(Gegenwind 349, Oktober 2017)
Gender Mainstreaming wird vor allem von Rechten angegriffen. Die verdrehen den Inhalt derart, dass er mit dem ursprünglichen Konzept nichts, aber auch gar nichts mehr gemeinsam hat. Grund genug sich mit dessen Entstehung, Inhalt und Umsetzung zu befassen. Immerhin wurde es bereits 1999 von der Bundesregierung übernommen und geht auf die 4. Weltfrauenkonferenz in Beijing zurück. Keine kleine Sache also. Klein, ja winzig erscheint das, was daraus geworden ist. Diese Geschichte soll erzählt und gefragt werden, wie es weiter gehen kann.
Mainstream ist laut Duden die vorherrschende gesellschaftspolitische Richtung, oft abwertend gemeint. Mit gender wird das soziale Geschlecht in Abgrenzung von sex, dem biologischen, bezeichnet. Die Bedeutung von Gender Mainstreaming wird damit noch nicht verständlich. Ein Vertreter von Ver.di erklärt: „Gender Mainstreaming bedeutet bei allen gesellschaftlichen Vorhaben, die unterschiedlichen Lebenssituationen von Frauen und Männern von vornherein und regelmäßig zu berücksichtigen, da es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt.” Die soziale und kulturelle Situation von Frauen und Männern soll also bedacht werden. Deshalb ist vorab eine Analyse der Auswirkungen von Entscheidungen, insbesondere von Gesetzen auf Frauen bzw. Männer zu erstellen. Solche Prüfaufträge sind nichts Besonderes, Gesetzesfolgenabschätzungen durchaus üblich.
In den 1980er Jahren haben Teile der Frauenbewegung begonnen, neben außerparlamentarischen Aktivitäten auch Forderungen an Politik und Staat zu stellen wie die Einrichtung von Frauenbüros und Frauenministerien; auch sollten Frauenförderpläne erstellt werden, zunächst für den Öffentlichen Dienst. Dazu gehörte auch eine Frauenquote für besser vergütete Positionen, für die ein 50-Prozent-Anteil von Frauen angestrebt wurde.
Besonders groß war die Hoffnung, die sich an Entscheidungsquoten knüpfte. Bei gleicher Qualifikation sollten Bewerberinnen auf eine Stelle oder Anwärterinnen auf eine Höhergruppierung gegenüber männlichen Mitbewerbern so lange bevorzugt werden, bis das Ziel 50-50 erreicht wäre. Aber es gibt nie zwei Menschen, deren Leistung, Eignung und Befähigung völlig gleich sind. Damals meldete sich ungefragt der nicht unumstrittene Soziologe Niklas Luhmann zu Wort und meinte, es müsse ja wohl ein Leichtes sein, die Qualifikation von Männern für höherwertig zu erklären. Dieser Tipp war überflüssig, denn Frauen wurden bereits in der Regel schlechter beurteilt als Männer. Auffällig war dies bei Teilzeitbeschäftigten, also überwiegend Frauen. Noch gut kann ich mich an einen Abteilungsleiter des Ministeriums erinnern, in dem ich als Staatssekretärin tätig war. Er vertrat in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre allen Ernstes die Auffassung, Teilzeitbeschäftigte könnten nicht die gleiche Leistung erbringen, da sie ja weniger Stunden arbeiten. Der Sinn einer Beurteilung besteht aber natürlich darin, die in der Arbeitszeit erbrachte Leistung zu bewerten und nicht die Dauer der Arbeitszeit. Auch andere schiefe Bewertungen waren für die schlechtere Beurteilung von Frauen verantwortlich. Das wurde jedoch in den öffentlichen Verwaltungen weitgehend abgestritten. Ein Standardsatz lautete: „Ob Männlein oder Weiblein, das macht bei uns keinen Unterschied.” Tatsächlich war es jedoch eingespielte Praxis, einen Mann vorzuziehen. Bei ihm wurde meist davon ausgegangen, dass er durchsetzungsfähiger sei. Auch erschien ein Mann besser geeignet, da er nicht schwanger werden kann und weniger durch Haus- und Familienarbeit in Anspruch genommen wäre. Dazu kam das sogenannte Senioritätsprinzip, demzufolge die längere Beschäftigungsdauer grundsätzlich als höhere Qualifikation angesehen wurde.
Eine Entscheidungsquote sollte das nun ändern, zum Beispiel die im Bremische Landesgleichstellungsgesetz von 1995. Zwar hatte das Bundesarbeitsgericht sie als mit dem deutschen Verfassungsrecht für vereinbar gehalten, es musste jedoch noch geprüft werden, ob dies auch für das Europarecht gelte. Der Urteilsspruch des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 17.10.95 kam als Schock: „Eine nationale Regelung, wonach Frauen, die die gleiche Qualifikation wie ihre männlichen Mitbewerber besitzen, in Bereichen, in denen die Frauen unterrepräsentiert sind, bei einer Beförderung automatisch der Vorrang eingeräumt wird, bewirkt (...) eine Diskriminierung der Männer aufgrund des Geschlechts." Der EuGH monierte zudem, dass die Regelung, die auf das Ergebnis abzielt, mehr beabsichtige als reine Chancengleichheit wie angegeben. Zum Glück blieb es nicht dabei. In einem weiteren Urteil vom 11.11.97 kam der EuGH zu einer völlig anderen Einschätzung, als ihm die um eine "Härtefallklausel" ergänzte leistungsbezogene Entscheidungsquote vorgelegt wurde. Sie lautet: Bei gleicher Qualifikation seien Frauen bevorzugt zu befördern, "sofern nicht in der Person eines Mitbewerbers liegende Gründe überwiegen”. Diese vage Formulierung gebe der Verwaltung genügend Spielraum, um alle möglichen Gründe zu berücksichtigen. Besonders wichtig ist die folgende Aussage des Gerichtshofs: „Bei gleicher Qualifikation neige der Arbeitgeber (...) dazu, in Anwendung bestimmter traditioneller, die Frauen faktisch benachteiligender Beförderungskriterien wie des Lebensalters, des Dienstalters und der Erwägung, daß der Bewerber alleinverdienender Familienvater sei, einen Mann vorrangig vor einer Frau zu befördern.” Gerade der Hinweis auf den Familienernährer war nötig, weil bis zu dem Zeitpunkt auch Personalratsmitglieder, die darauf zu achten haben, dass soziale Gründe angemessen berücksichtigt werden, darunter regelmäßig die Familienernährersituation des Mannes als besondere Bedürftigkeit verstanden. Verheiratete Frauen hatten praktisch keine Chance gegen verheiratete Männer.
Der Streit ist bis zum heutigen Tag nicht beendet. So hatte die FDP 2016 der damals rot-grünen Landesregierung von NRW eine Abkehr von Leistungsprinzip und Beamtenrecht unterstellt, die als verfassungswidrig einzustufen sei. Vorausgegangen war, dass für Frauen ein Vorzug bei der Beförderung vorgesehen ist, wenn eine „im Wesentlichen gleiche Eignung” vorliegt.
Angesichts dieser permanenten Querelen ist es nachvollziehbar, dass man/frau sich auch noch nach anderen Maßnahmen umsah. Eine davon war die Zielquote. Dabei geht es darum, dass sich der Arbeitgeber für einen bestimmten Zeitraum selbst eine Quote gibt, also einen Anteil von Frauen festlegt, der angestrebt wird. Bei dieser Form der Quote wird nichts über das Vorgehen bei der Auswahl festgelegt wie bei der Entscheidungsquote. Auf dieses Konzept möchte ich hier aber nicht eingehen. Ich erwähne es nur um zu verdeutlichen, dass die Unzufriedenheit darüber, wie Entscheidungsquoten ausgehebelt werden konnten, nicht folgenlos blieb.
Eine weitere Methode, die größere Erfolge der Frauenförderung versprach, war das Gender Mainstreaming. Man/frau sah darin mehrere Vorteile: Zum einen handelte es sich um ein Top-down-Verfahren, das heißt die Verantwortung und Zuständigkeit für die Anwendung und Umsetzung sollte beim obersten Chef liegen und nicht - wie bisher üblich - an Frauen- bzw. Gleichstellungsministerien oder -beauftragten abgegeben werden. Das sollte dem Vorhaben mehr Gewicht verleihen. Auch bestand die Hoffnung, dass durch die vorab zu stellende Frage nach Diskriminierung, ein eingeschlagener Pfad blockiert würde, bevor er sich als Irrweg erweisen konnte. Das von einem diskriminierten Geschlecht die Rede war und nicht von vornherein Frauen als die Benachteiligten angesprochen wurden, sollte dazu beitragen, revoltierende Männer, die es zahlreich gab, zu befrieden. Ganz wichtig ist mir noch, dass Gender Mainstreaming weit über die Arbeitssituation von Frauen hinausging, weil ja alle Entscheidungen auf dem Prüfstand kamen, nicht nur Personalangelegenheiten.
Mit solchen Hoffnungen wurde Gender Mainstreaming auf den Weg geschickt. Es glich einem Tiger, der zum Sprung ansetzt und sich mit Gebrüll auf seine GegnerInnen wirft.
Der Tiger konnte so laut brüllen, weil ihm neben der Folgenabschätzung das Gender Budgeting als Teil des Gender Mainstreamings zur Seite gestellt wurde.
Dabei geht es um die systematische Prüfung des betreffenden öffentlichen Etats, also aller Einnahmen und Ausgaben und aller sonstigen haushaltsbezogenen Maßnahmen, auf ihre ökonomischen Effekte auf Männer und Frauen. Dahinter steht die Erkenntnis, dass - wie eine Journalistin schrieb - öffentliche Gelder überproportional Männern zugute kommen. Eine solche Prüfung bildet die Grundlage für geschlechterwirksame finanzbezogene Maßnahmen. Gender Budgeting könne Schieflagen verhindern, sah das Neue Deutschland 2015 voraus, weil nicht länger unbewusst Bedürfnisse von Männern, ihr Verhalten und ihre Lebenslagen als Norm gesehen und gesetzt würden, weswegen man an jeder Ecke einen Bolzplatz fände, ein Volleyballnetz dagegen müsse frau lange suchen. Zwar setzt die Bundesregierung auf Gender Budgeting allerdings nur bei ihren Ausgaben für Entwicklungsländer. Sie wertet ein geschlechtergerechtes Verhalten in deren Haushalten als ein Zeichen für gutes Regieren.
Bereits 2006 kam eine von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Machbarkeitsstudie heraus. Die Forschungsgemeinschaft, die die Studie verfasst hatte, empfahl Gender Budgeting verbindlich zu machen, etwa durch eine Aufnahme in die Bundeshaushaltsordnung, sowie durch die Entwicklung von Arbeitshilfen und Fortbildungsmaßnahmen. Jahre später, 2012, antwortete die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage von Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen, dass das Gender Budgeting nicht umgesetzt werde. In der Antwort hieß es:
„Nach Auffassung der Bundesregierung schreibt (...) der Bundeshaushalt selbst weder geschlechtsspezifische Rollen- und Aufgabenverteilungen vor, noch ändert er diese. Die Verfolgung des Ziels der Gleichstellung der Geschlechter und die Entwicklung geeigneter Instrumente obliegen den jeweiligen Fachpolitiken. (...)
Aus Sicht der Bundesregierung ist Gender Budgeting im Rahmen des Bundeshaushalts kein geeignetes Instrument, um die Gleichberechtigung der Geschlechter durchzusetzen. Vor diesem Hintergrund wurde dieser Ansatz in der laufenden Legislaturperiode nicht weiterverfolgt.”
Ende der Durchsage.
Die rot-grüne Landesregierung hatte einen Bericht über die Umsetzung des Pilotvorhabens Gender Budgeting im Landeshaushalt in Auftrag gegeben; diesen hatte das Kabinett vor gut einem Jahr zur Kenntnis genommen. Fazit: Der Bericht habe deutlich vor Augen geführt, dass eine noch zielgerichtetere Steuerung des Mittel-einsatzes durch Gender Budgeting ermöglicht wird. Hurra! Daher habe die Landesregierung beschlossen, in ausgewählten Bereichen weiterhin Daten zu erheben. Bravo! Und macht die jetzige Jamaika-Regierung da mit? Etwas wortkarg heißt es im Koalitionsvertrag von CDU, Grünen und FDP zum Stichwort Gender Budgeting: Wir werden in ausgewählten Fällen Gender Budgeting fortführen. Kein Grund „hurra!” zu rufen, warten wir's ab.
Was ist nun passiert, seit die Bundesregierung 1999 beschloss, das Konzept und die Methode zu übernehmen? Wie sieht die praktische Anwendung und Umsetzung aus? Um einen Eindruck zu bekommen, habe ich Beispiele ausgewählt, zu denen ich wissen wollte, wie die Regierung dabei Gender Mainstreaming angewandt hat und wie die Politik darauf reagierte.
Am 22.2.2002 hat die Bundesregierung unter Gerhard Schröder, der Frauenfragen als Gedöns bezeichnete, eine „Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt” eingesetzt, Hartz-Kommission genannt. Der Leiter, Peter Hartz, legte im August 2002 ihren Bericht mit Reformvorschlägen zur effizienten Arbeitsmarktpolitik und zur staatlichen Arbeitsvermittlung vor. Anfang November haben kommunale Frauenbeauftragte dazu öffentlich ein vernichtendes Urteil gesprochen: „Es gibt kaum ein gleichstellungspolitisch rückständigeres Papier auf höchster Ebene als dieses.” Die Kommission wolle die Frauen zurück an Heim und Herd zwingen. Trotz ihrer deutlichen Kritik an der Arbeit der Kommission boten sich Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte als Partnerinnen für eine „Allianz der Profis” an, ohne Erfolg.
Auch der Deutsche Frauenrat, der Deutsche Juristinnenbund und die Bundesarbeitsgemeinschaft berufliche Perspektiven für Frauen meldeten sich mit einem dringenden Appell an die Bundesregierung zu Wort. Sie zitierten aus dem Vorspann des Papiers die Verpflichtung, dass alle weiteren Schritte zur Konkretisierung der Hartz Vorschläge detailliert daraufhin überprüft werden müssen, ob und inwieweit sie der Gleichstellung Rechnung tragen oder Benachteiligungen fortschreiben oder gar neue entstehen lassen. Kern dieser Kritik sind die Vorstellungen von Ehe und Familie. Die Autorinnen belegten, dass der Hartz-Bericht sich am nicht mehr funktionierenden Modell der „Versorgerehe” orientiere und nicht am Leitbild einer eigenständigen, existenzsichernden Arbeitsmarktintegration von Frauen. Sie forderten deshalb ein Bekenntnis der Regierung zu dem Modell, das ich Individualfamilie nenne, dort sichern die Erwachsenen ihre Existenz durch eigene Erwerbstätigkeit. Beim Familienkonzept des Kommission stand dagegen das Rollenbild des Hauptverdieners mit abhängiger Partnerin Pate. Frauen erhalten deshalb häufiger gar keine Leistungen, weil das Einkommen des Partners angerechnet wird. Die neuen Bedürftigkeitsbestimmungen gehen eindeutig zu Lasten der Frauen. Weiterhin habe die Definition von „erwerbsfähig” als „voll verfügbar für den ersten Arbeitsmarkt” zur Folge, dass Frauen, deren Kinderbetreuung nicht gewährleistet ist, keine Leistungen erhalten, obwohl sie das Problem nicht verschuldet haben. Auch die Umwandlung von Vollzeit- in Teilzeitstellen oder in geringfügige Beschäftigungsverhältnisse besonders im privaten hauswirtschaftlichen, aber auch im pflegerischen und erzieherischen Bereich generell betrifft Frauen deutlich mehr als Männer. Zudem sollen die Möglichkeiten der Begründung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse erweitert, Minijobs subventioniert werden. Dazu kommt die Zulassung befristeter Arbeitsverhältnisse ohne sachliche Begründung. Nicht nur wird das Modell Haupternährer/Zubrotverdienerin verfestigt, auch der geschlechtsspezifische Arbeitsmarkt, in dem Frauen überproportional in schlechter bezahlten Branchen zu finden sind, wird erweitert. Niedrigere Lohnersatzleistungen für Frauen und Frauenarmut im Alter sind die Folge.
Kritik kam auch von Sozialwissenschaftlerinnen. Ulla Knapp schreibt in ihrer Analyse „Hartz und Gender”: „Die sog[enannten] Reformen (...) folgen keinem einheitlichen geschlechterpolitischen Leitbild, sie sind geschlechterpolitisch konzeptionslos. Ein Teil der langzeitarbeitslosen Frauen wird verstärkt auf die Unterhaltszahlungen des Partners verwiesen (...), zugleich werden sie - ebenso wie Berufsrückkehrerinnen - bei der aktiven Arbeitsförderung deutlich schlechter gestellt.” Als „[g]leichstellungspolitisch von vorgestern” und „einem traditionellen Rollenbild verhaftet” bezeichnet Marianne Weg das Hartz Konzept. Auf die qualifizierten oben erwähnten Stellungnahmen von Frauenorganisationen bezogen schreibt sie lapidar: „Sie sind insgesamt ohne Wirkung geblieben.”
Ist die Bundesregierung bei der Anwendung des Gender Mainstreamings auf die Hartz IV Gesetze zu einer anderen Auffassung gelangt als die zitierten Frauenorganisationen und Wissenschaftlerinnen? Dem wäre ich gerne nachgegangen, bin aber im Verwaltungsdschungel stecken geblieben. Meine Anfrage landete zuletzt beim Bundesarchiv. Von dort erfuhr ich, dass die für mich in Frage kommenden Akten erst nach 30 Jahren eingesehen werden können, es sei denn einer Verkürzung dieser Frist wird vom Archiv unter Beteiligung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zugestimmt. Ein solches Verfahren dauere erfahrungsgemäß mehrere Monate. Sollte die Zustimmung erfolgen, hätte ich im Benutzersaal des Archivs in Koblenz die Möglichkeit zur Akteneinsicht. Da gab ich auf und wandte mich einem zweiten Beispiel zu.
Am 1.1.2008 trat das Unterhaltsreformgesetz in Kraft. Es verfolgt drei Ziele: die Förderung des Kindeswohls, die Stärkung der Eigenverantwortung und die Vereinfachung des Unterhaltsrechts. Dem an zweiter Stelle genannten Ziel wollte ich nachgehen. Das Deutsche Anwalt Office Premium benennt es glasklar: Es soll den Kinder betreuenden Ehegatten früher als bisher (drei statt acht Jahre nach Geburt des Kindes, U. M.) zur Erwerbstätigkeit zwingen. Eine Rechtsanwältin, Monika Luchtenberg, schreibt, der Entwurf solle vor allem zur Entlastung besser verdienender Ehegatten führen. Man/frau muss nicht lange überlegen, um bei „betreuender Ehegatte” mehrheitlich Frauen und bei „unterhaltspflichtiger Ehegatte” überwiegend Männer zu sehen. Also ist eine gender-spezifische Bedeutung gegeben.
Die Öffentlichkeit war - anders als die JuristInnen - gespalten. Das geplante Gesetz mache Frauen stark, kommentiert Katharina Sperber in einem Leitartikel in der Frankfurter Rundschau 2007. Frauen seien jetzt laut Gesetz für ihren Lebensunterhalt selbst verantwortlich. Sie müssten nun mit Männern auf Augenhöhe verhandeln, wie beide ihre Jobs und die Familie unter einen Hut bekämen, dadurch würden beide stark und frei. „Die Politik hat gute Arbeit geleistet”, lobt die Verfasserin, die mit ihrer Auffassung damals keineswegs alleine stand.
Andere sahen das anders. So zum Beispiel der Verband Alleinerziehender Mütter und Väter. Seine Einschätzung: Das neue Unterhaltsrecht geht von Idealvoraussetzungen aus, die in der Realität (noch) nicht vorhanden sind. Das gilt nicht nur für Alleinerziehende. Ideal ist die Annahme, Frauen könnten in unserer Gesellschaft leicht eine existenzsichernde Erwerbstätigkeit finden. Der hohe Anteil von Frauen unter den ungewollt in Teilzeit- und geringfügig Beschäftigten zeigt, dass eine solche Vermutung nicht der Realität entspricht. Die genannten, in aller Regel nicht existenzsichernden Beschäftigungsverhältnisse fördern aber nun gerade die Hartz-Gesetze. Auch verfallen erworbene Qualifikationen bereits nach kurzer Zeit (zwei Jahre wurde mir gesagt). Viele Frauen gelten dann bei ihrer Arbeitssuche als unqualifiziert. Dazu kommt, dass das Ehegattensplitting Ehen steuerlich begünstigt, in denen ein/e Partner/in weniger verdient als der/die andere. Letztendlich liegt dem Unterhaltsreformgesetz das Ehemodell der Individualfamilie zugrunde, das im Gegensatz, ja im Widerspruch zu dem Modell steht, das für andere Gesetze angewandt wird. Fällt den GesetzgeberInnen nicht selbst auf, dass das nicht angehen kann?
Franziska Brantner von der Frauenrechtsorganisation der UN, und Katrin Rönicke von der Mädchenmannschaft fiel es auf. Sie beklagten, dass das dem Gesetz zugrunde liegende Modell zweier Menschen, die beide ihre Existenz durch Erwerbstätigkeit sichern, in der deutschen Lebensrealität stark behindert bis unmöglich gemacht werde. Sie fordern daher Übergangsregeln und einen Solidaritätspakt als Ergänzung zur klassischen Ehe, der eine Balance zwischen den Nachteilen einer absoluten Individualisierung und einer Abhängigkeit vom Partner herstellen soll. Der Verband Alleinerziehender Mütter und Väter thematisiert darüber hinaus die Schieflage Männer betreffend. Er kritisiert, dass Unterhaltsflucht wie ein Kavaliersdelikt behandelt wird und fordert daraus ein Offizialdelikt zu machen, also eines, das von Staats wegen und nicht erst auf Antrag von Betroffenen verfolgt wird. Nicht geleisteter Unterhalt trage maßgeblich zur Armut von Alleinerziehenden und ihren Kindern bei. Man sich fragt, wo denn hier der Leitgedanke des Kindeswohls bleibt.
Haben solche Überlegungen nun bei der Gender Mainstreaming Prüfung eine Rolle gespielt? Diese Frage habe ich wieder dem zuständigen Ministerium gestellt. Schon gut drei Wochen später erhielt ich eine Antwort, in der der Verfasser aus der Bundesdrucksache zur Begründung des Gesetzesentwurfs vom 15.6.2006 zitiert:
„Die Grundsätze des ‚Gender Mainstreaming’ wurden beachtet. Männer und Frauen können sowohl in der Rolle des Unterhaltspflichtigen als auch in der Rolle des Unterhaltsberechtigten sein. Das Unterhaltsrecht muss daher beiden Konstellationen gleichermaßen Rechnung tragen.”
Und wie? Nur durch geschlechtsneutrale personenbezogene Begriffe?
Weiter heißt es:
„Es kann allerdings insoweit zu geschlechterdifferenzierten Auswirkungen kommen, als sowohl bei verheirateten als auch bei nicht verheirateten Paaren immer noch mehr Frauen als Männer die Kinderbetreuung übernehmen und deshalb unterhaltsbedürftig werden.”
Aha, Benachteiligung ist denkbar.
„Dem trägt der Entwurf insbesondere durch die neue Rangfolge und die Ausweitung des Betreuungsunterhaltsanspruchs nicht verheirateter Elternteile Rechnung.”
Wie das? Bei der neuen Rangfolge geht es zum einen um den Vorrang des Kindeswohls vor dem des „unterhaltsberechtigten Ehegatten” und zum anderen um Aufhebung der Vorrangstellung der ersten Ehepartnerin (des ersten Ehepartners) gegenüber der neuen Partnerschaft. Sind nämlich in der zweiten Ehe minderjährige Kinder vorhanden, haben diese Vorrang vor Unterhaltsansprüchen der geschiedenen Frau, da Kinder zuerst finanziell abgesichert werden müssen. Mit „Die Ex hat das Nachsehen” benennt ein Zeitungsartikel vom 1.8.2008 die Situation. Was aber haben diese Rangfolgen mit einer Benachteiligung von Frauen zu tun, die sich dem Zwang zur Erwerbstätigkeit bei gleichzeitiger eingeschränkter Möglichkeit zur Existenzsicherung ausgesetzt sind? Gar nichts. Soll hier den Bundestagsabgeordneten Sand in die Augen gestreut werden?
Auch der letzte Satz aus der Begründung, den der Briefschreiber des Ministeriums zitiert, bringt kein Licht in das Dunkel:
„Soweit der Vater die Betreuung übernimmt, profitiert er von den neuen Regelungen in gleicher Weise wie die Mutter. Entsprechendes gilt für die weiteren Änderungen des Entwurfs.”
Heißt das: Da zwischen den Geschlechtern nicht unterschieden wird, kann es auch keine Diskriminierung geben? Ich war einigermaßen schockiert über diese Begründung. Unter einer Gender Mainstreaming Prüfung stelle ich mir jedenfalls etwas anderes vor. Und das haben die Abgeordneten akzeptiert? Ich weiß nicht, ob es dazu eine Diskussion gegeben hat. Ich hätte ich eine Auseinandersetzung mit möglicher mittelbarer Diskriminierung erwartet. Die liegt nämlich dann vor, wenn Vorschriften, Kriterien oder Verfahren dem Anschein nach zwar neutral sind (wie die Begriffe Unterhaltsberechtigter, Unterhaltspflichtiger verstanden werden), aber tatsächlich bestimmte Personen in besonderer Weise benachteiligen können. Das Konzept der mittelbaren Diskriminierung geht auf solche Gegebenheiten ein, die zwar nicht ausschließlich, aber überwiegend beziehungsweise typischerweise bei einem Personenkreis vorliegen. Das heißt: Es geht nicht um ein Individuum, das gegenüber einem anderen benachteiligt ist, es geht um Statistik, um Mehrheitsverhältnisse. Unterhaltspflichtig sind mehrheitlich Männer, unterhaltsberechtigt mehrheitlich Frauen. Bevorzugt ein Gesetz erstere und benachteiligt letztere, sind beides Fälle mittelbarer Diskriminierung.
So zu denken war und ist (?) nicht üblich. Dabei muss ich immer an den Personaldezernenten der Stadtverwaltung Hannover denken. Er hatte Mitte der 1980er Jahre, als es um die Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten ging, argumentiert: Da Männer als Teilzeitbeschäftigte dieselben Nachteile erleiden würden wie Frauen, könne von einer Diskriminierung von Frauen keine Rede sein. Mittlerweile werden unterschiedliche Regelungen für Voll- und Teilzeitbeschäftigte als Beispiel für mittelbare Diskriminierung von Frauen genannt, da diese überproportional häufig in Teilzeit tätig sind.
Aber innerhalb der Verwaltung tat sich etwas. Die damalige Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Ursula von der Leyen, legte 2008 eine 26-seitige Arbeitshilfe „Geschlechterdifferenzierte Gesetzesfolgenabschätzung - Gender Mainstreaming bei der Vorbereitung von Rechtsvorschriften” vor. Sie sollte denjenigen, die mit der Folgeabschätzung befasst sein würden, etwas an die Hand zu geben. Schon 2006 war dies empfohlen worden. Im Vorwort nennt von der Leyen Leitfragen: „Wie wirken unsere Aktivitäten und unser Handeln auf Frauen und Männer? Wen haben wir bei unseren Projekten im Blick? Wohin fließen Gelder, wem kommen sie zu Gute?” Erfreulicherweise wird auch gefragt: „Werden von der Maßnahme oder von Teilen davon Frauen und Männer mittelbar betroffen?” Da kommt Hoffnung auf. Niemand wird künftig noch so denken wie jener Personaldezernent, dachte ich.
Davor, einen dritten Versuch zu unternehmen, um mehr über die Gesetzesfolgeabschätzung zu erfahren, hat mich ein Zeitungsartikel von Heide Oestreich bewahrt. Er erschien Ende 2014 also sechs Jahre nach der genannten Arbeitshilfe. Sein Titel „Frauen sorgen für Heiterheit” klingt harmlos, nicht so der Untertitel „Eigentlich sollten alle Gesetze, die den Bundestag passieren, gegendert werden. Doch das passiert nicht. Aktuelles Beispiel: das Steuergesetz”. Erläutert wird „gegendert”: Deutschland habe sich verpflichtet, alle Gesetze daraufhin zu überprüfen, ob sie Gleichstellung fördern oder hemmen. Anlass für den Artikel war das jährliche Jahressteuergesetz, in dem sämtliche Änderungen für das nächste Jahr festgehalten werden, also keine Kleinigkeit. Die Prüfung habe stattgefunden und unter dem Steuergesetz stehe, es seien keine Auswirkungen erkennbar, die gleichstellungspolitischen Zielen zuwiderlaufen.
Das stehe so ungefähr unter allen Gesetzen merkt die Autorin an, stimme aber nicht. Das Gesetz habe sehr wohl Auswirkungen, es verschärfe bereits bestehende Nachteile zulasten der Frauen. So auch die Grünen im Ausschuss: Unter anderem würden Steuerlichen Freibeträge der Rürup-Rente erhöht. Das aber sei eine typische Männer-Rentenreform für Selbständige, die viel Geld verdienen. Selbständige Frauen dagegen verdienen oft schlecht, sie profitierten also von den hohen Freibeträgen nicht. Diese Schieflage werde nun vertieft. „Als die Grünen das Problem im Finanzausschuß ansprachen, reagierte die Regierung lediglich belustigt”, beendet Oestreich ihren Artikel.
So landet der hoffnungsvoll gesprungene Tiger auf dem Bauch.
Eine Antwort fällt nicht leicht.
Man/frau kann versuchen, dem frustrierenden Ergebnis noch etwas Positives abzugewinnen. Die Tatsache, dass es deutlich macht: Dem Patriarchat ist nicht wirklich an der Umsetzung von Maßnahmen gelegen, die auf Gleichberechtigung von Frauen zielen. So geht die Marxistin und Feministin Frigga Haug 2003 mit der Quote um. Der Weg sei dabei das Ziel gewesen. „[D]er Kampf um die Quote legte die Hürden bloß, die der Frauengleichstellung im Wege standen und zwang so die Gesellschaft oder wollte dies zumindest, ihre eigene Herrschaftsstruktur mit klaren Augen zu sehen. Enthalten war die Vorstellung, dass diese Gesellschaft Frauenunterdrückung braucht und also wirkliche Gleichstellung gar nicht möglich ist, weil sie den Lebensnerv kapitalistischen Produzierens trifft.” Umgekehrt lässt Haug kein gutes Haar am Gender Mainstreaming. Es zeichne sich durch einen radikalen Verzicht auf Gesellschaftsanalyse aus. Immerhin sei solch eine innovative Politik begrüßenswert, räumt sie ein.
Demgegenüber erkenne ich weder bei der Quote noch beim Gender Mainstreaming die direkte oder indirekte Absicht, Erkenntnisse über den Zusammenhang von Sexismus und Kapitalismus zu vermitteln. Beide Konzepte wollten und wollen mehr Gleichstellung von Frauen erreichen. Wenn politische Vorhaben scheitern, habe ich einmal gelesen, solle man/frau sich das nächsten Themas vornehmen, auf Erfolge hoffen und nicht nachlassen, die GegnerInnen anzuprangern und die ausbeuterische, kapitalistische Gesellschaftsform zu entlarven. Das hat mir gut gefallen. Heute könnten neue Themen sein: Die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen, ebenso die sehr verschiedenen Anteile bezahlter und unbezahlter Arbeit bei Frauen und Männern. Dabei würde ich allerdings eher auf außerparlamentarische Kräfte zählen, etwa auf Menschen, die sich ein Pussy Hat, eine rosa Strickmütze mit kleinen Ohren, aufsetzen, darunter Zähnen und Klauen zeigen, wie Tigerinnen und Tiger ihre Mäuler weit aufreißen und laut brüllen, wenn ihnen Ungerechtigkeiten aufstoßen.
Darauf hoffe ich.
Ursula G. T. Müller
Zum Weiterlesen von derselben Autorin:
siehe auch: www.ursula-gt-mueller.de