(Gegenwind 365, Februar 2019)

Protest vor der Festveranstaltung
Protest vor der Festveranstaltung am 3. November 2018 vor dem Kieler Gewerkschaftshaus

Späte Radikalisierung

Frühjahr 1919: „Spartakistenaufstände” in Berlin, Kiel und anderswo

Die relative Leichtigkeit, mit der sich „staatserhaltende” Sozialdemokraten im November 1918 in die Rätebewegung einschalten konnten, hatte einen einfachen Grund: Die große Mehrheit der im Herbst 1918 in die Bewegung um die Beendigung des Krieges und um die Beseitigung von Militarismus und Monarchie gerissenen Arbeiter war mit den seit 1914 in der Sozialdemokratie geführten Debatten, den Hintergründen der Parteispaltung im Jahr 1917 (Gründung der USPD) oder der Argumentation radikaler Strömungen wie der Spartakusgruppe nicht einmal in Ansätzen vertraut.

Beredter Ausdruck der Illusionen auch aktiv in den Räten beteiligter Aktivisten über ein Weitertreiben der Revolution war der im Dezember 1918 in Berlin tagende Reichsrätekongress der Arbeiter- und Soldatenräte. Diese Rätevollversammlung sprach sich paradoxerweise gegen eine Rätedemokratie und stattdessen für die Einberufung einer Nationalversammlung aus und beschloss somit ihre eigene Selbstenthauptung. Von den dort anwesenden 489 Delegierten gehörten 291 der MSPD an, 90 der USPD (einschließlich 10 Mitgliedern der Spartakusgruppe). Der Antrag, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg mit beratender Stimme zuzulassen, wurde durch die rechtssozialdemokratische Mehrheit abgelehnt.

Auch Kieler Arbeiter- und Soldatenräte gegen Rätedemokratie

Ähnlich sah das Kräfteverhältnis in den Arbeiter- und Soldatenräten in Kiel aus. Am 28. November hielt die Kieler MSPD eine große öffentliche Versammlung ab, auf der der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und vom Kieler Soldatenrat zum neuen Gouverneur de Kieler Befehlsbereichs der Marinestation der Ostsee gewählte Gustav Noske das Hauptreferat hielt. Unter der Überschrift „Diktatur oder Nationalversammlung” berichtete die SHVZ (29.11.1918): „Noske sei als entschiedener Befürworter einer baldigen Einberufung der Nationalversammlung aufgetreten. Sonst halte nach seiner Ansicht die ‚Diktatur des Bolschewismus’ Einzug, die nicht nur zu einer Katastrophe führen, sondern auch die Errungenschaften der Revolution gefährden werde.”

Gegen die Ausführungen von Noske wandten sich während der Diskussion die Vertreter der USPD und Mitglieder des Arbeiter- und Soldatenrates, Karl Artelt, Lothar Popp und Paul Springer. Sie lehnten die baldige Wahl einer Nationalversammlung ab und verlangten, die Herrschaft der Räte aufrecht zu erhalten, konnten jedoch keine weitergehende politische Alternative anbieten. „Welche Wege noch zu gehen sind, wissen wir nicht, aber keine Überstürzung!”

Der Rückhalt unter den Anwesenden für ihre Ausführungen war gering, Springer wurde sogar am Weiterreden durch ‚Schluß-Rufe’ gehindert.

Späte, zu späte Radikalisierung

Zurück zum Reichsrätekongress: Mit den Ergebnissen dieses Kongresses wurden die Weichen für ein „Ausleben” des revolutionären Prozesses gestellt, indem alle wichtigen Entscheidungen auf das künftige Parlament oder in eine beschlossene „Sozialisierungskommission” delegiert wurden.

Dann glimmte aber doch noch einmal der Funke der Rebellion in Teilen der Arbeiterklasse auf. Es erfolgte der - halb bewusste, halb spontane - Versuch, bereits gefallene politische Entscheidungen zu revidieren. Seit den Januartagen trat auch der Klassenkampfgedanke stärker in den Vordergrund der Diskussionen innerhalb der Rätebewegung. Die weitere Ausdifferenzierung der politischen Arbeiterbewegung begleitete und bestärkte diese Entwicklung:

Um die Jahreswende 1918/19 löste der Spartakusbund, der linke Flügel der Unabhängigen Sozialdemokraten unter Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht seine Verbindung zur USPD und konstituierte sich als Kommunistische Partei Deutschlands (Spartakusbund). Den Zusatz „Spartakus” behielt die Partei aus gutem Grund bei, war der Name „Spartakisten” doch in der Novemberrevolution zum Synonym für radikale, klassenbewusste Sozialisten geworden - und ebenso zum Feindbild der Reaktion. In den Straßen Berlins tauchten beispielsweise Plakate auf, die in großen Lettern an „Arbeiter und Bürger” appellierten: „Das Vaterland ist dem Untergang nahe, rettet es! Es wird nicht bedroht von außen, sondern von innen: von der Spartakusgruppe. Schlagt ihre Führer tot! Tötet Liebknecht! Dann werdet ihr Frieden, Arbeit und Brot haben. Die Frontsoldaten.”

Januar und März 1919: Mehr als 1.400 Tote in Berlin

Zu Beginn des Jahres 1919 spitzte sich die politische Lage weiter zu. Anlass war die willkürliche Entlassung des Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn (USPD). Die Entlassung wurde von der radikalen Linken als Provokation angesehen. Noch am gleichen Tage beschlossen der Vorstand der USPD zusammen mit den Revolutionären Obleuten für den folgenden Tag eine Demonstration durchzuführen. In Anschluss an die riesige Demonstration besetzten bewaffnete Arbeiter Bahnhöfe und stürmten das Berliner Zeitungsviertel. Nun begann das, was als „Spartakusaufstand” in die Geschichte eingehen sollte.

Gustav Noske ließ kampfkräftige Verbände vor den Toren Berlins zusammenziehen und am 10. Januar in die Reichshauptstadt einrücken. Sie sollten die Besetzung des Zeitungsviertels gewaltsam beenden. Die Freikorps machten mit Artillerie, Panzerwagen und Maschinengewehren den kämpfenden Arbeitern den Garaus und am 12. Januar waren die Kämpfe beendet. „Es herrschte wieder Ordnung in Berlin”, wie die sozialdemokratische Presse verkünden konnte. War es ein „spartakistischer”, also kommunistischer Aufstand? Das jedenfalls war von Anfang an die Sprachregelung der Sieger - und sie hat sich bis zum heutigen Tag gehalten. Und das ist heute so falsch wie damals: Die KPD hatte den Januaraufstand weder vorhergesehen noch gewollt, weder geplant noch gelenkt. Sie fühlte sich durch das planlose, führungslose Agieren der Massen eher als Getriebene - was sie nicht daran hinderte, mit aller Kraft an der Seite der Kämpfenden zu stehen.

Am 15. Januar wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von sogenannten Freikorpssoldaten der Garde-Kavallerie-Schützen-Division aufgegriffen und in das Hotel Eden verschleppt, das Hauptquartier des Freikorps. Dort wurden die führenden Köpfe der revolutionären Bewegung verhört, misshandelt und anschließend ermordet. Die Zahl der Opfer des Januaraufstandes ließ sich nie genau ermitteln. Historiker gehen von bis zu 200 Toten aus. Und doch sollten diese Kämpfe erst ein Vorspiel dafür sein, den Arbeitern das „Revolutionieren” endgültig auszutreiben.

Anfang März kam es erneut zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, als radikale Arbeiter die Sozialisierung von Schlüsselindustrien und die Einführung des Rätesystems verlangten. Es gab Falschmeldungen in der Presse, nicht zuletzt auch im sozialdemokratischen „Vorwärts”, wonach 54 Polizisten in Lichtenberg von Spartakisten ermordet sein sollten. Eine bewusst gestreute Fake-News: Es war einer in der Tat umgekommen, aber aus anderen Gründen. Gustav Noske nahm dieses Gerücht zur Begründung, um seinen Schießbefehl zu formulieren, wonach jeder, der mit der Waffe in der Hand angetroffen wird und nicht zu den Freikorp- und Ordnungskräften gehört, sofort zu erschießen sei. Die Berliner Märzkämpfe forderten mehr als 1.200 Tote.

In einem Lied der Brigade Ehrhardt, deren sich Noske bediente, heißt es:
„Hakenkreuz am Stahlhelm, schwarz-weiß-rotes Band,
die Brigade Ehrhardt werden wir genannt.
Die Brigade Ehrhardt schlägt alles kurz und klein,
wehe Dir, wehe Dir, du Arbeiterschwein.”

„Spartakusaufstände” in Kiel zu Beginn des Jahres 1919

Die Ereignisse in Kiel weisen - wenn auch auf weit kleinerer Ebene - Parallelen zu den Ereignissen in Berlin auf. Gustav Noske konnte sich im November ohne Schwierigkeiten zum Vorsitzenden des Arbeiter- und Soldatenrates in Kiel wählen lassen - getragen von den Mehrheitssozialdemokraten im Zusammenspiel mit Vertretern des alten Herrschaftssystems. Nachdem die „Revolution gesiegt hatte” stellten Teile der arbeitenden Bevölkerung aber fest, dass die „soziale Frage” und der „radikale Bruch mit dem alten System” nach wie vor auf der Tagesordnung war. Vor diesem Hintergrund kam es auch in Kiel zu einer weiteren Ausdifferenzierung auf Seiten der Linken und zu einer zeitweiligen Radikalisierung.

Beschleunigt durch die Revolution wuchs die Mitgliedschaft der USPD rapide an, sie vereinigte am Jahresende in 1918 in Kiel 4.500 Personen. Am 3. Januar 1919 bildete sich eine Ortsgruppe der KPD, wenige Tage nach ihrer reichsweiten Gründung in Berlin. „Die Kieler KPD wurde von ‚jugendlichen Intellektuellen und Erwerbslosen’ dominiert”. Auch Karl Artelt schloss sich der KPD an und gr?dete Mitte Januar den ?oten Soldatenbund? mit ca. 1.000 Mitgliedern.

Das Ende des 1. Weltkrieges und die damit verbundene Demobilisierung der Matrosen und Soldaten sowie das Ende der Rüstungsproduktion auf den Kieler Werften hatte für die Stadt gravierende soziale Auswirkungen. Unmittelbar nach den revolutionären Ereignissen war Anfang November 1918 ein „Demobilisierungsausschuss” eingerichtet worden, der insbesondere eine Fortführung der Arbeiten auf den Werften sichern sollte. Als Sofortmaßnahme übernahmen Werftarbeiter danach vor allem Reparaturen im Eisenbahnsektor. Dadurch konnte eine relativ stabile Beschäftigungssituation erreicht werden. So waren im Januar 1919 in Kiel nur 3180 Personen erwerbslos. Nichtsdestotrotz herrschte unter den Arbeitslosen und den von Arbeitslosigkeit bedrohten Arbeitern schlechte Stimmung.

Die Leitung eines Kieler Werftbetriebes notierte: „Die ganze Arbeiterschaft hat einen Schritt nach links gemacht. Den Mehrheitssozialisten fehlen die Führer, sie sind unentschlossen und wankelmütig und lassen sich von den Kommunisten übers Ohr hauen und terrorisieren. Kommunistischen Gedanken wird vielfach das Wort geredet. (...) Einen großen Umfang hat das Politisieren und Herumstehen angenommen. Irgendwo finden immer Versammlungen oder Besprechungen statt. (...) Beim Arbeiter ist die Furcht vor einer Gegenrevolution von rechts sehr groß.”

Am 6. Januar 1919 versammelten sich etwa 1.000 Arbeitslose auf dem Wilhelmsplatz und forderten die Erhöhung der Arbeitslosenunterstützung. Zwei Tage darauf stürmten 3.000 Arbeitslose das Rathaus, initiiert vom Arbeitslosenausschuss, der von USPD- und KPD-Mitgliedern dominiert wurde. Einer der Beteiligten, Otto Preßler , erinnert sich : ?lles was Beine hatte bei den Arbeitslosen rein ins Rathaus, den Ratssaal verschlossen und haben die Forderung gestellt an die Stadtverordnetenversammlung, die Erh?ung der Erwerbslosenunterst?zung um 24 auf 48 Mark. Man beorderte ein Kommando von der Marinestation, um die Arbeitslosen gewaltsam aus dem Sitzungssaal entfernen zu lassen. Aber, da die Arbeitslosen alle erst zum gro?en Teil von der Front kamen oder sonst irgendwie schon mit?m Kriegshandwerk vertraut waren, ereignete sich folgendes: Auf der einen Treppe kamen die Noske-Garden rauf mit den Waffen und auf der anderen Treppe gingen sie ohne Waffen wieder runter. Und die Stadtverordnetenversammlung beschloss an diesem Abend, die Erwerbslosenunterst?zung um 24 auf 48 Mark zu erh?en.?

Am selben Tag (8.1.19) protestierte eine Versammlung von Vertrauensleuten der Kieler Betriebe gegen die Verlagerung der Eisernen Division von Kiel nach Berlin, die dort gegen „Spartakus” kämpfen sollte. Drei Tage darauf warnte die SPD in einem Demonstrationsaufruf: „Was ihnen in Berlin missglückt ist, versuchen die Terroristen in der Provinz fortzusetzen. Auch in Kiel rollt der russische Rubel, auch hier sind die Terroristen am Werke, durch Gewaltpolitik die Errungenschaften der Revolution in Frage zu stellen.”

Am 12. Januar zogen auf einer von der SPD organisierten Demo 30.000 Kieler*innen „für Sozialismus und Demokratie und die Arbeiterregierung Ebert-Scheidemann und gegen Terrorismus, der vom Spartakusbund in Berlin, im Ruhrgebiet und in Bremen ausgeübt wird” (so die SPD „Volkszeitung” vom 13.1.19 ) durch die Stadt.

An der am folgenden Tag erfolgten Gegendemonstration von USPD und KPD, die zum Sturz der Ebert-Scheidemann-Regierung aufrief, beteiligten sich über 10.000 Menschen. Nach der Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs riefen die USPD, der „Rote Soldatenbund” und die KPD in Kiel zum Demonstrationsstreik auf, dem am 21. Januar vier- bis fünftausend Arbeiter folgten.

Zu einem weiteren Kräftemessen zwischen Kräften der sozialdemokratischen „Arbeiterregierung” und proletarischen Klassenkämpfern kam es in Kiel Anfang Februar. Anlass war das von Noske angeordnete Verlegen der Division Gerstenberg, in der auch Teile der 1. Marinebrigade (Eiserne Division Kiel) standen, nach Bremen, um die dortige Räterepublik militärisch niederzuschlagen. Dort war am 10. Januar die „Sozialistische Republik” ausgerufen worden. Damit wurde Bremen zum Hoffnungsträger des revolutionären Flügels der Arbeiterbewegung.

Etwa 500 bis 1000 Demonstranten forderten am 4. Februar in Kiel Waffen vom Obersten Soldatenrat, „um ihren bedrängten Kameraden in Bremen helfen zu können”. Ferner wurde verlangt, dass keine Lebensmittel und kein Nachschub für die von Noske mit der Zerschlagung der Räterepublik beauftragten Truppen ausgegeben werden sollten. „Nachdem Verhandlungen zwischen Demonstranten, Soldatenrat und Gouverneur Garbe zu keinem Ergebnis führten, versuchten sich ‚die Spartakisten’ durch Überfälle auf Kasernen und Patrouillen mit Waffen zu versorgen, wobei es am 5. Februar in einem Fall zu einer Schießerei mit Sicherheitskräften kam, bei der es 6 Tote und 20 Verletzte gab.” Wie in Berlin so auch in Kiel bediente sich die Sozialdemokratie im Kampf gegen klassenbewusste Arbeiter sog. ?icherheitskr?te?, die ein Sammelbecken reaktion?er Offiziere und ihrer Gefolgsleute waren. Die pr?ende Kieler Person war hier Korvettenkapit? von Loewenfeld, der sich seit Ende November 1918 in Kiel aufhielt und ab Mitte Februar 1919 die Bildung eines Freikorps vorantrieb. Die Brigade Loewenfeld sollte dann ein Jahr sp?er w?rend des Kapp-Putsches gegen die Arbeiter in Kiel w?en. Allein das entschlossene Handeln der Arbeiterklasse und ihrer Gewerkschafts- und Parteiorganisationen konnte den reaktion?en Putschversuch in Kiel wie im gesamten Land vereiteln. Dieses gemeinsame Handeln der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen sollte leider f? lange Zeit eine Ausnahme bleiben. Der Fortgang der Geschichte ist bekannt.

Günther Stamer

Literatur

Dähnhardt, Dirk (1978): Revolution in Kiel. Der Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik 1918/19. Neumünster

Paetau, Rainer (1988): Konfrontation oder Kooperation. Arbeiterbewegung und bürgerliche Gesellschaft im ländlichen SH und in der Industriestadt Kiel zwischen 1900 und 1925. Neumünster

Siegfried, Detlef (1989): „Ich war immer einer von denen, die kein Blatt vor den Mund nahmen!” - Kontinuitäten und Brüche im Leben des Kieler Kommunisten Otto Preßler. In: Demokratische Geschichte IV. Kiel

Siegfried, Detlef (2004): Das radikale Milieu. Kieler Novemberrevolution, Sozialwissenschaft und Linksradikalismus 1917-1922. Wiesbaden

Zur Startseite Hinweise zu Haftung, Urheberrecht und Datenschutz Kontakt/Impressum