(Gegenwind 355, April 2018)
Im Juli 2017 fand in Hamburgs Innenstadt das Weltwirtschaftsgipfel genannte Treffen von 20 Staatschefs statt, abgeschottet von 31.000 PolizistInnen, die versuchten den Protest zu kontrollieren. Der Vielfalt von Protesten, Performances, Aktionen, Demonstrationen gibt der Film „Der Gipfel - Performing G20” viel Raum, aber auch der auf Machtausübung und Unterwerfung angelegte enorme Polizeieinsatz kommt zwangsläufig immer wieder ins Bild.
Im Abspann der Dokumentation „Der Gipfel - Performing G20” werden zehn Kameraleute namentlich genannt und das FCMC, das alternative und Non-Profit-Medienzentrum, in dem auch der Filmemacher Rasmus Gerlach ehrenamtlich mitgearbeitet hat beim Versuch, eine kritische Öffentlichkeit zum Weltwirtschaftsgipfel G20 in Hamburg herzustellen. In einer dunklen Bildsequenz, aufgenommen mitten in der Nacht bei der Räumung eines friedlichen Straßenfestes durch eine Hundertschaft mit Wasserwerfern kommentiert Rasmus Gerlach beinahe beiläufig, dass er dort so rabiat von einem Polizisten zur Seite gestellt wurde, dass sein Hausarzt am nächsten Tag einen Rippenbruch feststellte. Auf seine Nachfrage, ob er jetzt in die Statistik verletzter Demonstrierender aufgenommen werden würde, antwortet der Arzt: Es gibt keine solche Statistik, die Stadt Hamburg sammelt diese Daten nicht. Im Gegensatz dazu gab es eine penibel geführte Strichliste der Polizeien über verletzte Beamte. Fast 900 haben die Chaoten verletzt! raunte es durch die großen staatsnahen Medien der Stadt von Bild bis hin zum NDR. Rasmus Gerlach befragt Rafael Behr von der Polizeiakademie Hamburg, wie es zu dieser Zahl kommt: Da wird nicht unterschieden, ob jemand umgeknickt ist oder tatsächlich von einem geworfenen Stein getroffen wurde, so Behr sachkundig. Ganz zu schweigen von der großen Zahl dehydrierter PolizistInnen, die in ihren schweren Kampfmonturen schwitzend bei den ausnahmsweise sommerlichen Temperaturen in Hamburg reihenweise kollabiert sind.
Wem noch der Tenor in den dominanten Medien im Gedächtnis ist, der wird erstaunt sein, wenn sie oder er in dieser Dokumentation die zahlreichen, unüberschaubaren kreativen Proteste in einer Auswahl vorgestellt bekommt. Viele kleine Aktionen, die in einer Graswurzelbewegung von kleinen Gruppen sorgsam vorbereitet wurden. Und die so gar nichts mit dem Bild von in Hamburg eingefallenen Horden südeuropäischer Black Blocks zu tun haben, die angeblich die Stadt in Schutt und Asche gelegt hätten.
Rasmus Gerlach und seine Kameraleute haben eine Vielzahl von Szenen zusammengetragen, die geradezu paradigmatisch die offizielle Darstellung detailliert und manchmal erschreckend drastisch demontieren: Die Behauptungen von staatlicher Seite, die gebetsmühlenartig vom Pressesprecher der Polizei Timo Zill bis zum damaligen Bürgermeister Hamburgs, dem Sozialdemokraten und jetzigen Bundesfinanzminister Olaf Scholz immer wieder behauptet wurden, wonach es „keine Polizeigewalt” gegeben habe, sondern „linken Terror”, der erfolgreich bekämpft wurde und dem zum Trotz das „Festival der Demokratie” als Gipfel der weltwirtschaftlichen Nächstenliebe zelebriert wurde.
Schön anzusehen ist etwa, wenn die große Erzählung des Polizeipressesprechers Timo Zill über die „lebensbedrohliche Situation”, in der er sich am Rande der großen autonomen Demonstration am Donnerstag vor dem Gipfel angeblich befunden hätte, mit Bildaufnahmen der Situation konterkariert wird: Er sei beleidigt worden, „Da ist Zill das Schwein”, habe sich in einen Rettungssanitäterwagen flüchten müssen, der sei belagert worden, die Türen seien immer wieder aufgerissen worden, nur mit Mühe wären sie in dem Wagen entkommen. Auf den Bildern zu sehen: Ein Rettungswagen, der ohne Blaulicht langsam rückwärts vom Fischmarkt runterfährt, wo sich die Demonstrierenden locker sammeln. Ab und zu klopft jemand mit der flachen Hand gegen die Seite des Rettungswagens, einmal öffnet jemand eine Tür - nichts dramatisches. Ob es sich mit den Darstellungen von Timo Zill auf den Polizeipressekonferenzen und in den zahllosen Interviews ebenso verhält? Zumindest ist es manchmal erstaunlich, von ihm die offizielle Polizeiversion zu hören, wenn man selbst bei Ereignissen vor Ort war und eine davon stark abweichende Erinnerung hat.
Beim Film „Der Gipfel - Performing G20” habe ich dagegen viele Übereinstimmungen mit meinen Erinnerungen festgestellt. Auch wenn ich einiges anders bewerten würde - dies liegt in der Natur der Sache, bei einer so bunten, lebendigen, auch in sich widersprüchlichen Protestwoche, bei der niemand überall dabei sein konnte - nicht nur wegen der Versuche der Polizeiführung, die Bewegungsfreiheit für Protestierende massiv einzuschränken, sondern weil rund um G20 wirklich Alles am Start war, was es an Gruppierungen der Bewegungslinken so gibt, und zusätzlich noch viele Aktionskünstler und Performer, die ihren Protest in einer kreativen Vielfalt auf den Asphalt gebracht haben, dass es ein Straßentheaterfestival erster Güte war.
Laurie Anderson, die kurz nach dem Gipfel in Hamburg auftrat, erzählt in einem überraschend improvisiert wirkenden Interview, sie habe in Manchester so viele unterschiedliche Berichte zu Hamburg gesehen und gelesen - sie glaube nicht, es sei eine Niederlage für den Protest: Es gab doch „wunderschöne Protestformen von den Demonstrierenden”. Anderson fragt selbst zurück, es ist eher ein Gespräch zwischen ihr und Rasmus Gerlach hinter seiner Kamera. Und sie sagt: „Man kann die Menschen besser unterdrücken mit der Ausrede, sie seien gewalttätig. Gewalt ist ein Vorwand für Repression”. Laurie Anderson hat über G20 eine Musiksequenz komponiert, die im Film über Bilder von Polizeigewalt gelegt wird.
Der Film fängt gut die Stimmung in diesen flirrenden Tagen ein, in denen es nicht nur sommerlich warm war, sondern überall erwartungsvoll und solidarisch unterschiedlichste Leute aktiv wurden. Aber gleichzeitig diese Offenheit, diese Neugier in den Begegnungen auf einen Schlag durch einen brachialen Polizeieinsatz bedrängt oder auch zerschlagen werden konnte. Und wurde. Es war ein Fest der Urbanität, wo aufschien, wozu Stadt gut sein kann, wenn viele Menschen offen und interessiert auf den Straßen, in den Parks sind. Wo in den Vierteln rund um die Messehallen im Karoviertel, wo der G20 Gipfel tagte, Platz auf den Straßen ist für Begegnungen und Phantasie, weil keine Autos fahren, und aus Angst vor Sachbeschädigung der öffentliche Raum nicht zugeparkt ist. Bis spät in die Nacht wurde diskutiert, gefeiert, protestiert. Im Film kommt dabei auch die Nacht der brennenden Barrikaden im Schanzenviertel ausführlich vor, und die Brandstiftung an etwa 30 bis 50 Autos an der gutbürgerlichen Elbchaussee am Freitag morgen. Diese Brandstiftung, die sehr telegene Rauchwolken und qualmende Autowracks produziert hat, wurde in den dominanten Medien als Symbol für angeblichen Terror linker Protestierender aufgebauscht. Kaum die Rede war davon, dass zuvor bereits fünf Tage die Polizeiführung gegenüber allen unkontrollierten Protesten - also eigentlich Allem bis auf die von den Hamburger Regierungsparteien SPD und Grünen sowie dem DGB und den Kirchen organisierte pseudokritische Demonstration „Hamburg zeigt Haltung” - auf Eskalation und Repression gesetzt hat. Der Unmut hier rüber wird im Film sehr deutlich. Auch der zivile Ungehorsam, der beeindruckende Mut, mit der sich Kleingruppen, Künstler wie Blockadeteilnehmende, den martialischen, vermummten und schwerbewaffneten Polizeitrupps entgegenstellen, im Wissen darum, dass Pfefferspray, CS-Reizgas, Tonfas-Polizeiknüppel und Wasserwerfer ohne Vorwarnung eingesetzt werden können. Ein Schlüsselereignis hierfür ist im Film die Zerschlagung der großen Demonstration „Für eine solidarische Welt und gegen den G20” des Welcome-to-Hell-Bündnisses am Donnerstag direkt vor dem Gipfel. Oben auf der Flutschutzmauer filmt eine Kamerafrau mit atemberaubender Souveränität wie neben ihr wie eine Menschenwelle Demonstrierende aus dem ersten, sogenannten Schwarzen Block die Flutschutzmauer hoch klettern, wie sich ihnen Arme entgegenstrecken von Menschen die oben stehen, während die Polizei sich Hundertschaftenweise von der anderen Seite in die Demonstration reinknüppelt. Erstaunlich, wie lange der Schwarze Block noch standgehalten hat und so eine Massenpanik verhindert hat, bei der Menschen tot getrampelt hätten werden können. Die Polizei war hier nicht auf Festnahmen aus, sondern offensichtlich darauf, möglichst Viele aus dem von ihnen dort Vermuteten harten Kern der autonomen Linken zu verletzen - so schilderten es Demonstrierende. Diese Sequenz deckt sich mit meiner Erinnerung. Als Demonstrationsbeobachter stand ich auch oben auf der Flutschutzmauer.
Einer Frau aus der rosa gekleideten Tanzgruppe „Alles Allen!”, die hinter den vorderen Blöcken liefen, wurde an diesem Abend das Bein gebrochen. Im Filmkommentar wird dazu aufgerufen, hierzu Videomaterial oder Zeugenaussagen abzuliefern. „Der Gipfel - Performing G20” macht keinen Hehl daraus, ein parteilicher Film zu sein. Parteilich für eine Kritik des Weltwirtschaftsgipfels, insbesondere der Abschottung gegen Flüchtlinge, parteilich für kreative Protestformen, für Meinungsfreiheit. Auch in Hamburg. Nach Vorführungen des Filmes gab es schon eine Reihe angeregter Gesprächsrunden. Gut so, denn es gibt viele offene Fragen rund um die Gipfelwoche. Der Film regt an, sich dazu zusammen zu setzen.
Gaston Kirsche
„Der Gipfel - Performing G20”, BRD 2018, 82 Minuten, Dokumentarfilm. Regie: Rasmus Gerlach; Kamera: Max Bryan, Irene Bude, Doro Carl, Birgit Dunkel, FCMC, Markus Fiedler, Mario Gehrke, Rasmus Gerlach, Ronald Goris, Alexandra Grimm, Maren Grimm, Paul Kulms, Annette Pankow; Schnitt: Elisabeth Hirsch; Bildtechnik: Martin Heckmann; Musik: Laurie Anderson, Lou Reed, Oded Kafri & Die Goldenen Zitronen; Mischung: Stephan Konken; Performer: Megafonchor, Therese Schneider, Justus Schwerdtfeger, Schwabinggrad Ballett.
Vorführungen:
7. Mai, 20.15 Uhr, Filmraum in der Müggenkampstraße 45; Hamburg
9. Mai, 20 Uhr, Abaton, Allendeplatz 3, Hamburg (mit Filmgespräch).
16. Juni, 21 Uhr, Lutterbeker, Dorfstraße 11, Lutterbek bei Kiel.
7. Juli zum Jahrestag des G20, Abaton, Allendeplatz 3, Hamburg.
18. September, Deichtorhallen, Deichtorstraße 1-2, Hamburg (Foto-Triennale mit Foto-Ausstellung zum Film).
Weitere Termine unter www.der-gipfel.hamburg/