(Gegenwind 362, November 2018)

Besprechung: Putin (Präsident von Russland) und Kadyrow (Präsident von Tschetschenien)
Besprechung: Putin (Präsident von Russland) und Kadyrow (Präsident von Tschetschenien)

Flucht & Asyl

Flucht aus Russland, Asyl in Deutschland

In den letzten Jahren waren Flüchtlinge aus Russland fast immer unter den „Top Ten” der Herkunftsländer. Überwiegend kommen aus Russland allerdings Tschetschenen oder Einwohner benachbarter Republiken als Flüchtlinge. MigrantInnen aus Russland gibt es weitaus mehr: Die überwiegende Zahl kommt mit einem Visum als Studentin oder Student, als Arbeitskraft oder als Familienmitglied. Seit 2012 kamen vermutlich rund 36.000 TschetschenInnen als Flüchtlinge, zwischen 10 und 15 Prozent bekommen ein Bleiberecht durch das Asylverfahren, weitere durch eine Gerichtsentscheidung oder durch ein späteres Bleiberecht.

Natürlich kommen auch russische RegierungsgegnerInnen hierher, um Asyl zu beantragen. Geschätzt machen Tschetschenen rund 80 Prozent, die anderen Nationalitäten Russlands rund 20 Prozent derer aus, die einen Asylantrag stellen. Das „Bundesamt für Migration und Flüchtlinge” notierte bei 95 % (2013) bzw. 76 % (2017) eine islamische Religionszugehörigkeit.

Die meisten tschetschenischen Flüchtlinge, die einen Asylantrag stellen, bekommen zunächst eine „unzulässig”-Einscheidung, weil sie über Polen eingereist sind. Dort gibt es allerdings einen sehr schlechten Unterbringungs-Standard und eine Art „Obergrenze” für Asylanträge, so dass dort kaum jemand Asyl beantragen will oder kann. So leben die meisten hier zunächst für ein Jahr, um das Dublin-Verfahren abzuwarten, das die meisten ohne Abschiebung nach Polen überstehen. Danach folgt im Asylverfahren oft eine Ablehnung. In der normalen Statistik werden die Dublin-Verfahren mitgerechnet, da kommen dann 4 bis 10 Prozent auf eine positive Entscheidung. Rechnet man nur die Asylverfahren, ist die Quote mindestens ein Drittel höher.

Abgeschoben werden abgelehnte Flüchtlinge allerdings kaum, Russland nimmt pro Jahr nur rund 1 Prozent zurück. Das liegt vermutlich daran, dass Russland viele der Flüchtlinge auch gerne ausreisen lässt und gar nicht zurückhaben will. Denn Tschetschenien wurde in zwei Kriegen zerstört, und auch heute ist die Herrschaft dort unstabil.

Tschetschenien

Tschetschenien liegt im Nordkaukasus und grenzt im Süden an Georgien. In den heutigen Grenzen ist die Republik, die zur Russischen Föderation gehört, rund 15.600 qkm groß, hat also zwei Drittel der Größe Schleswig-Holsteins und rund 1,3 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Seit der Auflösung der Sowjetunion gab es zwei Kriege, deshalb haben die meisten Angehörigen der russischen, ukrainischen und armenischen Minderheit das Land verlassen.

Auf Tschetschenien erhob Russland seit dem 16. Jahrhundert Ansprüche, konnte das Land aber erst im 19. Jahrhundert erobern. Aus der damaligen Zeit wird Imam Schamil, der den Widerstand 1828 bis 1859 anführte, als Nationalheld verehrt. Tausende Menschen flohen damals ins Osmanische Reich, deshalb gibt es heute eine große tschetschenische Minderheit in der Türkei und in Syrien.

In der Zeit der Sowjetunion bildete Tschetschenien meisten eine gemeinsame Republik mit Inguschetien. Einen Aufstand 1940/41 sah der damalige Herrscher Stalin als Gefahr im Krieg gegen Deutschland an, weil deutsche Truppen auch auf den Kaukasus marschierten und die Ölquellen von Baku im Südkaukasus erobern wollten. Im Februar 1944 wurden deshalb rund eine halbe Million Menschen, rund 400.000 Tschetschenen und rund 100.000 Inguscheten, nach Kasachstan und Zentralasien deportiert, der Deportationsbefehl galt für alle Angehörigen dieser beiden Völker. Ungefähr ein Viertel der Menschen starb. 1957 durften sie zurückkehren. Lange bildeten sie eine Minderheit innerhalb der russischen Einwanderer, zum Ende der Sowjetunion waren rund zwei Drittel der Bevölkerung Tschetscheniens zurückgekehrte Tschetschenen.

Nach der Auflösung der Sowjetunion trennte sich die Völker: Die meisten Tschetschenen stimmten für die eigene Unabhängigkeit, die meisten Inguscheten für den Verbleib bei Russland. In einem umstrittenen Referendum am 27. Oktober 1991 stimmten angeblich rund 90 Prozent der Tschetschenen für die Unabhängigkeit, das Ergebnis wurde von Gorbatschow, später auch von seinem Nachfolger Jelzin nicht anerkannt. Anerkannt wurde Tschetschenien von Georgien und von der Taliban-Regierung Afghanistans.

Der Präsident Dschochar Dudajew, ehemaliger sowjetischer Luftwaffengeneral, besiegte die Truppen des russischen Innenministeriums, vertrieb sie, aber auch russische Zivilisten aus der Republik. Allerdings brach die Wirtschaft zusammen, Familienclans übernahmen das bisherige Staatseigentum, die Republik wurde zur Drehscheibe für vielerlei Schmuggel-Geschäften.

Am 11. Dezember 1994 marschierten russische Truppen ein. Der Einmarsch endete in einem Desaster. Die Truppen waren schlecht ausgebildet, schlecht ausgerüstet und nicht motiviert. Hunderte von russischen Soldaten wurden getötet, bis August 1996 auch die Hauptstadt Grosny von einheimischen Milizen zurück erobert. Russland musste unter General Alexander Lebed einen Waffenstillstand abschließen, mit dem zwar die Unabhängigkeit Tschetscheniens offiziell nicht anerkannt wurde, aber die russischen Truppen zogen sich aus der Republik zurück, soweit sie überlebt hatten.

In Tschetschenien spitzte sich die wirtschaftliche Lage immer mehr zu. Vom Schmuggel profitierten wenige, die teils unverschämt reich wurde - im Rest der Welt als „Mafia” bezeichnet. Die Regierung führte die Todesstrafe selbst bei kleinen Delikten ein und berief sich auf den Islam. Unterstützung kam von Wahabiten vor allem aus Saudi-Arabien, die auch bestimmte Milizen unterstützten und ausrüsteten. Mehrfach griffen tschetschenische Milizen, vor allem die von Schamil Bassajew geführten Verbände, auch Ziele in benachbarten russischen Republiken wie Dagestan an mit dem Ziel, ein größeres „Emirat Nordkaukasus” zu schaffen.

Diese Situation nutzte Wladimir Putin, von Jelzin zum provisorischen Nachfolger ernannt, in seinem ersten Präsidentschaftswahlkampf 1999: Es kam zu sechs Bombenanschlägen auf Wohnhäuser in Russland (Moskau, Buinaksk, Wolgodonsk) mit Hunderten von Toten. Bei einem versuchten Anschlag in Rjasan wurden allerdings zwei Täter festgenommen, es waren FSB-Agenten. Putin erklärte, die Anschläge wären Taten tschetschenischer Terroristen, der versuchte Anschlag von Rjasan wäre eine Übung seines Geheimdienstes gewesen, um die Aufmerksamkeit der örtlichen Polizei zu testen. Bis heute wurde allerdings kein Anschlag aufgeklärt, alle Zeugenaussagen und der verwendete Sprengstoff deuteten aber auf den FSB hin.

Putin nutzte die Anschläge dazu, den zweiten Tschetschenien-Krieg zu entfesseln und eroberte bis 2009 die Republik zurück. Dabei gelang es ihm, eine der tschetschenischen Milizen unter Achmad Kadyrow zum Überlaufen zu bewegen, der Anführer wurde als neuer Präsident eingesetzt. Ansonsten verlief der Krieg äußerst brutal, die Orte wurden mit Flächenbombardements zerstört, Tausende von Flüchtlingen verhaftet, in Lagern („Filtrationslagern”) eingesperrt und unter Folter verhört. Je mehr Zivilisten in Tschetschenien ermordet wurden, desto mehr Anschläge islamischer Gruppen gab es im übrigen Gebiet Russlands. So wurden 2002 in einem Moskauer Theater 700 Geiseln genommen, die Polizei stürmte und tötete 41 Terroristen und 129 Geiseln. Weite Gebiete Tschetscheniens wurden von der russischen Armee vermint, nach offiziellen Angaben der russischen Regierung wurden allein 2002 in Tschetschenien 5.695 Menschen durch Minen getötet.

Der Präsident des Landes, Achmad Kadyrow, wurde 2004 mit einer Bombe getötet, die in den Neubau des Stadions unter der VIP-Abteilung mit eingebaut worden war. Die Widerstandskämpfer machten Maschadow zum Gegenpräsidenten. Putin verhandelte mit ihm, ließ ihn aber dann 2005 töten. 2007 machte Putin Ramsan Kadyrow, den Sohn des getöteten Präsidenten, zum neuen Präsidenten, er regiert bis heute.

Seit 2007 hat Präsident Kadyrow Hunderte von Gegnern festgenommen, die Zahl der Vermissten oder von unbekannten Tätern Ermordeten steigt von Jahr zu Jahr. Der offene Krieg hat mit der Zerschlagung aller Milizen aufgehört. Es gibt aber permanent Anschläge von „Rebellen”, sowohl in Tschetschenien als auch den Nachbarrepubliken. Werden „Rebellen” identifiziert, lässt Präsident Kadyrow die Häuser ihrer Familien von der Polizei zerstören, manchmal werden auch Ehefrau oder Eltern oder Kinder verhaftet.

Die Wirtschaft der Republik ist auf Kadyrow und seine Verbündeten ausgerichtet. Viele soziale Projekte werden von der Achmad-Kadyrow-Stiftung finanziert, alle BewerberInnen und Angestellte im öffentlichen Dienst müssen monatliche Spenden an diese Stiftung abführen. Die Ausgaben der Stiftung werden von Präsident Kadyrow persönlich kontrolliert - ein Projekt war auch, 2016 in Schleswig-Holstein Flüchtlingen kostenlose Busfahrten zur nächsten Moschee an bestimmten islamischen Feiertagen anzubieten, bevor der Betreuungsverband DRK die Hintergründe durchschaute und weitere Aktionen unterband.

Die Gesellschaft Tschetscheniens wurde in den letzten 20 Jahren stark islamisiert, die meisten EinwohnerInnen können sich seit langem nur noch auf die eigene Familie verlassen. Alle Chancen im Leben sind davon abhängig, wie die eigene Familie sich zur Familie Kadyrow positioniert.

Seit 2017 sind in Tschetschenien offenbar Konzentrationslager für Menschen eingerichtet worden, die verdächtig sind, homosexuell zu sein. Die russische Regierung streitet wie die tschetschenische Regierung alle Berichte von Menschenrechtsorganisationen ab.

Flucht und Asyl

Die russische Regierung scheint die Flucht aus Tschetschenien teils zu nutzen, um die Situation zu beruhigen. So wurden 2013, im Vorfeld der Olympischen Spiele von Sochi, viele Fluchtrouten geöffnet, auch viele Pässe für die Ausreise ausgestellt - die meisten Flüchtlinge gingen in dieser Zeit nach Deutschland, die meistens islamischen Kämpfer gingen in dieser Zeit nach Syrien.

Immer wieder wurde und wird in verschiedenen Ländern Europas aufgedeckt, dass unter den Flüchtlinge auch Agenten sind, offensichtlich von der russischen oder der tschetschenischen Regierung unter die Flüchtlinge geschleust. Diese Agenten sollen entweder die Botschaft Russlands in Berlin über Aktivitäten auf dem Laufenden halten, oder sie haben Aufgaben ganz abseits des Themas Tschetschenien. Insbesondere in Norwegen wurden 2016 viele Agenten enttarnt. Die dortige Regierung war von Anfang an misstrauisch, als plötzlich viele russische und auch syrische Flüchtlinge auf der nördlichen Route von Russland nach Norwegen kamen - dort stoßen NATO und Russland direkt aneinander, und auf russischer Seite ist das gesamte Gebiet militärische Sperrzone. Kein Flüchtling kann in diese Zone unkontrolliert eindringen, so dass die Flucht von mehreren Tausend Menschen nur als gesteuerte Aktion interpretiert werden konnte.

Mit dem Ende des offenen Krieges in Tschetschenien 2009 beschränken sich die islamistischen Aufständischen auf einzelne Anschläge, meistens außerhalb von Tschetschenien. Viele Kämpfer sind nach Syrien gewechselt. Tschetschenien ist allerdings innerhalb Russlands zu einem „Staat im Staate” geworden: Präsident Kadyrow hat nicht nur eine Willkürherrschaft eingerichtet, sondern auch eine eigene Armee aufgebaut, die in der Ukraine und in Syrien kämpft, wo es offiziell keine russischen Bodentruppen gibt. Tschetschenien selbst ist konsequent zu einer islamischen Republik verändert worden, in der Frauen nichts zu sagen, haben, in der Schweinefleisch und Alkohol faktisch verboten sind. Die kleine Oberschicht ist unverschämt reich und hat selbstverständlich Zugang zu Alkohol.

Die konservative Gesellschaftsstruktur, die von den Flüchtlingen importiert wird, führt in vielen Flüchtlingsunterkünften zu Konflikten. Gerade Flüchtlinge aus Tschetschenien sind unter den von den Bundesländern registrierten „Gefährdern” überproportional vertreten. Genaue Zahlenangaben sind schwierig, weil die Kriterien der Bundesländern sehr unterschiedlich sind, jemanden zu einem „Gefährder” zu machen.

Im Asylverfahren fällt auf, dass viele Flüchtlinge völlig falsche Vorstellungen von hier existierenden Regelungen haben, die anscheinend in Tschetschenien gezielt verbreitet werden - so glaubten viele 2013, Flüchtlinge würden hier noch während des Asylverfahrens Land erhalten. 2017 bezeichneten sich selbst Analphabeten in großer Zahl als Akademiker. Solche Vorstellungen können in Tschetschenien eigentlich nur mit Unterstützung der Regierung Kadyrow verbreitet werden, um bestimmten Bevölkerungsgruppen das Leben in Deutschland schmackhaft zu machen. Da sie mit einem Pass ausreisen, der in Russland nicht allen gegeben wird, deutet auch das auf eine staatliche Förderung der Flucht hin.

Auffällig ist auch, dass Geschichten über das gute Leben in Deutschland in bestimmten Vierteln verbreitet wird, in denen ein mit dem Präsidenten befreundetes Unternehmen den Abriss vorhandener Häuser und Neubau von Bürogebäuden plant - Flüchtlinge erzählen hier, es wäre gleichzeitig für alle Bewohner Gas und damit Heizung wegen angeblich unbezahlter Rechnungen abgestellt worden.

Dennoch sind viele Flüchtlinge aus Tschetschenien auch von der dort herrschenden Willkürherrschaft, von Gewalt und Vergewaltigung betroffen. Asylanträge, wenn sie mit echten Daten erfolgen, sind oft sehr aussichtsreich. Hier fallen auch viele tschetschenische Flüchtlinge dadurch auf, dass sie zu Landsleute - oder bestimmten Landsleuten - den Kontakt vermeiden oder abbrechen.

Wer tschetschenische Flüchtlinge im Asylverfahren oder beim Einleben unterstützt, sollte sich auf jeden Fall Zeit nehmen, um die Hintergründe des Lebens dort zu verstehen. Nicht alle Flüchtlinge können das in den ersten Monaten erzählen.

Reinhard Pohl

Die Entscheidungsstatistik sieht so aus:

Georgien Anträge Entscheidungen Asyl Flüchtling subs. Schutz Abschiebungs- schutz Schutzquote ber. Schutzquote* abgelehnt formelle Entscheidung
2012 3.415 1.208 7 126 - 38 14,2 % 23,9 % 543 494
2013 15.473 12.301 23 132 - 116 2,2 % 17,0 % 1.319 10.711
2014 5.511 6.453 4 195 94 129 6,5 % 23,9 % 1.341 4.690
2015 6.200 4.832 9 185 71 138 8,3 % 30,5 % 918 3.511
2016 12.234 12.799 21 336 127 177 5,2 % 10,4 % 5.712 6.426
2017 6.227 17.436 184 595 438 371 9,1 % 13,9 % 9.819 6.029
2018** 4.138 6.525 302 190 119 130 11,4 % 18,9 % 3.177 2.607

* meint die Schutzquote nur bezogen auf inhaltliche Entscheidungen, ohne Dublin-Fälle (formelle Entscheidungen).

** nur bis September

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