weiterführende Literatur:
Margarete Exler: Von der Jugendbewegung zur ärztlichen Drogenhilfe. Das Leben Ernst Joëls (1893-1929) im Umkreis von Benjamin, Landauer und Buber. trafo Verlag, Berlin 2005.
Klaus Täubert: „Unbekannt verzogen...“ Der Lebensweg des Suchtmediziners, Psychologen und KPD-Gründungsmitgliedes Fritz Fränkel. trafo Verlag, Berlin 2004.
Egon Larsen (Hrsg.): „Und doch gefällt mir das Leben“. Die Briefe der Clara Grunwald 1941 bis 1943. Hentrich & Hentrich, Berlin 2015.