(Gegenwind 369, Juni 2019)


Die „Lebensader“ Kiels blockiert

Alles im Stau

2.000 Kieler*innen demonstrierten gegen autodominierte Stadt- und Verkehrspolitik

Was war das für ein Aufreger in Kiel: Einige Hundert - überwiegend im jugendlichen Alter - setzen sich einfach auf den Theodor Heuss-Ring und bringen den Verkehr auf Kiels „Lebensader“ zum Stillstand. Für den Chefredakteur der „Kieler Nachrichten“ war „das ein Schlag ins Gesicht der autofahrenden Bevölkerung (...) und beschädigt am Ende auch die Landeshauptstadt insgesamt.“ (Kommentar in der KN am 27.4.19).

Am 26.4. hatte ein Bündnis aus BUND, Extinction Rebellion, Hochschulgruppe Klimagerechtigkeit, Initiative gegen Kreuzfahrt, Linksjugend ['solid], TurboKlimaKampfGruppe (TKKG) und VCD (Verkehrsclub Deutschland) zu den Protesten unter dem Motto „Straßenparty statt Rush Hour“ aufgerufen.

Über 2.000 Kieler*innen folgten dem Aufruf und zogen vom Bahnhof aus über Sophienblatt, Alte Lübecker, Theodor-Heuss-Ring (B76 ) und Hamburger Chaussee zurück zum Bahnhof. Ein Teil der Demonstrant*innen nutzten die nicht eben häufige Möglichkeit, auch mal als Fußgänger oder Fahrradfahrer den Theodor Heuss-Ring in Beschlag zu nehmen und dort eine Rast einzulegen. Nach einigen Stunden löste die Polizei dann diese „Sitzblockade“ auf dem besonders schadstoffbelasteten Teil des Theodor-Heuss-Rings (direkt vor der Abgas-Messstation) auf und brachte einen Teil der Klima-Aktivisten in bereit stehende Polizeiwagen zu Feststellung ihrer Personalien.

Schon im Vorfeld der Demo hatte es politischen Streit darüber gegeben, ob das von der Verfassung verbriefte Demonstrationsrecht auch für den „Theodor-Heuss-Ring“ gelte. Der ADAC hatte sich wie auch CDU und SSW gegen die „Genehmigung“ der Demonstration für den B76-Abschnitt ausgesprochen. Wohlweislich außer Acht lassend, dass es für Demonstrationen gar keiner Genehmigung bedarf, sondern diese lediglich anzumelden sind. So sah das auch Kiels Oberbürgermeister Ulf Kämpfer (SPD) und seine Verwaltung.

„Straßenparty statt Rushhour“

Die Demonstrant*innen kritisieren, dass die Verkehrswende in Kiel und großen Teilen Deutschlands nur schleppend vorangeht. Sie forderten einen Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, die Umwandlung zweispuriger Straßen zu Straßen mit einer Spur nur für den Fahrradverkehr, Tempo 30 innerorts und den Rückbau von Straßen zu verkehrsberuhigten Bereichen.

In ihrem Aufruf hieß es: „Wir wollen dahin, wo es wirklich weh tut: Mitten zur Hauptverkehrszeit auf den Theodor-Heuss-Ring. Lasst uns gemeinsam zeigen, dass Mobilität ganz anders aussehen kann.“

„Etwa 17% der CO2-Emissionen in Deutschland werden durch Straßenverkehr verursacht. Unsere Mobilität und Gütertransport sind fast komplett abhängig von fossilen Kraftstoffen. Ihre Verbrennung bedeutet einen verhängnisvollen Eingriff in den Kohlenstoffkreislauf unseres Planeten. Für ihre Beschaffung müssen wir verheerende Folgen in Kauf nehmen. Sie reichen von ökologischen Desastern bis dahin, dass Kriege um den Zugang zu Öl geführt werden. (...)“

„Städte wie Kiel sind an ihren Grenzen. Luftverschmutzung, Flächenversiegelung, Lärmprobleme und Unfälle sind die Folge einer Politik, die den öffentlichen Raum als Transitzone versteht, angepasst an die Bedürfnisse von Autofahrer*innen. Nicht zuletzt die Belastung der Bevölkerung durch Feinstaub und Stickstoffdioxid zeigt, dass es so nicht weitergehen kann.“

„Die Probleme kulminieren am Theodor-Heuss-Ring. Mehr als 110.000 Autos drängen sich hier täglich. Schon seit Jahren wird der Grenzwert für das giftige Stickstoffdioxid um 40-60% überschritten.“

„Durchgangsverkehre durch die Kieler Innenstadt müssen verhindert werden“

Politische Unterstützung erhielten die Aufrufer von den Grünen und den „LINKEN“: „Wir brauchen eine Verkehrswende. Durchgangsverkehre durch die Kieler Innenstadt müssen verhindert werden. Der Ausbau des Öffentlichen Personen-Nahverkehrs - insbesondere der Stadtbahn - muss forciert werden, um Kielerinnen und Kieler Mobilität und gleichzeitig umweltgerechtes Verhalten zu ermöglichen.“

„Wir brauchen städtische Anreize für die Verkehrswende, den Ausbau der e-Mobiltät, insbesondere für Busse, Motorräder und Fahrräder.“

„Mobilität ist ein Menschenrecht. Wir brauchen günstige Fahrscheine - am besten den Nulltarif -, um allen zu jeder Tag- und Nachtzeit Mobilität zu ermöglichen.“

„Unser Ziel bleibt eine lebenswerte Innenstadt, die nicht durch Blechlawinen dominiert wird,“ heißt es in der Presseerklärung der LINKEN.

Erklärung von ADFC, Allianz pro Schiene, BUND und NABU zum Zwischenbericht der Arbeitsgruppe „Klimaschutz im Verkehr“ der Nationalen Plattform Zukunft der Mobilität

Die Bundesregierung hat im September 2018 in Ausführung des Koalitionsvertrags von SPD, CDU/CSU eine Arbeitsgruppe „Klimaschutz im Verkehr“ der Nationalen Plattform Zukunft der Mobilität (NPM) eingesetzt und ihr den Auftrag erteilt, Maßnahmenvorschläge zu erarbeiten, die die Einhaltung des Klimaschutzziels 2030 für den Verkehr ermöglichen.

Die Nationale Plattform Zukunft der Mobilität (NPM) soll nach den Plänen der Koalitionäre der zentrale Ort zur Diskussion strategischer Weichenstellungen im Mobilitätsbereich sein. Aufbauend auf den Diskussionsergebnissen in der NPM werden Handlungsempfehlungen an Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ausgesprochen. In insgesamt sechs Arbeitsgruppen setzen sich Expertinnen und Experten verschiedenster Fachbereiche mit den zentralen Entwicklungen im Verkehrsbereich auseinander. Dazu gehören die Anforderungen zur Erreichung der energie- und klimapolitischen Ziele der Bundesregierung, die Potenziale und Herausforderungen im Bereich der Elektromobilität sowie alternativer Antriebe und Kraftstoffe, die Digitalisierung des Verkehrssektors, die Sicherung des Mobilitäts- und Produktionsstandortes Deutschland, die Verknüpfung des Verkehrssektors mit dem Energiesystem und die Standardisierung technologischer Komponenten im Verkehrsbereich.

Über die bisherigen Ergebnisse in der Arbeitsgruppe 1 „Klimaschutz im Verkehr“ haben oben genannte Teilnahme in einer Presseerklärung informiert. Dort heißt es u.a.:

„... bedauern wir, dass es in der heutigen Sitzung der AG 1 nicht möglich war, sich bei der Diskussion des Zwischenberichtes für den Lenkungskreis der NPM einvernehmlich auf ein konkretes und wirkungsvolles Maßnahmenpaket zu verständigen, das geeignet ist, eine Reduzierung der Klimaemissionen bis zum Jahr 2030 um 40 bis 42 Prozent sicherzustellen. Das ist umso bedauerlicher als die Arbeiten in der Gruppe gezeigt haben, dass das Klimaschutzziel für den Verkehr mit einem umfassenden Maßnahmenpaket und einer zeitnahen Umsetzung noch eingehalten werden kann.“

Wir halten im Interesse des Klimaschutzes im Verkehr zwingend erforderlich:

Die Arbeitsgruppe 1 ist mit ihrem heutigen Zwischenbericht weit davon entfernt, ihren Auftrag zu erfüllen, konkrete Vorschläge für eine 40 bis 42prozentige CO2-Reduktion im Verkehrssektor vorzulegen.

Wir haben die Aussage des Vorsitzenden der NPM, Herrn Prof. Kagermann, dass die Arbeit an konkreten Vorschlägen zur Zielerreichung fortgesetzt werden soll, zur Kenntnis genommen. Wir werden uns deshalb weiterhin konstruktiv in die Arbeit der AG 1 einbringen und gehen davon aus, dass nunmehr ohne weitere Verzögerung bis zur Lenkungskreissitzung im Juni ein wirksames Maßnahmenpaket zur Erfüllung des Minderungsziels von 40 bis 42 Prozent erarbeitet wird. (aus der Presseerklärung vom 26.3.19)

Alles im Fluss? Oder doch alles im Stau?!

Interessante Hintergrundinformationen zur Thematik von Stadt- und Verkehrsplanung bietet ein Buch, dass sich historisch-aktuell mit dem Thema „Infrastruktur“ beschäftigt - Straßen und Autoverkehr spielt darin eine gewichtige Rolle.

Straßen, Schienen, Stromleitungen: Was uns alltäglich erscheint, ist ein langsam gewachsenes Gebilde, das unser Leben massiv verändert hat. Wie sich die Infrastruktur in den letzten 200 Jahren entwickelte und vor welchen Herausforderungen „die Infrastruktur“ heute steht, zeigt der Leipziger Historiker Dirk van Laak in seinem Buch „Alles im Fluss“. Er zeigt, wie diese Infrastruktur in den letzten 200 Jahren entstand und seither unser Leben massiv verändert hat. Anhand zahlreicher historischer Beispiele zeigt er, wie komplex das Zusammenspiel der verschiedenen Infrastrukturen heute geworden ist. Nach dem Motto „immer mehr, immer schneller“ bestimmen und prägen sie das menschliche Leben. So verwandelten z.B. Gas, Strom und Straßen die Städte dramatisch.

Dirk van Laak argumentiert, dass es die Aufklärung und der westeuropäisch-atlantische Kapitalismus waren, „Vorstellungen der zirkulativen und wachstumsorientierten Moderne“ (S. 282), die die Infrastrukturen geprägt haben. Klar tritt hier hervor, dass Infrastrukturen „alles andere als neutrale Angebote“ waren. Vielmehr vereinheitlichten sie heterogene Zeit- und Raumordnungen, setzten spezifische Rechts- und Verwaltungsstrukturen durch und bestimmten die „Standards der Information, der Versorgung und des Handels“ (S. 141). „Alles im Fluss“ fragt denn auch, „wie die Infrastruktur und die dazugehörigen Basiseinrichtungen in den vergangenen zwei Jahrhunderten uns selbst und unser Alltagsleben grundlegend veränderten, wie sie neue Routinen schufen, neue Verhaltensstandards setzten und neue Erwartungen an die Gesellschaft schürten.“ (S. 12-13)

Das Buch besteht aus zwei großen Teilen, die diese Fragen zunächst chronologisch, dann systematisch beantworten. Der erste Teil über die „klassische Ära der Infrastrukturen“ spannt einen weiten, fast 200-jährigen Bogen vom frühen 19. bis ins späte 20. Jahrhundert. Van Laak lässt so unterschiedliche historische Phänomene wie den Bau von Kanälen, die Elektrifizierung von Städten oder die Schaffung von integrativen europäischen Netzwerken (Eisenbahnen, Telegrafen und Autobahnen) Revue passieren. Auch die Transformation des Alltagslebens durch die entstehende „Konsumgesellschaft“ in Westeuropa und Nordamerika sowie den speziellen Entwicklungspfad von Infrastrukturen im real existierenden Sozialismus werden erklärt.

Im zweiten Teil seines Buches stellt er „Knotenpunkte der Debatte um die Infrastruktur“ vor. Zusammengenommen besteht dieser Teil aus sechs Einzelkapiteln, die sich unter anderem mit der öffentlichen oder privaten Organisation von Infrastrukturen, ihrem Symbolwert und ihrer Verwundbarkeit dar. In der Tat sind Fragen beispielsweise nach den Eigentumsverhältnissen und den Kosten von Wasser- und Stromnetzen hochaktuell.

Abschließend hebt er hervor, dass das seit dem 19. Jahrhundert vorherrschende Denken in Kategorien der Produktivität mittlerweile an Überzeugungskraft eingebüßt hat. Einer seiner Forderungen ist, dass Infrastrukturen stärker mit Nachhaltigkeitskonzepten zu verbinden seien.

Und hier schließt sich der Kreis zum eingangs erwähnten KN-Kommentar. „Wenn jemand Grund hätte, auf dem Theodor Heuss-Ring zu protestieren, dann wäre es vor allem eine Gruppe: die gelackmeierten Autofahrer,“ schließt Christian Longardt seine Kritik an die Demonstrant*innen. Ja, auch sie hätten allen Grund gehabt, zu protestieren - gegen die Autokonzerne, die für ihren Profit über Leichen gehen, gegen eine Politik, die die Trennung von Wohnen/Leben und Arbeit forciert, gegen eine Politik, die die Straße zum global fließenden Warenlager macht.

Günther Stamer

Dirk van Laak: Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 366 Seiten, 26 Euro

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