(Gegenwind 353, Februar 2018)
Im Jahre 2015 sind sehr viel mehr Flüchtlinge gekommen als in den Jahren zuvor. Das lag vor allem am Verlauf des Krieges in Syrien: Dort stand der Diktator Assad mit dem Rücken zur Wand, kurz vor Verlassen des Landes, weil seine Armee auseinandergelaufen war und auch die iranischen Milizen ihn nicht mehr retten konnten. Erst das Eingreifen Russlands brachte die Wende - und für viele Flüchtlinge in der Türkei, Irak, Jordanien, Libanon und Ägypten die Erkenntnis, dass es in Syrien für sie keine Zukunft gab und im Flüchtlingslager keine Chance. Also brachen sie nach Europa auf, und in diesem Strom ließen sich viele afghanische, iranische, irakische und andere Flüchtlinge mit treiben. Erst Ende 2016 konnten die Grenzen weitgehend geschlossen werden, die Routen wurden wieder gefährlicher.
Jahr | Asylanträge | Entscheidungen |
---|---|---|
2015 | 476.649 | 282.726 |
2016 | 745.545 | 695.733 |
2017 | 222.683 | 603.428 |
Das „Bundesamt für Migration und Flüchtlinge” (BAMF) hat erst mit Verzögerung auf die Situation reagiert. 2015 konnte es nicht viele Asylanträge annehmen und noch weniger entscheiden. Danach wurden mehr Asylanträge aufgenommen, die Entscheidungen aber verschoben. Zur Zeit warten noch rund 70.000 Antragstellerinnen und Antragsteller auf ihren Bescheid (siehe Tabelle).
Viele Antragstellerinnen und Antragsteller klagen gegen den Bescheid. Das tun nicht nur diejenigen, die abgelehnt wurden. Es gibt auch solche, die nur „subsidiären Schutz” erhalten, landläufig werden sie „Kriegsflüchtlinge” genannt. Sie klagen dann dagegen, dass sie nicht als Flüchtlinge anerkannt wurden („Flüchtlingseigenschaft” genannt), denn damit sind mehr Rechte verbunden: Man kann die Familie nachholen und schneller einen unbefristeten Aufenthaltsstatus erreichen.
Die Bundesregierung hat auf Anfrage berichtet (Drucksache 19/385), dass zwischen Januar und September 2017 bundesweit 272.645 Klagen eingegangen sind. In diesen neun Monaten sind auch 98.933 Klagen entschieden worden, aber zum 30. September 2017 waren noch 356.477 Verfahren anhängig.
Zwischen 30 und 60 Prozent der Klagen, über die am Ende entschieden wird, sind erfolgreich. Die Quoten unterscheiden sich stark nach Herkunftsländern und dem Ziel der Klagen. Auffällig häufig sind afghanische KlägerInnen erfolgreich, die allerdings oft vorher abgelehnt wurden. Es gab 7.635 Entscheidungen in der Sache, davon 4.660 positive Urteile (61 %) und 2.975 negative Urteile (39 %). Syrische KlägerInnen sind noch erfolgreicher, hier geht es allerdings oft darum, dass sie vom Bundesamt subsidiären Schutz erhielten, aber als Flüchtlinge anerkannt werden wollen. Von 21.626 Klagen, die inhaltlich entschieden wurden, waren 14.944 (69 %) erfolgreich, 6.682 (31 %) wurden abgelehnt. Es gibt auch Klagen aus Herkunftsländern, die fast nie Erfolg haben: Serbien, Albanien, Kosovo. Insofern sagen solche Statistiken nichts über die persönlichen Chancen.
Allein zum subsidiären Schutz waren am 30. September 75.156 Klagen (3.339 davon in Schleswig-Holstein) und mehrere Tausend andere Rechtsmittel (z.B. Anträge auf Zulassung der Berufung) anhängig, eine Folge der Entscheidung der großen Koalition, das Recht auf Familienzusammenführung auszusetzen. Da Gerichtsverfahren zu Asylanträgen für die Klägerinnen und Kläger grundsätzlich kostenlos sind, wird hier viel Steuergeld ausgegeben, das sinnvoller in die Integration der nachziehenden Familienangehörigen investiert wäre - aber diese Art von Logik hat in Berlin zur Zeit kaum Chancen.
Gerade bei den „Verbesserungsklagen” von subsidiär Geschützten sind sich die Obergerichte der Länder übrigens uneinig. Während in Bayern, Baden-Württemberg, Berlin, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfahlen und Sachsen-Anhalt die Kläger meistens gewinnen, verlieren sie in den übrigen Bundesländern, so auch in Schleswig-Holstein in der Regel. Das liegt an der unterschiedlichen Einschätzung der Bedeutung der Wehrdienst-Entziehung: Während die „positiven” Bundesländer allein in der Nicht-Ableistung des Wehrdienstes für Assad eine Verfolgung annehmen, sagen die „negativen” Bundesländer, dass hierzu mangels Rückkehrern die Erfahrung fehlt. Wie Rückkehrer tatsächlich behandelt würden, weiß man natürlich nicht.
In Schleswig-Holstein, das bisher als Konsequenz der „Kriegsdienst-Verweigerung” keine Verfolgung annimmt, sind eine Reihe von Berufungen zugelassen worden, damit das Oberverwaltungsgericht dazu urteilen kann. Die Verhandlung dazu ist für den 26. April geplant.
Auch in Schleswig haben die Klagen stark zugenommen. Es sind daraufhin zwar mehr Richter eingestellt werden, aber die können erst im Folgejahr ins Geschehen eingreifen, so dass sie Zahl der offenen Verfahren trotzdem gestiegen ist. Klagen werden laut Statistik „erledigt” - es sind längst nicht immer Urteile oder Beschlüssen, mit denen inhaltlich über die Klage entschieden wird. Oft werden Klagen auch zurückgezogen oder durch eine neue (und positive) Entscheidung des Bundesamtes erledigt.
Zurückgezogen werden Klagen, wenn die Beratung einer Rechtsanwältin oder eines Rechtsanwalts ergibt, dass es kaum Aussichten gibt. Es gibt auch Kläger, in deren Leben sich etwas ändert, sie zum Beispiel heiraten - und dann keinen Wert mehr auf eine „bessere” Entscheidung zu ihrem Asylantrag legen.
2014 hat das Gericht erstmals mit der 5. Kammer eine Kammer nur für Asylverfahren gegründet. 2014 kamen 4 Richterstellen dazu, mit der 10. Kammer wurde eine zweite „Asylkammer” gegründet. 2016 kamen wiederum 4 Richterstellen (immer zusätzlich auch die nötigen Stellen für MitarbeiterInnen in den Geschäftsstellen) dazu. 2017 kamen dann acht Richterstellen dazu, die 13. und am 1. Mai die 14. Kammer wurden als weiter „Asylkammern” gegründet. Für 2018 hat das Justizministerium neun neue Stellen für Richterinnen und Richter am Verwaltungsgericht Schleswig angekündigt.
Afghanistan | 2616 | 28 % |
Armenien | 1448 | 15 % |
Irak | 1401 | 15 % |
Syrien | 1369 | 15 % |
Iran | 552 | 6 % |
Russland | 455 | 5 % |
Jemen | 312 | 3 % |
Türkei | 176 | 2 % |
Eritrea | 172 | 2 % |
Somalia | 160 | 2 % |
sonstige | 654 | 7 % |
Das Land möchte natürlich die Zahl der Richterinnen und Richter nicht so weit aufstocken, dass alle Klagen in kürzester Zeit abgearbeitet werden können. Denn in der zweiten Jahreshälfte 2017 ging die Zahl der Klagen schon zurück, insbesondere ist die Zahl der neuen Asylanträge (siehe oben) bundesweit stark zurückgegangen. Es handelt sich also um einen vorübergehenden Engpass, teils müssen klagende Flüchtlinge auch mal 30 Monate auf einen Termin warten. Richterinnen und Richter werden aber auf Lebenszeit (bis zur Pensionierung) ernannt, können also nicht auf Zeit eingestellt werden, wie es das BAMF mit den AnhörerInnen und EntscheiderInnen macht.
Die Klagen 2017 kamen vor allem von AntragstellerInnen aus Afghanistan (siehe Tabelle links).
Jahr | Eingänge | Erledigung | Bestand |
---|---|---|---|
2012 | 836 | 859 | 800 |
2013 | 1087 | 982 | 905 |
2014 | 1415 | 1244 | 1076 |
2015 | 1945 | 2079 | 944 |
2016 | 5209 | 3248 | 2906 |
2017 | 9315 | 4529 | 7692 |
Von den 9.315 Eingängen waren 5.745 Klagen wegen der Ablehnung des Bundesamtes. 1.531 waren „Verbesserungsklagen”, bundesweit auch „Aufstockungsklagen”, von jüngeren RichterInnen „Upgrade-Klagen” genannt. Der Rest hatte die Untätigkeit des BAMF, Dublin-Verfahren oder Folgeverfahren zum Inhalt.
Von allen Verfahren waren am 1. Januar 2018 noch 7.692 übrig (siehe Tabelle rechts).
In Schleswig sind allerdings nur ein Viertel der Asyl-Klagen erfolgreich, in einem ähnlichen Bereich liegt der Erfolg von Verbesserungsklagen. Wie weit das mit den Ergebnissen in anderen Bundesländern vergleichbar ist, ist umstritten: Die Zusammensetzung der Herkunftsländer ist in den einzelnen Bundesländern genauso unterschiedlich wie die Zusammensetzung der Fluchtgründe, die dann vorgebracht werden. Allerdings ist das Verwaltungsgericht in Schleswig auch strenger bei der Beurteilung von Konversion, Wehrpflicht in Syrien oder sicheren Gebieten in Afghanistan - da haben es klagende Flüchtlinge an anderen Gerichten einfacher.
In der zweiten Instanz, beim OVG, sind 303 Verfahren anhängig, wobei allein 2017 389 Verfahren neu eingegangen sind. Hier kommen allerdings 86 % der KlägerInnen (259) aus Syrien, die meisten Verfahren betreffen die Einschätzung, ob die Entziehung von der Wehrpflicht zu einer asylrelevanten Verfolgung führt - das wird, wie gesagt, ab dem 26. April vom OVG grundsätzlich entschieden.
(alle Zahlen vom Verwaltungsgericht Schleswig von Malte Sievers, Information vom 17. Januar 2018)
Verhandlungen vor dem Verwaltungsgericht sind öffentlich. Verhandelt wird in relativ großen Sälen mit 20 bis 50 Plätzen für Besucherinnen und Besucher.
In der Realität bleiben diese Plätze meistens frei. Das ist schade, denn der Besuch von Gerichtsverhandlungen ist für viele interessant und hilfreich.
Beratungsstellen und Mitglieder von Freundeskreisen oder auch nicht organisierte Unterstützerinnen und Unterstützer von Flüchtlingen können hier den Ablauf solcher Verhandlungen kennen lernen. Sie können außerdem die Einschätzung der aktuellen Situation im Herkunftsland für unterschiedliche Konstellationen kennen lernen. Richterinnen und Richter sind, soweit sich zwischen zwei Verhandlungen Pausen ergeben, oft bereit, auch Fragen zu beantworten - sie machen allerdings keine Beratung zu Einzelfällen. Kennen lernen kann man bei solchen Besuchen auch Anwältinnen und Anwälte, die man gleich bei der Arbeit sieht.
Dolmetscherinnen und Dolmetscher können hier einen Blick in diesen Teil des Berufes werfen. Das Verwaltungsgericht bestellt für Verhandlungen zum Asylrecht immer DolmetscherInnen, unabhängig davon, ob die eine Klägerin oder der andere Kläger ausreichend Deutsch kann.
Flüchtlinge, denen eine Verhandlung bevorsteht, können sich hier die Verhandlungen anderer ansehen. Das Verwaltungsgericht in Schleswig arbeitet völlig anders als Gerichte in den Herkunftsländern, und hier bestehen oft ganz falsche Vorstellungen. Nur wenn man den Ablauf der Verahndlungen kennt, kann man sich auf die eigene Verhandlung vorbereiten. Außerdem kann der Einblick in die Abläufe in solchen Verhandlungen auch ein wenig von der Nervosität nehmen, die man natürlich vor der eigenen Verhandlung hat.
Oft sprechen Geflüchtete davon, man habe als Ergebnis des Asylverfahrens „ein Jahr” oder „drei Jahre” bekommen. Das ist aber die Laufzeit der Aufenthaltserlaubnis, die sowieso verlängert wird, solange es keine Änderungen gibt.
Das Bundesamt entscheidet über die Flüchtlingseigenschaft: Die wird allen zuerkannt, die persönlich verfolgt worden sind (das heißt dann „vorverfolgt ausgereist”) und die bei einer Rückkehr persönliche Verfolgung zu erwarten haben. Wenn solch eine Verfolgung vorliegt, wird aber auch noch untersucht, zu welcher Kategorie die AntragstellerInnen bzw. KlägerInnen gehören. Denn eine Verfolgung führt nur zu diesem Schutz, wenn sie wegen der Rasse oder ethnischen Herkunft, wegen der Religion, wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe erfolgt ist oder droht. Eine „rein private” Auseinandersetzung, zum Beispiel um eine Erbschaft oder einen Arbeitsplatz, führt oft nicht zur Anerkennung.
Ein „subsidiärer Schutz” wird gegeben, wenn allgemeine Gefahren drohen, also bei Krieg, einer drohenden Todesstrafe oder verbreiteter Folter. Wer diesen Status bekommt, hat weniger Rechte. Die Familienangehörigen erhalten nicht ohne Weiteres ein Visum, und man bekommt keinen blauen Pass (Flüchtlingspass). Will man also ins Ausland reisen, benötigt man einen Nationalpass.
Wer jetzt aber subsidiären Schutz erhalten hat und klagt, um den Flüchtlingsschutz zu erhalten, muss das auch gut begründen.
Es kommt immer wieder vor, dass Flüchtlinge vor Gericht schildern, sie hätten geklagt, um „drei Jahre” zu bekommen oder um Familienangehörige nachzuholen. Das ist für alle Richterinnen und Richter nachvollziehbar, aber keine ausreichende Begründung für die Klage: Man will ja als Flüchtling anerkannt werden, dazu muss man die persönliche Verfolgung schildern.
Andere Flüchtlinge berichten vor Gericht über ihr jetziges Leben: Sie haben Deutsch gelernt, sie haben viele Freunde, sie verdienen ihr Geld selbst, sie haben ihre Kinder zum Kindergarten oder Schule angemeldet. Das wird von Richterinnen und Richtern grundsätzlich natürlich positiv gesehen, hat aber nichts mit der Klage zu tun. In der Klage geht es um die erlittene und die befürchtete Verfolgung. Das Asylrecht soll Verfolgte schützen, unabhängig davon, wie schnell sie Deutsch lernen oder Arbeit finden.
Besonders problematisch ist es allerdings für diejenigen, die bereits in einem anderen EU-Land Schutz erhalten haben. Zu den sogenannten „Dublin-Staaten” gehören auch Norwegen, Island, Schweiz und Liechtenstein. Wer zum Beispiel in Bulgarien oder Italien anerkannt wurde, für denjenigen (oder diejenige) ist kein zweiter Asylantrag in Deutschland vorgesehen. Er ist „unzulässig”, eben weil es im Asylverfahren um Schutz vor Verfolgung geht, nicht um den Zugang zu einer Wohnung oder einem Sprachkurs.
Schlimmer noch: Wer woanders Schutz erhalten hat, darf mit den dortigen Aufenthaltstitel nur als BesucherIn visumfrei in andere Länder reisen, und zwar immer nur für höchstens 90 Tage. Dieses visumfreie Besuchsrecht setzt voraus, dass man eine Krankenversicherung hat und genug Geld zum Leben. Wer Asyl beantragt, bezieht meistens auch Leistungen, schon durch die Unterbringung in einer Flüchtlingsunterkunft. Damit verliert man aber sein Recht, sich hier als BesucherIn aufzuhalten. Die Behörden werden also versuchen, die Betroffenen zur Rückkehr zu bewegen oder abzuschieben. Im Gegensatz zu dem, was viele glauben, gibt es da keine Fristen. Wenn die Behörde erstmal andere Dinge bearbeitet und die Abschiebung erst später organisiert, hat man durch den längeren Aufenthalt hier keine neuen Rechte gewonnen, sondern eher verloren, weil auch die 90-Tage-Frist überschritten ist.
Anders kann es sein, wenn ein Asylantrag in einem anderen Land abgelehnt wurde. Dann kann man es mit einem „Zweitantrag” versuchen. Die Bundesrepublik Deutschland wird dennoch eine Abschiebung versuchen. Außerdem wird ein Zweitantrag nur bearbeitet, wenn sich die Situation im Herkunftsland oder die Beweislage in letzter Zeit geändert hat, die Ablehnung des anderen Landes wird also erstmal übernommen.
Generell will das Asylrecht in Kombination mit dem Europarecht verhindern, dass Flüchtlinge mehrere Asylanträge in mehreren Ländern stellen. Theoretisch sind alle Mitgliedsländer der EU rechtsstaatlich organisiert und führen Asylverfahren zuverlässig durch - faktische Unterschiede in der Praxis werden teils von Gerichten so gesehen und anerkannt, von der zuständige Behörde eher nicht.
Wer jetzt geklagt hat, muss sich darauf einstellen, dass es eine längere Wartezeit bis zur Verhandlung gibt als noch vor zwei, drei Jahren. Das gilt nicht für alle Herkunftsländer und alle Kammern, zumal nur etwas mehr als die Hälfte der Klagen tatsächlich mündlich verhandelt wird, aber die rein zahlenmäßige Belastung ist erkennbar. 2017 sind über 9000 Klagen neu gekommen, im gleichen Zeitraum wurden rund 4500 Klagen erledigt, also entschieden oder zurückgezogen.
Gleichzeitig wurden 7.692 Klagen ins Jahr 2018 übernommen, die voraussichtlich nicht alle im laufenden Jahr erledigt werden können, selbst wenn neue Richterinnen und Richter dazu kommen.
Um Besuche zu planen, muss man zunächst erfahren, wann mündliche Verhandlungen stattfinden. Welche Kammer für welche Herkunftsländer zuständig ist, kann man im Geschäftsverteilungsplan auf der Internet-Seite des Gerichts sehen. Die Verteilung für 2018 wird vielleicht noch ein- oder zweimal verändert, man sollte sich also aktuell informieren.
Jede Kammer hat eine Geschäftsstelle, die Durchwahlen stehen ebenfalls auf der Internet-Seite. Dort kann man nach Terminen fragen. Diese können sich allerdings immer noch kurzfristig ändern - am Morgen des Verhandlungstages kann eine Richterin oder Richter, eine Anwältin oder ein Anwalt, eine Dolmetscherin oder ein Dolmetscher, eine Klägerin oder ein Kläger krank werden oder aus anderen Gründen absagen. Manchmal passiert es auch, dass alle bereit sind, aber die Klägerin oder der Kläger nicht erscheint, ohne Bescheid zu sagen.
Oft finden aber mündliche Verhandlungen zum gleichen Herkunftsland im gleichen Saal mit gleicher Dolmetscherin oder Dolmetscher hintereinander statt, je nach Schwierigkeit der Fragestellungen im Abstand von 30, 60 oder 90 Minuten angesetzt. Da das „rechtliche Gehör” gewährleistet ist, kann kein Richter die exakte Dauer einer Verhandlung planen, sondern nur grob schätzen.
Immer mal wieder gibt es auch Terminlisten in der Gegenwind-Reaktion, die man bekommen kann (redaktion@gegenwind.info). Dabei gilt: Je länger die Termine in der Zukunft liegen, desto eher kann sich noch etwas ändern. Oft kommen später noch Verhandlungen dazu, wenn die Richterin oder der Richter zunächst Termine um 10 und 11 Uhr plant, danach noch Termine um 9 Uhr und 12 Uhr dazu nimmt.
Und wer sicher sein will, dass der Besuch sich lohnt, kann sich auch Tage aussuchen, an denen zwei oder drei RichterInnen parallel in verschiedenen Sälen verhandeln.
Afghanistan | 2362 | 32 % |
Irak | 1346 | 19 % |
Syrien | 1107 | 15 % |
Armenien | 1101 | 15 % |
Iran | 448 | 6 % |
Russland | 345 | 5 % |
Jemen | 253 | 4 % |
Türkei | 157 | 2 % |
Eritrea | 99 | 1 % |
Somalia | 89 | 1 % |
Der vorsitzende Richter Lüthke wollte eigentlich um 9.00 Uhr starten. Aber wir beginnen mit einer Pause, denn der erste Termin wurde kurzfristig auf Wunsch des Anwalts auf Mitte Januar vertagt. Der Dolmetscher Kameran Bisarani wartet mit. Er stammt selbst aus dem Irak und kann Arabisch, Kurmanci und Sorani.
Zum nächsten Termin erscheint eine Frau mittleren Alters aus dem Irak, zusammen mit ihrer Rechtsanwältin Anke Thiesing-Rieck. Die Klägerin hat sich im Irak engagiert, hat sich gemeinsam mit anderen für die Gleichberechtigung der Frauen und gegen Korruption eingesetzt. Dabei hat sie auch an Demonstrationen und Kundgebungen teilgenommen. Die Gruppe, bei der sie mitarbeitete, hat sich seit 2007 getroffen und ist ab 2011 an die Öffentlichkeit gegangen. Sie wurde ab 2015 bedroht und auch körperlich angegriffen. Damals richteten sich die Proteste dagegen, dass es den Abgeordneten gut ging, aber die Angestellten von Abgeordneten auf ihren Lohn warteten. Auch beriet das Parlament darüber, das Heiratsalter auf 15 Jahre herabzusetzen. Bei der Rückkehr von einer Kundgebung wurde sie von ein paar Männern angegriffen, die versuchten, sie in einen Geländewagen zu zerren. Sie habe laut geschrien, eine Hochzeitsgesellschaft in der Nähe wurde aufmerksam, sie wurde losgelassen. Die Männer kannte sie vom Sehen: Sie gehörten zum Geheimdienst, hatten auch die Kundgebung beobachtet. Der Richter diskutiert noch ein wenig mit der Anwältin. Das Problem ist: Das BAMF hat den Asylantrag abgelehnt, weil es der Klägerin nicht geglaubt hat. Es hängt also davon ab, ob der Richter ihr heute glaubt. [Nachtrag: Sie bekam den Flüchtlingsschutz.]
Bis zur nächsten Verhandlung ist ein wenig Zeit. Der Richter Henning Lüthke erläutert ein paar Punkte zum Verfahren fürs Publikum und erwähnt, dass im nächsten Jahr nur die 6. und die 11. Kammer für Irak-Verfahren zuständig sind, die anliegenden rund 1.300 Klage also vermutlich nicht alle im Jahre 2018 bearbeitet werden können.
Der nächste Kläger ist ein junger Mann, Kurde aus der Nähe von Suleymania. Er kommt zusammen mit seinem Rechtsanwalt, Hans-Jürgen Wolter aus Lübeck. Der Kläger hat in der Landwirtschaft gearbeitet. Eines morgens hat er beim Pflügen, zusammen mit seinem Vater, vier bis fünf Leichen auf dem Feld gefunden. Als sie dabei waren, die Toten zu bergen, sei auf sie geschossen worden, sie sind weggelaufen. Er erklärt sich die Funde damit, dass auf der anderen Straßenseite, also direkt an ihrem Feld, ein Gebäude des Geheimdienstes der PUK (Patriotische Union Kurdistans) liegt. Zurück in ihrem Dorf, hätten sie Drohungen erhalten: Man würde sie töten, wenn sie ihr Dorf nicht verließen. Er habe sich versteckt, wäre zum Cousin nach Suleymania gegangen, der habe ihn im LKW über die Grenze in die Türkei geschmuggelt. Die Drohungen seien danach auch noch weiter gegangen, inzwischen seien zwei Schwestern und vier Brüder in der Türkei, das Haus in ihrem Dorf sei zerstört, das Feld von der PUK beschlagnahmt. Der Richter möchte wissen, warum er in der Anhörung beim Bundesamt von einer Leiche gesprochen habe, heute aber von vier oder fünf Leichen. Der Kläger kann dazu nichts sagen, trotz nochmaliger Nachfrage des Richters: Es seien vier oder fünf Körper gewesen, zur Anhörung könnte er nichts sagen. Auch hier ist für die Entscheidung wichtig, ob der Richter ihm glaubt, das BAMF glaubte ihm nicht.
Der nächste Kläger ist ein junger Mann, Kurde aus der Nähe von Erbil. Er kommt mit seinem Anwalt Murat Güler aus Lübeck. Der Kläger berichtet, dass er Psychologie studiert hat. Er wäre sunnitischer Muslim gewesen, sei dies aber nicht mehr. Deshalb sei das Arbeitklima in der Uni schlecht gewesen, auch das Verhältnis zu seinen Eltern sei schlecht, deshalb habe er das Land verlassen. Das BAMF hat den Asylantrag abgelehnt, auch Richter Lüthke hat per Gerichtsbescheid abgelehnt. Den kann man akzeptieren, man kann auch eine mündliche Verhandlung beantragen, was in diesem Fall geschehen ist. Jetzt vor Gericht erläutert der Kläger zusätzlich, er habe beim Bundesamt nicht alles erzählen können, weil der Dolmetscher ihn immer wieder unterbrochen habe und ihn aufgefordert habe, sich auf das Wichtigste zu konzentrieren. Er erläutert zusätzlich, er habe zwei Jahre als Lehrer gearbeitet, der stellvertretende Schuldirektor sei sehr religiös und habe sich bei seinem Vater über ihn und seine Religionslosigkeit beschwert. Sein Vater habe diese Kritik übernommen, auch sein älterer Bruder, der beim Militär war, sei extra in die Schule gekommen und habe gedroht, ihn zu töten. Der Anwalt ergänzt, der Kläger habe schon seine Diplomarbeit zum Thema „Macht der Glaube aggressiv?” geschrieben habe. Außerdem sei er hier zum christlichen Glauben übergetreten, er überreicht dem Richter ein dreiseitiges Schreiben der Pastorin Jürgensen aus Stockelsdorf. Der Richter ist etwas gereizt: Warum man solch ein Schreiben nicht rechtzeitig per Post schicken könnte, es wäre ja schon ein paar Tage alt. Die Verhandlung wird für zehn Minuten unterbrochen, der Richter muss jetzt erst lesen. Anschließend fragt der Richter den Kläger nach ein paar Punkten im christlichen Glauben. Am Schluss erläutert er: Die Anfeindungen im Kollegium wären keine Verfolgung im Sinne des Asylgesetzes. Wie weit die Taufe zum Christen eine Gefahr darstellt, will er noch prüfen.
Der Kläger zum ersten Termin ist nicht gekommen. Der Richter Dr. Sievers nutzt die Zeit, um uns, der „Öffentlichkeit”, ein paar grundsätzliche Fragen zu erklären. Die meisten Kläger aus Syrien sagen beim BAMF, dass ihnen die Wehrpflicht droht, sie aber nicht auf Seiten des Diktators an Krieg und Massakern teilnehmen wollen. Sie bekommen subsidiären Schutz, klagen aber, weil sie als Deserteure verfolgt werden. Das sehen die Verwaltungsgerichte in Deutschland verschieden. Einige (VGH Baden-Württemberg) geben ihnen den Flüchtlingsschutz, auch weil Assad grundsätzlich mörderisch agiert. Das Gericht in Schleswig lehnt solche Klagen eher ab, wenn nicht noch etwas Spezifisches dazu kommt. Eine andere Sache ist allerdings vom Bundesverfassungsgericht entschieden: Prozesskostenhilfe erhalten die Kläger.
siehe: BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 29. August 2017 - 2 BvR 351/17 - Rn. (1-15), https://www.bverfg.de/e/rk20170829_2bvr035117.html
und: BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Oktober 2017 - 2 BvR 1352/17 - Rn. (1-16), https://www.bverfg.de/e/rk20171018_2bvr135217.html
(letzterer zu Schleswig-Holstein). Dr. Sievers hält selbst den Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes für falsch, wendet ihn aber natürlich an: Die Ablehnungen von Prozesskostenhilfe werden in allen Verhandlungen korrigiert.
Der nächste Kläger erscheint, zusammen mit seinem Anwalt Sükrü Bulut. Er hat subsidiären Schutz wegen des drohenden Wehrdienstes, in einem Gerichtsbescheid ist die Klage bereits abgelehnt worden. Er ist geflüchtet, bevor er einberufen wurde. Allerdings gibt er an, dass Soldaten oder Polizisten bereits ein Dutzend Mal bei seinem Vater waren und nach ihm gesucht haben. Während der Richter meint, das würde nicht reichen, um Flüchtlingsschutz zu bekommen, ist der Rechtsanwalt Bulut anderer Meinung: Wer den Wehrdienst nicht leistet, wird als „Vaterlandsverräter” verfolgt, und das sei sehr wohl politische Verfolgung.
Der nächste Kläger, vom gleichen Rechtsanwalt vertreten, hat in den Grundzügen eine ähnliche Geschichte. Er wird wie sein Bruder gesucht, weil beide nicht zum Wehrdienst erschienen sind. Der Kläger berichtet aber darüber hinaus, dass die Polizei ungefähr einmal im Monat bei seiner Mutter auftaucht und nach ihnen fragt. Hier ergibt sich eine kurze Diskussion, weil der Dolmetscher sagt: „bei seiner Familie”. Der Anwalt fragt nach, welche Vokabeln im Arabischen benutzt wurden, denn der Vater des Klägers ist tot. Der Dolmetscher ist sehr unsicher, dolmetscht zum ersten Mal beim Gericht, weil er kurzfristig für den eigentlich geladenen Dolmetscher eingesprungen ist. Der Kläger gibt an, dass er seine Informationen von einem Freund aus dem Libanon habe, der gelegentlich mit der Mutter Kontakt hat. Sie direkt anzurufen sei zu gefährlich. Er gibt außerdem an, er habe im Mai und Juni genauso wie sein Bruder in den USA Assad-kritische Einträge bei Facebook veröffentlicht. Daraufhin sei der jüngere Bruder in Syrien festgenommen worden, er sei geschlagen worden, und er sollte den Brüdern ausrichten, dass sie ihre Facebook-Einträge löschen sollten. Sie haben das gemacht, der Kläger kann auch keinen Ausdruck nachweisen, um was für Einträge es sich handelte. Der Richter ist etwas ratlos, ob er das glauben soll oder nicht. Der Richter hält dem Kläger vor, dass er sieben Jahre in Dubai gelebt habe, dann aber in den Libanon geflogen sei und mit dem Auto nach Syrien gefahren sei. Dort sei er zwar festgenommen, aber nach einer Woche wieder freigelassen worden. Ja, sagt der Kläger, seine Mutter habe dafür rund 1700 Euro Bestechungsgeld an die Polizei bezahlen müssen. Und warum hat er das nicht beim BAMF erzählt? Der Kläger sagt, er habe befürchtet, dass das Assad-Regime dann alles erfährt. Aber warum, fragt der Richter weiter, habe er es dann bei Facebook veröffentlicht? Weil er gegen Assad sein, so der Kläger. Schließlich startet der Richter seinen Laptop und bittet den Dolmetscher, die Fahndungslisten der syrischen Regierung (die stehen im Internet) nach dem Namen des Klägers zu durchsuchen. Gefunden und ausgedruckt werden drei Fahndungen nach Verwandten, er selbst wird nicht gesucht. Die Chancen, so der Richter, seien auf den ersten Blick gering, aber er will sich das in den nächsten Tagen nochmal ansehen.
Beim vierten Termin erscheint ein junger Mann, der sich auch auf den drohenden Wehrdienst beruft, subsidiären Schutz erhielt und geklagt hat. Er hat schon eine Ablehnung per Gerichtsbescheid bekommen, den aber nicht akzeptiert und die mündliche Verhandlung gefordert, die er natürlich bekommt. Seine Chancen scheinen auch schlecht: Sein Vater hat als Armee-Arzt bei der Niederschlagung des Aufstandes von Hama 1982 mitgemacht, ist damals aber desertiert und nach Saudi-Arabien gegangen. Dort wurde der Kläger geboren, dort hat er gelebt. Er war nur kurz zu Besuch in Syrien, 2009 bei seiner Tante. Er hat angegeben, dass er keinen Pass hat, sondern nur eine ID-Karte. Dem widerspricht, dass die Bundespolizei einen Pass bei ihm gefunden hat, der jetzt in der Akte ist. Der Pass sei von der Botschaft, sagt der Kläger. Zur Begründung seiner Furcht vor Verfolgung gibt er an, er habe in Riad an Demonstrationen gegen Assad teilgenommen.
Auch der fünfte Termine ist ähnlich: Der junge Mann wird von seiner Rechtsanwältin Cornelia Ganten-Lange begleitet. Er gibt an, dass er verhaftet wurde, um ihn zum Wehrdienst zu zwingen, und zwar zwei Monate. Der Richter hält ihm vor, dass er bei der Anhörung beim BAMF nur von einem Tag im Gefängnis gesprochen hat. Der Kläger sagt, das sei ein Fehler des Dolmetschers gewesen, es wären zwei Wochen Haft gewesen, auch sei er gefoltert worden.
Mit dem Termin ist der Verhandlungstag für Dr. Sievers zu Ende. Es kommt noch der Richter Lüthke von der 11. Kammer, der die Anwesenheit des Dolmetschers nutzen wollte, um eine Klage eines Ehepaares aus dem Irak zu verhandeln. Nur der Ehemann ist mit seinem Anwalt erschienen, spricht aber Kurdisch. Das hätte der geladene Dolmetscher gekonnt, aber die kurzfristige Vertretung nicht: Der anwesende Dolmetscher kommt aus dem Libanon und kann nur Arabisch. Der Anwalt teilt mit, das Ehepaar habe sich inzwischen getrennt, die Frau wollte nicht mit dem Mann zusammen verhandeln. Der Richter entscheidet auf Vertagung auf Mitte Januar, dann mit einem passenden Dolmetscher und zwei Terminen für Mann und Frau.
Wir entscheiden uns dafür, in den Nachbarsaal zu gehen. Dort verhandelt der Richter Bleckmann, ebenfalls von der 13. Kammer, mit Hamza Bilal als Dolmetscher.
Auch hier sitzt als Kläger ein junger Mann aus Syrien, seine Klage ist mit Gerichtsbescheid bereits abgelehnt worden. Er ist ohne seine Anwältin da. Beim Bundesamt hatte er einen Pass vorgelegt, aber kein Militärbuch. Das legt er jetzt vor, seine Mutter hat es vor fünf Monaten mitgebracht, als sie selbst nach Deutschland geflohen ist. Danach ist er vom Militärdienst zurückgestellt worden, und zwar bis April 2016. Er ist dann knapp vor dem Termin geflohen. Der Richter meint, dass die Zurückstellung eher darauf hinweise, dass er ansonsten nicht verfolgt wird. Der Kläger sagt noch, dass er Syrien illegal verlassen habe - für Wehrpflichtige sei das Verlassen des Landes verboten.
Die nächste Verhandlung beginnt etwas verspätet. Die Klägerin ist da, eine Frau mittleren Alters. Aber die Anwältin hängt noch bei einer Anhörung beim BAMF in Neumünster fest. Sie kommt 20 Minuten später. Die Klägerin war als Dozentin an einer Uni und Fachhochschule, sie hat eine Zeitschrift geleitet. Ihr Problem war nicht nur ihre Meinung, sondern auch, dass ihr Cousin der Präsident der syrischen Exil-Regierung in Istanbul ist. Sie bekam Drohungen, Beschimpfungen, man kündigte an, ihre einzige Tochter zu vergewaltigen. Zwei Brüder wurden zeitweise festgenommen, beide konnten kurz danach nach Algerien bzw. in die Türkei fliehen. Sie selbst floh nach Rojava (in Nord-Syrien), danach in die Türkei und nach Deutschland. Sie schildert ausführlich die Bedrohungen durch Telefon oder Zettel, die an die Tür geheftet wurden, Inhalt war vor allem die Tätigkeit ihres Cousins. Der Richter hat Probleme, den zeitlichen Ablauf nachzuvollziehen: Sie ist verwandt mit dem Präsidenten der Exil-Regierung, sie war selbst bei einer oppositionellen Zeitschrift tätig, die wurde Ende 2013 als Dozentin entlassen, als sie schon vor Angst zu Hause blieb, sie erfuhr es über Freunde. Meine Begleiterin, die Arabisch spricht, erklärte mir hinterher, sie habe es gut erklärt, aber der Dolmetscher habe es teils nicht verstanden und nicht richtig wiedergeben können, daher die Probleme. Zum Glück erklärt der Richter am Schluss der Verhandlung, das Geschilderte reiche aus, um als Flüchtling anerkannt zu werden - woraufhin die Klägerin, die die ganze Zeit natürlich sehr angespannt war, in Tränen ausbricht.
Wir sind beim Richter Modest. Dolmetscher ist Kameran Bisarani.
Der erste Kläger ist ein junger Mann, geboren 1989, aus Bagdad. Er kommt zusammen mit seinem Rechtsanwalt Tyl Mackenberg. Der Kläger ist Sunnit, hatte Probleme mit Angehörigen einer schiitischen Miliz. Sie haben ihn mal mit dem Auto gerammt, mal bei ihm zu Hause geklingelt und eine Handgranate in seine Garage geworfen - er war zehn Meter entfernt und wurde verletzt. Er hat sich bei seiner Schwester verletzt, ist dann aus dem Land geflohen. Zu seinen Verletzungen holt er ein Attest aus dem Rucksack. Der Richter merkt an, dass es nicht den Voraussetzungen des Aufenthaltsgesetzes entspricht.
In der zweiten Verhandlung ist der Kläger, ein 1995 geborener junger Mann, schiitisch. Das ist aber nicht entscheidend: Er ist homosexuell, eine örtliche schiitische Miliz („Liga der Gerechten”) hat das mitbekommen und beschlossen, ihn zu töten. Ein Bekannter von ihm, der bei der Miliz im Büro arbeitet, hat das mitbekommen und ihn gewarnt. Der Richter ist sehr kritisch, fragt nach dem ersten Freund (der Kläger hatte ihn mit 16 Jahren) und nach den Möglichkeiten, im Irak homosexuelle Kontakte zu knüpfen. Der Kläger sagt, das geschehe über verdeckte Signale auf Facebook-Seiten, andere Homosexuelle würden bestimmte Symbole verstehen. Er selbst habe mit seiner Mutter über seine Ausrichtung sprechen können, mit Vater, Bruder und Schwester aber nicht, die seien gegen ihn gewesen. Der Richter will sich heute noch nicht festlegen, ob er das so glaubt - das BAMF hat es nicht geglaubt.
Der dritte Kläger ist ein junger Kurde aus Nord-Kurdistan. Er kommt zusammen mit seinem Rechtsanwalt Michael Wulf. Er war Sprecher seines Jahrgangs von Psychologie-Studenten in Dohuk. Als Teil diese Tätigkeit hat er eine Sammelaktion für den Vater eines Mitstudenten gestartet. Nach einigen Wochen, die Box war schon schön voll, wurde die geklaut. Er hat sich als Jahrgangs-Sprecher beim Uni-Präsidenten beschwert, der es aber abgelehnt hat, den Vorfall zu untersuchen - was ihn dazu brachte, bei einer Studenten-Versammlung die Korruption der Führung, auch des Gouverneurs, anzugreifen. Auch viele Steuergelder kommen nicht bei der Uni an, sondern bleiben beim Gouverneur oder beim Uni-Direktor hängen. Er floh, weil er nach dieser Kritik verfolgt wurde. Dazu hat er Bestätigungen mit, die übersetzt wurden. Der Richter findet die Übersetzungen konfus und gibt sie dem anwesenden Dolmetscher. Dem fällt sofort auf, dass der Übersetzer als Überschrift „Übersetzung aus dem Kurdischen” gewählt hat, obwohl die Dokumente auf Arabisch sind. Der Richter vertagt die Sache auf Mitte Januar, bis dahin soll der anwesende Dolmetscher alles neu übersetzen.
Als viertes wird eine Familie aufgerufen, sie ist aber nicht gekommen, hat auch nicht abgesagt. Da die Klage per Gerichtsbescheid bereits abgelehnt wurde, sie haben subsidiären Schutz vom BAMF erhalten, bedeutet das Nicht-Erscheinen: Der Gerichtsbescheid wird zur Grundlage des Urteils.
Wir sind wieder bei Dr. Sievers, dem vorsitzenden Richter der 13. Kammer. Dolmetscher ist Hamdi Tawfik, der Arabisch und Kurdisch dolmetschen kann.
Der erste Kläger, ein junger Mann, kommt alleine. Sein Anwalt war vom Gericht erwartet worden, es wird nicht klar, warum der Anwalt nicht dabei ist. Der Kläger hat subsidiären Schutz erhalten, auf Flüchtlingsschutz geklagt und einen ablehnenden Gerichtsbescheid erhalten. Er hat Gelegenheit, jetzt die Gründe vorzutragen. Er sagt aber, dass er nichts zur Ergänzung hat. Er ist jetzt über 18 Jahre alt und befürchtet, bei einer Rückkehr zur Armee eingezogen zu werden. Da weder er was sagen kann noch sein Anwalt da ist, ist die mündliche Verhandlung schnell zu Ende.
Der zweite Kläger, ein junger Kurde, muss warten, denn seine Anwältin Karolin Klempin ist noch nicht da. Sie kommt später, was zu einer Auseinandersetzung mit dem Richter führt, weil sie nicht Bescheid gesagt hat. Unklar ist, warum der Kläger alleine da ist, denn seine Frau wurde ebenfalls geladen. Auch er hat subsidiären Schutz erhalten, auf Flüchtlingsanerkennung geklagt und einen negativen Gerichtsbescheid erhalten. Auch er soll jetzt ergänzend vortragen, was im Gerichtsbescheid nicht berücksichtigt wurde. Er gibt an, dass er sich mit dem Dolmetscher beim BAMF nicht verstanden hat. Der habe nicht alles gedolmetscht und darauf gedrungen, sich kürzer zu fassen. Mit dem Dolmetscher heute ist er zufrieden. Den Hinweis des Richters, es sei aber heute der gleiche Dolmetscher wie damals beim BAMF (das ergibt sich aus der Akte), kommentiert der Kläger: Heute wäre alles in Ordnung. Er gibt an, PDK-Sympatisant zu sein. In Nord-Syrien sei er von der PKK bedroht und verfolgt worden. Die PDK würde dort terrorisiert, ihre Mitglieder ins Gefängnis gesteckt. 2013 habe er als Augenzeuge einen Mord der PKK an einem Zivilisten beobachtet. Er habe am Telefon bei einer Rudow-Lifesendung (Rudow ist eine Nachrichtenagentur im Nordirak, die der PDK nahe steht - Anmerkung Reinhard Pohl) davon erzählt. 2014 warf ihm die PKK daraufhin Hochverrat vor. Der Richter wendet ein, „kurz fassen” beim Bundesamt bedeute doch nicht, dort nur harmlose Vorkommnisse zu berichten und hier vor Gericht die krassen Ereignisse. Der Kläger antwortet. er habe der Anwältin alles erzählt, auch dass er Atheist sei und er deswegen in Syrien Probleme gehabt habe. Er habe das beim Bundesamt nicht erzählt, weil er gewarnt worden sein, nicht über die PKK zu sprechen und die PKK nicht zu kritisieren. Er habe erst jetzt bei Gericht den Mut gefunden. Aber in Nord-Syrien seien Morde durch die PKK an der Tagesordnung. An dieser Stelle diskutieren die Anwältin und der Richter über den Einwand des Richters, dass es eine inländische Fluchtalternative gebe: Im Assad-Gebiet könne die PKK niemanden verfolgen. Die Anwältin wendet vor allem ein, im Assad-Gebiet müsste er zur Armee. Er sei zwar 42 Jahre alt und habe einen Pass für die Ausreise erhalten, die Freistellung von der Armee könnte aber widerrufen werden.
Auch der dritte Kläger, ein junger Mann aus Syrien, wird von Rechtsanwältin Klempin vertreten. Er hat subsidiären Schutz erhalten, auf Flüchtlingsschutz geklagt, das wurde in einem Gerichtsbeschluss abgelehnt. Auf die Frage des Richters gibt er an, es gäbe nichts zu ergänzen und auch nichts Neues. Darauf sagt der Richter, er habe auch keine Fragen. Die Anwältin wendet ein, nicht nur die Armee, sondern auch die Rebellen wollten ihn rekrutieren. Das, so der Richter, sei nicht neu, sondern in der Anhörung zur Sprache gekommen und im Gerichtsbescheid berücksichtigt. Der Kläger ergänzt jetzt, er rechne damit, dass Armee oder Rebellen ihn töten würde, wenn er das Kämpfen verweigert.
Die vierte Klägerin ist eine jungen Frau, vertreten von Rechtsanwalt Sükrü Bulut aus Hamburg. Auch sie hat subsidiären Schutz erhalten, auf Flüchtlingsanerkennung geklagt, was durch Gerichtsbeschluss abgelehnt wurde. Sie trägt jetzt ausführlich vor: Sie hätten ständig Angst gehabt, der Heimatort liegt im Nordosten Syriens, in der Nähe habe das IS-Gebiet begonnen. Zwei Brüder seien vom Assad-Regime verhaftet worden, um sie zum Militärdienst zu zwingen. Der Anwalt fragt, ob das der einzige Grund für die Verhaftung war. Nein, sagt die Klägerin, auch das Engagement für die YPG. Der Anwalt bezweifelt hier die Dolmetsch-Leistung: Ging es um das Engagement für die YPG oder für die „Partei”, also die PYD? Man habe sie jedenfalls festgenommen, sie seien wieder freigekommen und nach Irakisch-Kurdistan geflohen. Nachbarn hätten ihr von der Suche der syrischen Soldaten nach ihnen berichtet. Der Anwalt beanstandet, dass der Dolmetscher „Irakisch-Kurdistan” gesagt habe, die Klägerin habe „Kurdistan” gesagt. Der Richter hält das für zulässig. Der Dolmetscher sagt, so könne er nicht weitermachen. Der Richter schlägt vor zu vertagen. Ich darf mich jetzt auch äußern und schlage vor, Schamal Zangana dazu zu holen, der im Nachbarsaal gerade mit dem Dolmetschen fertig ist. Das klappt, der nächste Dolmetscher macht weiter. Der Anwalt bittet darum, Fragen und Antworten präzise zu dolmetschen. Die Klägerin ist etwas verwirrt von der Auseinandersetzung, berichtet nochmal, der neue Dolmetscher dolmetscht nochmal, es bleibt aber so. Unklar bleibt, ob die Klägerin jetzt ersatzweise verfolgt worden wäre, nachdem die Brüder geflohen sind. Sie hat das nicht abgewartet und ist auch geflohen, so dass die Frage der Gefährdung jetzt vom Gericht mit einer Prognose beantwortet werden muss.
Jetzt kommt der übernächste Kläger dran, dessen Anwalt darum gebeten hat, ihn vorzuziehen, weil er noch einen anderen Gerichtstermin hat. Rechtsanwalt Markus Chilkott ist auch ohne Mandanten da. Er will die negative Entscheidung über Prozesskostenhilfe ändern. Außerdem hat das Gericht die Klage als unzulässig abgelehnt. Dazu führt der Rechtsanwalt aus, die BAMF-Entscheidung sei nicht angekommen, der Kläger habe erst später durch die Ausländerbehörde davon erfahren. Insofern will er, dass die Klage angenommen wird. Der Richter will darüber später entscheiden.
Der fünfter Kläger ist nicht da, sein Anwalt ebenfalls nicht. Warum, ist nicht ganz klar. Damit kann Richter Sievers urteilen, für den ersten und den jetzt nicht erschienenen fünften Kläger lehnt er die Klagen ab. Bei den anderen entscheidet er später, weil er das Protokoll noch mal in Ruhe lesen will.
Wir sind bei der Richterin Meiswinkel. Der Dolmetscher ist Hamdi Tawfik.
Der erste Kläger ist ein junger Mann, Jeside aus dem Nordirak. Er wird vertreten von Rechtsanwalt Duran. Der ist nicht da, die Richterin meint auch, das wäre teuer geworden, weil der Anwalt in Nordrhein-Westfalen arbeitet. Der Kläger ist 2014 geflohen, also zur Zeit des Völkermordes, als die IS-Miliz nur noch einen Kilometer entfernt war. Er hat Asyl beantragt, aber es ist nichts passiert. Erst nach einer Untätigkeitsklage hat das BAMF sich drum gekümmert und am 11. Dezember 2016 eine Ablehnung geschickt, weil der IS ja nicht mehr da war. Er war zunächst in Dohuk in einem Flüchtlingslager, und zwar für ein Jahr. Dann gingen die Eltern mit den Geschwistern nach Suleymania, sie wurde dort in einem Lager nahe Kikuk untergebracht. Er selbst floh nach Deutschland. Er gibt an, er fürchte in Dohuk / Kurdistan um sein Leben, weil auch die sunnitischen Kurden gegen Jesiden seien. Auf befragen gibt er an, dass seine Familie jetzt vor den neuen Kämpfen rund um Kirkuk geflohen sei und wieder in Dohuk im Flüchtlingslager lebe, dorthin wollte er aber auf keinen Fall. Er erzählt noch ausführlich von seiner Flucht 2014 erst ins Gebirge, wo man acht Tage ohne Nahrung und Wasser ausgehalten habe, bis die PKK gekommen sei. Außerdem wären rund 5.000 Frauen entführt und unzählige Männer geköpft worden, denen die Flucht nicht gelungen sei, und niemand habe ihnen geholfen.
Die nächsten Kläger sind ein Ehepaar mit Kindern, sie sind aber ohne ihre Kinder gekommen. Vertreten werden sie von Rechtsanwalt Jan Tobias Behnke. Sie sind am 22.9.2015 nach Deutschland gekommen, haben erst im August 2016 Asyl beantragen können und wurden im Oktober 2016 abgelehnt. Sie sind sunnitische Araber aus Basra. Ihr Problem bestand darin, dass er Zeuge eines Mordes geworden ist und dazu bei der Polizei und bei Gericht ausgesagt hatte. Zur Befragung wird er jetzt erstmal rausgeschickt.
Sie erzählt davon, wie sie bedroht wurde: Drei Männer haben sie Zuhause überfallen, das war im Dezember 2014. Ihr Mann wäre bereits im Juli bedroht worden, sie seien umgezogen, im September hätten ihre Gegner sie wieder gefunden. Nach dem Überfall im Dezember wäre sie zu ihrem Onkel gezogen, danach habe sie an verschiedenen Orten übernachtet. Fliehen konnten sie nicht direkt, sie mussten erst Möbel und Auto verkaufen, um die Flucht zu finanzieren. Der Rest der Familie sei auch geflohen, sei jetzt in Deutschland, Finnland oder Australien.
Er kommt wieder rein und berichtet seinerseits. Die Daten und die Schilderung der Ereignisse stimmen überein. Er erläutert noch den Hintergrund: Der Mordschütze, der durch seine Aussage ins Gefängnis gekommen sei, sei der Sohn oder Schützling eines mächtigen Stammesführers gewesen. Es sei üblich, dass der Stamm ihn schützt, nach einer Verurteilung müsste der Zeuge (der Verräter) getötet oder zu einer hohen Geldzahlung gezwungen werden. Beim Überfall auf seine Frau sei er nicht dabei gewesen, aber später sei er von einem Auto verfolgt worden, auf ihn sei geschossen worden.
Die Richterin diskutiert mit dem Anwalt, ob das eine Verfolgung im asylrelevanten Sinne sei, ob das Ehepaar also zu einer bestimmten Gruppe gehöre. Der Anwalt macht mehrere Vorschläge. Schließlich schlägt der Anwalt vor, dass er den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zurücknimmt. Die Richterin möge sich bitte überlegen, ob sie subsidiären Schutz geben oder wenigsten die Abschiebung verbieten könnte. Die Richterin kündigt an, sich alles nochmal sorgfältig anzusehen und später zu entscheiden.
Übrigens hatte danach die Richterin Meiswinkel noch Zeit, uns ein paar Punkte zu diesen Asylverfahren zu erläutern und die Verfahren zu erklären.
Reinhard Pohl