(Gegenwind 347, August 2017)

Kheder Elias

Jesiden in Schleswig-Holstein

„Im Irak werden die Frauen nicht akzeptiert... ... sie müssen nach Deutschland kommen.”

Ich spreche mit Kheder Elias, 21 Jahre alt, Jesidin aus dem Irak

Gegenwind:

Können Sie sich als Erstes vorstellen?

Kheder Elias:

Ich bin Kheder Elias, ich komme aus dem Irak, aus Sindjar. Ich bin seit einem Jahr in Deutschland. Am 3. August 2014 ist ISIS nach Sindjar gekommen, meine Familie und ich sind in die Berge geflohen.

Gegenwind:

Wie haben Sie vorher dort gelebt?

Kheder Elias:

Wir hatten in Sindjar zwei Häuser. In Sindjar waren alle Nachbarn jesidisch. Die ganze Familie lebte zusammen, ich hatte zwei Brüder und meine Eltern. Meine Schwester und mein großer Bruder sind seit neun Jahren hier in Deutschland. Sie leben in Bremen. Meine Schwester ist verheiratet, mein Bruder ist noch nicht verheiratet.

Gegenwind:

Können Sie von Ihrer Flucht aus Sindjar erzählen?

Kheder Elias:

ISIS war erst nur in Mossul. Sie haben viele Menschen getötet. Dann haben sie andere Orte angegriffen, wo Muslime lebten. Die flohen alle nach Sindjar. Wir haben sie aufgenommen. Es waren alles Muslime, aber wir haben gesagt: Komm in mein Haus, Du kannst hier essen, Du kannst hier schlafen. Dann kam ISIS zu den Jesiden. Nicht nur zu den Jesiden, aber die Jesiden hatten die größten Probleme. Ich glaube, achttausend Leute, neuntausend Leute haben sie getötet. Meine Familie und ich sind in die Berge geflohen. Wir haben in Sindjar große Berge. Wir waren dort zehn Tage, und ISIS war vor den Bergen und hinter den Bergen, wir konnten die Berge nicht verlassen. Keiner konnte weg, zehn Tage lang. Wir hatten nichts zu trinken und nichts zu essen. Wir haben nicht geschlafen, natürlich. Wir haben gedacht, ISIS kommt auch zu uns, wir konnten nicht schlafen. Wir dachten, wir werden getötet.

Gegenwind:

Bevor Sie geflohen sind, waren da Peshmerga in Sindjar?

Kheder Elias:

Die Peshmerga haben nichts gemacht. Sie sind einfach weggefahren. Sie haben niemandem gesagt, dass ISIS kommt. Sie sind einfach nach Dohuk und Erbil gefahren, sie haben niemandem gesagt: "Achtung, ISIS kommt". Sie mussten das sagen, Achtung wir gehen, ISIS kommt.

Gegenwind:

Von wem haben Sie gehört, dass ISIS kommt?

Kheder Elias:

Von niemandem. Um acht Uhr habe ich Schüsse gehört, von Gewehren. Ich habe Papa gesagt: ISIS kommt. Es muss ISIS sein, sie kommen um uns zu töten. Wir sind alle ins Aute gestiegen. Meine Familie hatte ein Auto, aber viele hatten kein Auto. Sie mussten zu Fuß in die Berge gehen, zehn Stunden, elf Stunden. Kein Essen, kein Wasser, und es war sehr heiß. Viele Leute sind gestorben auf dem Weg, viele Kinder, viele alte Menschen.

Gegenwind:

Hat Ihnen in den Bergen jemand geholfen?

Kheder Elias:

Manchmal ja. Nicht bei uns, aber bei anderen. Es waren zu viele Leute, man konnte nicht allen helfen. Aber es gab Hilfe.

Gegenwind:

Wer hat Ihnen geholfen?

Kheder Elias:

Ich glaube, Amerika. Und auch Peshmerga.

Gegenwind:

Und wie konnten Sie von dort weg?

Kheder Elias:

Sie haben einen Weg für uns gemacht, das war die PKK. Sie haben einen Weg für uns gemacht, und alle Leute konnten nach Kurdistan gehen. Zuerst gab es einen Weg nach Syrien, und dann kamen Peshmerga mit Autos, und alle konnten nach Kurdistan.

Gegenwind:

Und wohin kamen Sie?

Kheder Elias:

Unsere Familie ging nach Dohuk. Meine Cousinen waren auch dort. Dort war ein Freund von meinem Vater. Der hatte noch eine alte Wohnung. Dort lebten dann sieben Familien zusammen in einem Haus. Dort waren wir ein Jahr lang, sieben Familie mit einhundertachtzehn Leuten zusammen in einem Haus. Dann hat mein Vater gesagt, wir müssen nach Deutschland gehen, keiner kann hier leben. Wir sind mit meiner Mutter und meinem Bruder zu Fuß nach Deutschland gekommen. Erst mein Vater und meine Mutter, danach mein Bruder und ich.

Gegenwind:

Wie lange hat es gedauert, nach Deutschland zu kommen?

Kheder Elias:

Einen Monat.

Gegenwind:

Durch welche Länder sind Sie gekommen?

Kheder Elias:

Das erste Land für meinen Bruder und mich war die Türkei. Das war mit einem Bus. Dort waren wir eine Woche. Dann waren wir in Bulgarien, dann Serbien, dann Ungarn, dann Kroatien, dann Slowenien, dann Österreich, dann Deutschland. Und alles zu Fuß, einen Monat lang.

Gegenwind:

Hat Ihnen jemand in Bulgarien oder in Serbien geholfen?

Kheder Elias:

Nein. Neunmal hat die Polizei in Bulgarien uns festgenommen und in die Türkei zurück gebracht. Neunmal. Wir waren ein Tag, manchmal zwei Tage bei der Polizei. Keiner hat geholfen, wir haben auch nichts zu trinken bekommen. Und es war kalt. Wir haben in der Türkei immer gesagt, wir sind aus Syrien. Wenn wir aus Syrien sind, können wir in der Türkei bleiben. Wenn wir sagen, wir kommen aus dem Irak, werden wir sofort nach Erbil abgeschoben. Wir haben "Syrien" gesagt.

Gegenwind:

Wo sind Sie als erstes in Deutschland angekommen?

Kheder Elias:

Zuerst in München.

Gegenwind:

Hatten Sie in München Kontakt mit der Polizei?

Kheder Elias:

Ja. Wir waren in einem Heim, da war auch Polizei.

Gegenwind:

Was ist der Unterschied zwischen der Polizei im Irak, in Bulgarien, in Deutschland?

Kheder Elias:

In der Türkei und in Bulgarien werden wir immer geschlagen von der Polizei. In Deutschland hat die Polizei uns geholfen, natürlich. Im Irak und in der Türkei will uns keiner. Von München sind wir dann nach Dortmund geschickt worden, dann habe ich meinen Bruder in Bremen angerufen. Der hat uns abgeholt, dort war ich zwei Tage bei meiner Familie. Dann musste ich nach Kiel, in ein Heim, dort musste ich zwei Monate bleiben. Das war am Kopperpahler Teich. Und jetzt sind wir hier in diesem Haus in Schönkirchen.

Gegenwind:

Wie war das Asylverfahren?

Kheder Elias:

Das war kein Problem. Ich habe jetzt einen blauen Pass. Wir dürfen in Deutschland bleiben, wir haben jetzt eine Erlaubnis für drei Jahre.

Gegenwind:

Als Sie nach Kiel oder nach Schönkirchen kamen: Haben Sie nach anderen Jesiden gesucht?

Kheder Elias:

Ja, wir haben in Kiel Jesiden gefunden. Es gibt hier nicht so viele, vielleicht einhundertfünfzig.

Gegenwind:

Ist es wichtig, dass hier andere Jesiden leben?

Kheder Elias:

Ja, das ist wichtig. Wir brauchen unsere Leute, wir brauchen Jesiden. Auch in Schönkirchen.

Gegenwind:

Kennen Sie nur Jesiden aus dem Irak? Oder kennen Sie auch Jesiden aus der Türkei oder aus Syrien?

Kheder Elias:

Nein, wir kennen nur Jesiden aus dem Irak. Ich habe gehört, dass auch Jesiden aus Syrien in Kiel leben, das hat mir eine Freundin erzählt. Aber ich habe sie noch nicht getroffen.

Gegenwind:

In den letzten drei Jahren sind viele Jesiden aus dem Irak nach Deutschland gekommen.

Kheder Elias:

Ja, schon früher. Ich glaube, seit zwanzig Jahren sind Jesiden nach Deutschland gekommen. Wir wollen immer nach Deutschland.

Gegenwind:

Sind von ihrer Familie noch welche im Irak?

Kheder Elias:

Ja, es sind noch viele da. Sie wollen auch nach Deutschland, aber im Moment gibt es keinen Weg.

Gegenwind:

Bald leben in Deutschland mehr Jesiden als im Irak.

Kheder Elias:

Ja. Es ist mein großer Traum: Wir wollen eine große Stadt, dort sollen alle Jesiden leben, alle in einer großen Stadt. Wir wollen das, aber wir dürfen das nicht. Zum Beispiel sind mein Bruder und ich jetzt hier seit einem Jahr, aber wir dürfen nicht nach Bremen umziehen.

Gegenwind:

Möchten Sie lieber zusammen leben?

Kheder Elias:

Ja, mit allen Jesiden. Wir möchten auch immer unsere Feste zusammen feiern.

Gegenwind:

Wenn jetzt ein jesidisches Fest ist, wo treffen Sie sich?

Kheder Elias:

Wir können meistens nicht nach Bremen. Aber allein hier feiern geht nicht. Hier sind vielleicht mal zwei, drei Leute zusammen. Das ist nicht schön, das geht nicht. Im Irak waren wir immer so viele Leute, wenn es ein Fest gab. Wir wollen mehr Jesiden treffen.

Gegenwind:

Haben Sie gehört, dass Deutschland auch jesidische Frauen mit dem Flugzeug im Irak abgeholt hat?

Kheder Elias:

Ja, die sind nach Stuttgart gekommen. Das habe ich gehört. Das ist sehr gut. Sie können nicht in Sindjar im Irak bleiben. Im Irak werden die Frauen nicht akzeptiert, da können sie nicht bleiben. Sie waren ein Jahr oder zwei Jahre bei ISIS. Sie müssen nach Deutschland kommen.

Gegenwind:

Im Irak hatten Sie Probleme mit Muslimen. Hatten Sie hier auch Probleme?

Kheder Elias:

In der Schule machmal. Ich bin im Deutschkurs. Das ist in der Volkshochschule. Da sind drei oder vier andere Jesiden. Aber alle anderen sind Muslime. Und die Muslime sagen immer, Du bist Jesidin, Du bist keine Muslima. Sie sagen: Mach das. Ich sage: Ich bin jesidisch, ich mache das nicht. Sie sagen, über Jesiden steht nichts im Koran. Sie fragen immer, ob ich Gott kenne. Ich sage, ja, ich kenne Gott, es ist ein Gott für alle Leute. Nein, sie sagen, es ist ein Gott nur mit dem Koran.

Gegenwind:

Haben Sie mit Deutschen Probleme?

Kheder Elias:

Nein, einmal nur. Ich kam zu spät zu meinem Bus, ich bin gelaufen, ich hatte nur eine Minute. Der Bus fährt nur einmal jede Stunde, ich musste laufen, ich war müde, ich wollte zurück nach Hause, und ich wollte nicht eine Stunde warten. Ich bin gelaufen, und ein Mann hat mir ein Bein gestellt. Ich bin hingefallen, drei Meter weit. Ich habe gefragt: Warum, ich mach doch nicht. Seine Frau sagte, alle Asyl sind scheiße. Aber ich musste laufen, ich konnte nicht antworten. Ich kann auch nicht genug Deutsch sprechen.

Gegenwind:

Aber alle anderen sind okay?

Kheder Elias:

Ja, in Schönkirchen sind alle okay. Die Polizei ist okay, die Ausländerbehörde, alle, alle.

Gegenwind:

Was haben Sie jetzt vor?

Kheder Elias:

Ich möchte B1 machen, dann will ich eine Ausbildung machen. Ich möchte Sekretärin werden.

Gegenwind:

Schaffen Sie das?

Kheder Elias:

Ich glaube ja.

Interview: Reinhard Pohl

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