(Gegenwind 355, April 2018)

Buchtitel
Jörg Gertel und Ralf Hexel, Friedrich-Ebert-Stiftung: Zwischen Ungewissheit und Zuversicht. Jugend im Nahen Osten und in Nordafrika. Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2018. 435 Seiten, 32 Euro

Marokko, Tunesien, Ägypten, Jemen, Jordanien, Bahrain, Syrien, Palästina, Libanon

Wie tickt die Jugend?

2016 befragten die Friedrich-Ebert-Stiftung zusammen mit einigen Partnerorganisationen Jugendliche in neun arabischen Staaten. Pro Land wurden ungefähr 1000 Jugendliche befragt - nicht online, sondern in persönlichen Interviews mit Fragebögen, die 205 Punkte umfassten. Die Interviewerinnen und Interviewer wurden vorher geschult, je nach Land wurden Treffpunkte vereinbart, insbesondere wenn es zu Hause nicht ging. Bei den befragten Syrerinnen und Syrern gab es die Sondersituation, dass Interviews im Land nicht möglich waren - befragt wurde hier syrische Jugendliche im Libanon.

Die Studie, die die Ergebnisse dieser rund 9.000 Interviews auswertet und bewertet, ist gleichzeitig auf Deutsch, Englisch und Arabisch erschienen. Untersucht wird die Stimmung der Jugendlichen in Ländern, die eine schnellwachsende Bevölkerung haben und gleichzeitig eine hohe oder sehr hohe Jugendarbeitslosigkeit mit allen denkbaren Folgen. Teils sind es auch Länder, in denen es soziale Kämpfe oder Kriege gibt. Und alle Länder sind von Auswanderung betroffen, wobei die befragten syrischen Jugendlichen bereits ausgewandert (geflohen) sind.

Zunächst geht es um die eigenen Werte, die Religion, die Familie, die Rechte von Männern und Frauen. Hier zeigen sich die Jugendlichen mehrheitlich konservativ. Das ist auch deshalb ein wichtiges Ergebnis, weil im "Arabischen Frühling" mehrheitlich die demonstrierenden Jugendlichen in den Städten gezeigt wurden, die modern und "pro-westlich" erschienen, auch wenn es hinterher eine Fülle von Berichten von Frauen gab, die innerhalb der Demonstrationen Übergriffe erlebt hatten. Religiös sind nach Selbsteinschätzung vor allem die Jugendlichen aus Bahrain, Jemen, Ägypten und Marokko (die Werte liegen alle über dem Durchschnitt), alle anderen liegen unter dem Durchschnitt. Bei der Frage nach der gewünschten Staatsform sind allerdings alle mehrheitlich für eine Demokratie, die sehr Religiösen immerhin zu 33 Prozent (starker Mann: 32 Prozent).

Bei der Frage, ob freizügig gekleidete Frauen sich über sexuelle Belästigung nicht beschweren dürfen, sagt die Mehrheit "nein": 55 Prozent der Männer und 60 Prozent der Frauen stimmt nicht zu.

An der Familie hängen rund 92 Prozent, während 1 Prozent ein Leben alleine besser findet - quer durch alle Länder, unabhängig von der Lebenssituation.

Die Frage nach der wirtschaftlichen Situation und den Zukunftsaussichten fällt wie erwartet aus: Den Jugendlichen in Bahrain und Marokko geht es am besten, denen im Jemen und Syrien am schlechtesten. Allerdings gibt es kleine Überraschungen auf die Frage, ob man sein Land verlassen will: Im Jemen sagen 71 Prozent "auf keinen Fall" und nur 2 Prozent "auf jeden Fall". Anders in Jordanien, ohne Krieg: 27 % "auf jeden Fall" und 56 Prozent "auf keinen Fall". Bei den Wunschländern ist Deutschland bei der Dreier-Wahl (Deutschland, Frankreich oder Schweden) nur führend bei der Jugend aus Bahrain, bei allen anderen Jugendlichen liegt Deutschland auf dem zweiten oder dritten Platz.

Eine kleine Sonder-Umfrage gab es bei syrischen Flüchtlingen im Libanon. Danach mussten 86 Prozent ohne jede Vorbereitung fliehen, 91 Prozent gaben an, ihr Haus verloren zu haben. Rückkehrbedingung ist für 92 Prozent ein "Umfassender Frieden", Voraussetzung eine Entwaffnung der Kriegsparteien (90 Prozent) und eine anderes politisches System als die jetzige Assad-Diktatur (81 Prozent).

Für Politik interessiert sich nur eine Minderheit der Jugendlichen. Nur 18 Prozent informieren sich aktiv - hier am ehesten die Jugendlichen aus dem Jemen (31 Prozent) und Palästina (23 Prozent, am wenigsten die aus Jordanien (8 Prozent). In Jordanien (32 Prozent), Bahrain (60 Prozent) und Marokko (27 Prozent) wünscht sich die Mehrheit der Jugendlichen einen "starken Mann" als Regierungsform. Mehrheitlich eine Demokratie wünscht man sich im Libanon (69 Prozent), Syrien (52 Prozent) und Tunesien (52 Prozent) sowie Ägypten (51 Prozent). Im kriegerischen Jemen wünschen sich 24 Prozent der Jugendlichen die Demokratie und 21 Prozent einen "starken Mann".

Übrigens wurde auch die "starke Frau" oder der "Sozialismus" als Regierungsformen abgefragt, landeten aber zumeist abgeschlagen unter einem Prozent.

Beim eigenen Engagement führt das "Wählen" mit 30 Prozent, bei Demonstrationen sind es nur noch 11 Prozent, beim Sprayen nur 4 Prozent. Allerdings korrespondiert das mit anderen Antworten, wo es um das Wichtigste im Alltag geht, und da führt insgesamt die Arbeitssuche oder die Nahrungssuche für sich selbst und die Familie, das Nicht-Engagement für politische Forderungen ist also keineswegs freiwillig. Das zeigt sich auch, als nach den wichtigsten Rechten gefragt wird, für die man sich eine Umsetzung erhofft: Das "Leben ohne Gewalt" führt, wird von 85 Prozent der Befragten als wichtigstes Recht eingestuft, bei syrischen Flüchtlingen sagen das 94 Prozent. An zweiter Stelle landet schon die Sicherung der Grundbedürfnisse, das Essen und Trinken, mit 83 Prozent, im Jemen mit 94 Prozent, in Syrien mit 93 Prozent.

Und wem vertrauen die Jugendlichen? Hier führt mit großem Abstand die eigene Familie, sie kommt auf 91 Prozent, im Jemen sogar auf 96 Prozent. Sehr viel weniger Vertrauen findet die Polizei - in Marokko 0 Prozent, in Jordanien 39 Prozent, im Jemen 50 Prozent.

Geht es uns nach dem "Arabischen Frühling" besser? Ja, sagen 26 Prozent der ÄgypterInnen, aber nur 8 Prozent der JemenitInnen. Nein, sagen 37 Prozent der ÄgypterInnen, aber 82 Prozent der JemenitInnen. Bei den syrischen Flüchtlingen sagen 3 Prozent "ja" und 81 Prozent "nein". Allerdings finden viele die Entwicklung persönlich mobilisierend, am meisten in Ägypten (41 Prozent), in Marokko (39 Prozent) sowie in Jemen (35 Prozent) und Tunesien (35 Prozent). Das höchste Engagement zeigen hier junge Männer, die noch bei den Eltern wohnen.

Hauptmotiv für ein Engagement ist die Hilfe für Arme und Schwache, dicht gefolgt von den Interessen der Jugendlichen und dem Umweltschutz. Dagegen landet das Engagement für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen ebenso wie für einen sozialen und politischen Wandel abgeschlagen auf den hinteren Plätzen.

Am Schluss werden die Ergebnisse der Studie noch mit der Shell-Studie von 2016 verglichen, in der deutsche Jugendliche befragt wurde. Und siehe da: groß sind die Unterschiede nicht. Die deutschen Jugendlichen sind etwas weniger politisch interessiert und etwas weniger engagiert als ihre arabischen Altersgenossinnen, die Unterschiede sind aber gering. Groß sind die Unterschiede bei der Einschätzung der Bedeutung der Familie und den Vorteilen des Alleine-Lebens: Deutsche Jugendliche "brauchen" nur zu 62 Prozent die eigene Familie, zu 22 Prozent leben sie lieber alleine. Und während im Jemen 88 Prozent der Jugendlichen Kinder zum Leben brauchen, nur 8 Prozent könnten auch ohne Kinder glücklich werden, brauchen nur 41 Prozent der deutschen Jugendlichen später Kinder - 36 Prozent könnten auch ohne glücklich werden. Und während bei arabischen Jugendlichen der "Glaube an Gott" bei den Werten Rang 1 hat, ist es bei Deutschen nur Rang 18 - für Deutsche sind Partner und Freunde am wichtigsten, was bei arabischen Jugendlichen nur auf Rang 3 (Partner) oder Rang 8 (Freunde) landet.

Interessante Einblicke gibt die Studie. Allerdings braucht man einige Zeit, die über 400 Seiten mit vielen Tabellen zu lesen.

Reinhard Pohl

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