(Gegenwind 361, Oktober 2018)
Während die Große Koalition in der letzten Legislatur vergeblich versuchte, Marokko, Algerien und Tunesien zu „sicheren Herkunftsstaaten” erklären zu lassen, hat sie nach der neuen Regierungsbildung ein viertes Land in den Blick genommen: Georgien. Es gibt dort keine erkennbaren Veränderungen - warum es in der letzten Legislaturperiode nicht sicher war, nun aber schon, können CDU und SPD nicht inhaltlich begründen. Es geht um Symbolpolitik: Die AfD fordert ein härteres Vorgehen, einige Parteien wollen liefern.
Georgien ist rund dreimal so groß wie Schleswig-Holstein und hat ungefähr 4 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Es grenzt im Norden an Russland (Tschetschenien), im Osten an Aserbaidschan und im Süden an Armenien und die Türkei.
Zur Zeit Napoleons eroberte Russland das Land. Mit dem Zusammenbruch Russlands 1917 wurde Georgien für kurze Zeit unabhängig, seit 1921 gehörte es aber zur Sowjetunion. Seit 1936 gab es die Georgische SSR, in diesen Grenzen wurde das Land am 9. April 1991 unabhängig.
Kurz nach der Unabhängigkeit versuchten drei Landesteile, sich von Georgien abzuspalten: Abchasien und Südossetien im Norden und Adscharien im Süden. Im Süden ist die Bevölkerung muslimisch, das Gebiet gehörte bis 1918 zum Osmanischen Reich. Die Abspaltung im Süden wurde durch Verhandlung friedlich beigelegt, indem die georgische Regierung die Autonomie wieder herstellte, die das Gebiet in der sowjetischen Zeit schon hatte. Dagegen wurden die beiden Gebiete im Norden mehr und mehr durch russische Truppen „geschützt”, die zunächst als „Friedenstruppen” einmarschiert waren, um sich zwischen die georgischen und die abchasischen bzw. südossetischen Truppen zu schieben. Damit machten die russischen Truppen aber aus der Front Grenzen. 2008 kam es zum georgisch-russischen Krieg, seitdem sind Abchasien und Südossetien faktisch russische Gebiete, wenn auch noch nicht offiziell annektiert.
Erster Präsident Georgiens wurde der Nationalist Swiad Gamsachuria, der aber bald von Eduard Schewardnadse abgelöst wurde. Schewardnadse war vorher Außenminister der Sowjetunion, hatte die deutsche Einheit verhandelt und besaß deswegen in Deutschland hohen Ansehen. In Georgien war das Ansehen geringer und bald darauf vollkommen ruiniert: Die Privatisierung der sowjetischen Staatsbetriebe machte ein paar Männer zu Superreichen, die meisten Georgier zu Superarmen, den Staat selbst zu einer Brutstätte der Korruption. Von den damals rund 5,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern sind bis heute rund 1,5 Millionen ausgewandert, eine Folge dieser Politik, die das Land um Jahrzehnte zurückwarf.
2003 wurde die Schewardnadse-Regierung durch Massenproteste gestürzt, die sogenannte „Rosenrevolution”. Für Russland wurde sie zum Alptraum, denn der neue Präsident Micheil Saakaschwili packte den Kampf gegen Korruption und Kriminalität entschlossen und in Teilbereichen auch erfolgreich an. Außerdem sorgte er dafür, dass sich das Land von Russland abwandte, später auch aus der GUS austrat und sich der NATO und der EU annäherte.
Bei der Korruption zeigt die „Rangliste” von „Tansparency International” den Erfolg an: Von Platz 133 im Jahre 2004 rückte Georgien auf Platz 51 im Jahr 2012 vor, liegt also seitdem vor Italien. 2012 erreichte es Platz 44. Die energische Reform der Polizei, rund 16.000 Polizisten wurden im Zuge der Korruptionsbekämpfung entlassen, führte dazu, dass viele Kriminelle ihre Tätigkeit ins Ausland verlegten, unter anderem nach Westeuropa.
Der Krieg gegen Russland kostete Saakaschwili viel Vertrauen, hatte er den Krieg doch sehr leichtsinnig und im Vertrauen auf die türkischen Militärberater im Land gestartet. Es zeigt sich, dass Russland gut vorbereitet war und den Gegenangriff schon geplant hatte.
Seit 2013, Saakaschwili durfte nach zwei Amtszeiten nicht wieder antreten, ist Giorgi Margwelaschwili Präsident. Er schloss 2014 ein Assoziierungsabkommen mit der EU ab, gleichzeitig mit Moldavien und der Ukraine.
Das Assoziierungsabkommen, das 2016 in Kraft trat, ist gleichzeitig ein Freihandelsabkommen. Gleichzeitig verpflichtet sich Georgien dazu, sein Justizsystem zu reformieren und von Korruption zu befreien. Der Export nahm bereits 2017 um 16 Prozent zu. Eine schnelle Perspektive zum EU-Beitritt gibt es nicht, denn nach den Plänen der EU sind zunächst die sechs Staaten des Westbalkan dran. Hier könnten Serbien und Montenegro 2025 beitreten, Mazedonien und Albanien dann 2032. Bei ihrem Besuch im August 2018 in Georgien bezeichnete Angela Merkel die Staaten der östlichen Partnerschaft Moldavien, Ukraine und Georgien als „zweiten Ring” der Nachbarschaftspolitik, die danach erst beitreten sollten - dazu müssten nicht nur sie einen Stand erreichen, der einen Beitritt erlaubt. Auch die EU muss so reformiert werden, dass sie weitere Staaten aufnehmen kann. Die jetzige Struktur - 28 Mitgliedsstaaten, 28 Positionen in der Kommission - ist dafür nicht geeignet.
Seit Anfang 2017 dürfen Georgierinnen und Georgier visumfrei zu Besuchen (bis 90 Tage) in die EU reisen. Das führte kurzzeitig zu einem Anstieg der Asylanträge, die Jahreswerte veränderten sich aber kaum. 2016 gab es 3.771 Asylanträge, 2017 waren es 3.462 - trotz Visumfreiheit war die Zahl also gesunken. 2018 könnte sie im Gesamtjahr wieder steigen, die Tabelle unten gibt die Zahlen aus dem ersten Halbjahr an.
Der Beitritt zur EU und zur NATO ist im Land seit dem Krieg 2008 gegen Russland sehr populär, weil sich die große Mehrheit der Bevölkerung davon mehr Sicherheit und Wohlstand verspricht. Im Mai sprachen sich bei einer Umfrage 75 % der Bevölkerung für einen EU-Beitritt aus.
Die häufigsten Menschenrechtsverletzungen in Georgien sind Behördenwillkür, Übergriffe auf Vertreterinnen oder Vertreter der Opposition und schlechte Verhältnisse in den Gefängnissen.
Soweit es um die Behinderung der Opposition geht, werden nicht nur Vertreterinnen und Vertreter von Oppositionsparteien von „Unbekannten” angegriffen. Auch Journalistinnen und Journalisten, die über Versammlungen der Opposition berichten, können Ziele solcher Angriffe werden.
In den Gefängnissen grassieren Krankheiten, Gefangene werden geprügelt oder vergewaltigt. Gefangene, die Verwandte in Westeuropa haben, werden oft aufgefordert, eine bestimmte „Kaution” zu bezahlen (die nur mit Hilfe der Verwandten aufgebracht werden kann), um freigelassen zu werden. Es scheint auch so, dass einige nur wegen dieser Verwandtschaft als „Geldquelle” verhaftet werden.
Ein besonderes Problem haben die Einwohnerinnen von Südossetien und Abchasien: Mit den einheimischen Pässen können sie nur nach Russland, Nicaragua, Venezuela und Nauru reisen. Für alle anderen Staaten benötigen sie entweder einen russischen Pass, den vermutlich 80 Prozent der EinwohnerInnen haben, oder einen georgischen Pass, den eine unbekannte Zahl von EinwohnerInnen hat, da er nicht legal ist.
Die russischen Truppen schikanieren insbesondere BewohnerInnen, deren Häuser im besetzten Gebiet liegen, die aber Felder im georgisch kontrollierten Gebiet bearbeiten. Sie werden ab und zu kontrolliert und wegen „illegalen Grenzübertritts” zu Geldstrafen verurteilt.
In Tiflis gab es 2018 mehrere rechtsextreme Aufmärsche, die sich gegen Ausländer oder gegen Schwule richteten. Die Möglichkeit gleichgeschlechtlicher Partnerschaften ist 2017 in der neuen Verfassung abgeschafft worden, Ehen sind seitdem nur noch zwischen Mann und Frau möglich.
Nur wenige Menschen sind so exponiert als Oppositionspolitiker oder Journalisten, dass sie eine Chance haben, im Asylverfahren anerkannt zu werden. Bestimmte Krankheiten, die in Georgien nicht entsprechend den Gesetzen kostenlos behandelt werden, sondern nur gegen einen zusätzlichen Umschlag mit Geld, können zu einem Abschiebungsverbot führen.
Abschiebungen nach Georgien sind relativ einfach zu organisieren. 2017 waren es 612, im ersten Halbjahr 2018 bereits 528. Abschiebungen sind stets mit einer Wiedereinreisesperre verbunden, die drei Jahre lang für den gesamten Schengenraum gilt - die Betroffenen verlieren also die Visumfreiheit. Insofern sollten Beratungsstellen bei abgelehnten Asylanträgen immer auf die Möglichkeit einer Ausreise hinweisen.
Wichtig ist auch: Visumfreie Aufenthalte sind nur als Besuchsaufenthalte erlaubt. wer den Aufenthalt zur Arbeiten nutzt, dafür wäre ein Visum erforderlich, macht rückwirkend auch Einreise und Aufenthalt unerlaubt.
Die Erklärung Georgiens zum „sicheren Herkunftsstaat” würde daran nichts ändern.
Reinhard Pohl
Georgien | Anträge | Entscheidungen | Asyl | Flüchtling | subs. Schutz | Abschiebungsschutz | Schutzquote | ber. Schutzquote* | abgelehnt | formelle Entscheidung |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
2012 | 1.430 | 663 | 0 | 4 | - | 3 | 1,1 % | 2,6 % | 262 | 394 |
2013 | 2.486 | 1.573 | 1 | 2 | - | 6 | 0,4 % | 2,0 % | 450 | 1.117 |
2014 | 3.180 | 2.510 | 1 | 4 | 0 | 7 | 0,5 % | 1,3 % | 937 | 1.561 |
2015 | 3.196 | 2.360 | 0 | 0 | 0 | 7 | 0,3 % | 0,5 % | 1.425 | 928 |
2016 | 3.771 | 4.057 | 6 | 23 | 6 | 39 | 1,8 % | 2,8 % | 2.542 | 1.441 |
2017 | 3.462 | 6.340 | 3 | 15 | 27 | 85 | 2,1 % | 2,9 % | 4.279 | 1.931 |
2018** | 2.710 | 3.659 | 2 | 6 | 8 | 33 | 1,3 % | 1,6 % | 2.993 | 617 |
Anmerkungen zur Tabelle: * meint die Schutzquote nur bezogen auf inhaltliche Entscheidungen, ohne Dublin-Fälle. ** nur erstes Halbjahr |