(Gegenwind 347, August 2017)
Bushra Shammo Raffo ist 20 Jahre alt und seit einem Jahr in Deutschland. Da ein Verfahren zur Abschiebung nach Kroatien (Dublin-Verfahren) läuft, lebt sie vorübergehend im Kirchenasyl im Kirchenkreis Rantzau-Münsterdorf. Dort trafen wir sie zum Interview.
Gegenwind:
Können Sie sich bitte als erstes vorstellen?
Bushra Shammo Raffo:
Ich komme aus dem Irak, aus Shingal.
Gegenwind:
Haben Sie dort mit Ihrer Familie gelebt?
Bushra Shammo Raffo:
Ja. Meine Onkels lebten dort, meine Tanten, meine Oma, die Frauen von meinen Onkels und so weiter. Die Familie bestand aus 20 Leuten, wir lebten dort zusammen. Aber jetzt bin ich mit meinem Vater, meiner Mutter und meinen Geschwistern hierher gekommen, alle anderen sind noch im Irak. Einige meiner Verwandten sind hier, ein paar Cousinen, aber nur wenige.
Gegenwind:
Waren Ihre Nachbarn im Irak auch Jesiden?
Bushra Shammo Raffo:
Die meisten waren Jesiden. Aber es gab auch einige, die zum Islam gehörten. In meiner Stadt selbst waren nur Jesiden, aber in den Nachbarorten gab es auch Muslime.
Gegenwind:
Wann sind Sie dort weggegangen?
Bushra Shammo Raffo:
Das war 2014, Anfang August.
Gegenwind:
Was ist denn bei Ihnen passiert?
Bushra Shammo Raffo:
Es gibt in vielen Ländern Krieg. Bei uns gab es auch Krieg, in Shingal. ISIS hat viele Menschen getötet, Männer, Frauen und auch Kinder. Sie haben auch viele Männer getötet, aber die Frauen und Kinder mitgenommen. Sie haben dann die Frauen und Kinder aufgeteilt. Die alten Frauen haben sie auch getötet. Die Frauen, die unter fünfzig Jahre alt waren, haben sie vergewaltigt. Auch die Mädchen, die erst neun Jahre alt waren. Von den jüngeren Frauen wurden einige schwanger. Sie durften nicht die Operation machen, damit die Kinder nicht geboren werden. Es war aber klar, sie würden sowieso sterben, ob sie das Kind bekommen oder nicht. Sie haben die Männer getötet, aber die Kinder über sechs Jahre haben sie den Eltern weggenommen, damit sie lernen, wie man Leute tötet. Sie haben Frauen tagelang kein Essen gegeben, nach einer Woche haben sie die kleinen Kinder der Frauen getötet und gekocht und das Fleisch den Müttern gegeben. Und die haben es gegessen ohne das zu wissen.
Es gab früher auch Krieg, und es gibt bis heute Krieg. Aber ich habe vorher nicht geglaubt, dass es so schlechte Menschen und so schlechte Sachen gibt. Ich konnte damals lange Zeit nicht sprechen, weil ich nicht wusste, dass es solche Dinge in der Welt gibt. Ich wusste nicht, dass es so schlimme Sachen und so schlechte Menschen gibt.
Gegenwind:
Konnten Sie denn fliehen, bevor ISIS zu Ihrem Haus kam?
Bushra Shammo Raffo:
Nein, konnten wir leider nicht. Hätten wir gerne. Und auf dem Weg haben wir viele gesehen, die haben es auch nicht geschafft. Es gab Felder auf beiden Seiten der Straße nach Kurdistan, ISIS hatte die Felder verbrannt. Und wir hörten Schüsse und Explosionen. Sie haben auf die Autos der Flüchtlinge geschossen und auch getroffen. Es gibt auch Orte, da gibt es nicht mehr als zehn Menschen, die es geschafft haben zu fliehen. Alle anderen Männer haben sie getötet, und die Frauen und Kinder mitgenommen. Wir hatten ein Auto und wir hatten Glück. Wir konnten es schaffen. Wir sind nach Kurdistan Irak geflohen, in der Nähe von Dohuk. Aber die ganze Familie hatte nur ein Auto. Ich habe viele Menschen gesehen, auch viele Kinder. Sie haben uns gebeten, sie mitzunehmen, denn sie hatten kein Auto. Unser Herz tut weh, denn wir konnten sie nicht mitnehmen. Wir hatten keinen Platz mehr im Auto.
Gegenwind:
Gab es Leute, die Ihnen geholfen haben?
Bushra Shammo Raffo:
Nein. Es gab in Kurdistan und in der Türkei einige Menschen, die gehören zur PKK (Arbeiterpartei Kurdistans). Die sind gekommen und haben vielen Menschen geholfen, damit sie nicht sterben. Sie haben auch den Menschen geholfen, die in die Berge geflohen waren. Sie haben geholfen, dass ISIS sie nicht tötet.
Gegenwind:
Haben die Peshmerga Ihnen geholfen?
Bushra Shammo Raffo:
Nein. Sie waren bei uns, aber als ISIS gekommen ist, sind sie geflohen. Sie haben nicht gekämpft. Es war keine andere Polizei da. Sie haben uns nicht geholfen.
Gegenwind:
Wie sind Sie aus dem Irak in die Türkei gekommen?
Bushra Shammo Raffo:
Wir sind zu Fuß gekommen. Wir mussten durch die Berge, weil wir nicht einfach so gehen konnten. Wir sind sieben Stunden gelaufen, mit meinen kleinen Geschwistern. Wir mussten die Kleinen tragen. Wir haben nicht gedacht, dass meine Mutter es schaffen wird. Wir wollten schnell in die Türkei, und wir konnten kein Wasser mitnehmen. Es sind einige Leute auf dem Weg gestorben, sie konnten nicht mehr laufen.
Gegenwind:
Wie lange waren Sie in der Türkei?
Bushra Shammo Raffo:
Ungefähr zwei Jahre.
Gegenwind:
Sind Sie in der Türkei gut behandelt worden?
Bushra Shammo Raffo:
Ja. Wir waren in drei verschiedenen Städten. Wir waren immer im Lager, wir haben in Zelten gelebt. Aber sie haben uns was zu Essen gegeben. Und sie gaben uns Wasser. Aber es gab so viel Schnee, und es gab manchmal keinen Strom, es war so kalt in den Zelten.
Gegenwind:
Sind Sie im Irak als Kind in die Schule gegangen?
Bushra Shammo Raffo:
Ja. Ich habe die zehnte Klasse abgeschlossen. Aber in der Türkei konnte ich nicht in die Schule gehen, ich war nur im Lager. Und die kleinen Geschwister konnten auch nicht in die Schule gehen.
Gegenwind:
Wie sind Sie hierher gekommen?
Bushra Shammo Raffo:
Wir mussten über das Wasser fahren. Und dann nach Griechenland und so weiter, bis wir hierher gekommen sind. Manchmal zu Fuß, manchmal auch im Zug. Eine Organisation hat uns geholfen, aber ich weiß nicht, wer das war. Das war in einem Land, in anderen Ländern nicht. Wir sind manchmal mit dem Zug gefahren, aber meistens zu Fuß.
Gegenwind:
Wussten Sie immer, in welchem Land Sie gerade sind?
Bushra Shammo Raffo:
Nein, wir haben das nicht gewusst. Wir wollten nur schnell hierher kommen. Wir haben nur an andere Dinge gedacht.
Gegenwind:
Hatten Sie den Plan, nach Deutschland zu kommen?
Bushra Shammo Raffo:
Ja, wir wollten hierher kommen.
Gegenwind:
Warum?
Bushra Shammo Raffo:
Wir haben gewusst, dass es hier Sicherheit gibt, mehr als in den anderen Ländern. Und hier interessieren sich die Menschen für Flüchtlinge, sie helfen mehr als in anderen Ländern. Und die Religion der Jesiden ist hier frei. Es gibt mehr Menschlichkeit hier, besonders für die Jesiden.
Gegenwind:
Sie waren ja auch in Kroatien. Wie lange waren Sie dort?
Bushra Shammo Raffo:
Wir haben von der Türkei bis nach Deutschland elf Tage gebraucht. Wir haben in keinem Land geschlafen, wir waren immer unterwegs. Wir waren in keinem Land länger.
Gegenwind:
Wo sind Sie in Deutschland als erstes angekommen?
Bushra Shammo Raffo:
In Regensburg. Das war in Bayern. Danach waren wir in einem Lager in Amberg, ich glaube vier Monate. Dann haben wir einen Transfer bekommen, aber dann haben wir eine Abschiebung bekommen nach Kroatien. Das hat meine Familie bekommen, aber ich nicht, weil ich schon über 18 Jahre alt war. Aber danach habe ich das auch bekommen. Aber wir wollten nicht nach Kroatien. Aber die anderen aus meiner Familie mussten gehen. Ich habe jetzt Kirchenasyl. Auch in Kroatien können wir nicht zur Ruhe kommen. Es leben dort keine anderen Jesiden. Wir brauchen den Kontakt mit Jesiden, um unsere Religion leben zu können. Die Trennung von anderen macht uns auf Dauer krank. Als meine Familie nach Kroatien abgeschoben wurde, kamen sie in ein überfülltes Haus mit vielen anderen Flüchtlingen. Sie bekamen wenig zu Essen dort. Meine Mutter war schwanger und bekam fast keine Medizin. Alle zwei Wochen kam ein Team von Ärzten einer Organisation. Die gaben meiner Mutter Tabletten für Schmerzen, mehr nicht. Aber sie braucht eine besondere Medizin, damit das Kind fest im Bauch bleibt. Es gab keine Untersuchung während der Schwangerschaft. Sie sind wieder geflohen von Kroatien hier nach Deutschland. Meine Mutter ist schwanger im 9. Monat nachts durch die Wälder gelaufen mit meinen kleinen Geschwistern. Mein kleiner Bruder ist nun geboren und sie sind jetzt in einem Lager hier.
Gegenwind:
Sind Sie jetzt von Deutschland enttäuscht?
Bushra Shammo Raffo:
Alle unseren Verwandten, die in Europa sind, sind in Deutschland. Es ist ein sicheres Land, und die Menschen hier interessieren sich für unsere Religion. Jeder kann seinen Glauben leben. Es gibt keine Verbote. Wir haben trotzdem den Befehl zur Abschiebung bekommen, obwohl alle unsere Geschichte wissen und wissen, was mit uns passiert ist. Wir verstehen nicht, warum wir abgeschoben werden sollen. Aber ich bin zufrieden mit den Menschen hier in der Kirche. Die Leute sind nett und helfen mir.
Gegenwind:
Haben Sie hier Kontakt mit anderen Jesiden?
Bushra Shammo Raffo:
Ja, ich habe Kontakt. Ich habe Kontakt mit meinen Verwandten und einigen anderen Leuten, die ich kenne.
Gegenwind:
Haben Sie schon deutsche Jesiden kennen gelernt?
Bushra Shammo Raffo:
Ja, ich habe einige kennen gelernt.
Gegenwind:
Brauchen Jesiden andere Jesiden, um gut leben zu können?
Bushra Shammo Raffo:
Ja, natürlich. Es ist schwer, meinen Glauben woanders zu leben. Nicht zu Hause, sondern in einem anderen Land. Dafür brauche ich Kontakt zu anderen Jesiden. Aber für ein gutes Leben, brauche ich jeden Menschen, den ich kenne. Auch die, die keine Jesiden sind, sind nett und freundlich. Wenn sie ein Fest haben, freue ich mich auch, wenn wir Kontakt miteinander haben, und wenn wir ein Fest haben, freue ich mich, wenn wir etwas miteinander machen können.
Gegenwind:
Waren Sie hier in Deutschland schon bei Veranstaltungen von Jesiden?
Bushra Shammo Raffo:
Nein. Ich konnte nicht hin, weil ich im Kirchenasyl lebe. Es ist schwer für mich, ich kann nicht zu Veranstaltungen hingehen. Aber ich höre davon, und ich habe Kontakt. Ich habe viel Kontakt über das Internet.
Gegenwind:
Haben Sie auch Kontakt mit Mitgliedern Ihrer Familie im Irak?
Bushra Shammo Raffo:
Ja, ich habe Kontakt. Es geht ihnen immer schlechter. Sie denken immer an die, die tot sind. Sie bekommen neue Nachrichten von ISIS. Sie hören immer, was ISIS mit den Mädchen und den Menschen macht, die noch bei ihnen sind. Und viele haben sich umgebracht, weil sie nicht mehr so schlecht leben können. Und sie können nicht mehr die schlechten Nachrichten hören, die Nachrichten von ihren Töchter, von ihren Nachbarn, von ihren Familien.
Gegenwind:
Haben Sie hier in Deutschland von Veranstaltungen über den Irak oder über Jesiden gehört?
Bushra Shammo Raffo:
Ja. Ich höre von den Veranstaltungen. Aber ich kann mich nicht mit ihnen treffen.
Gegenwind:
Wissen die Deutschen genug über das, was mit den Jesiden passiert?
Bushra Shammo Raffo:
Ich glaube, es muss noch mehr Informationen geben. Es ist nicht genug, es reicht noch nicht.
Gegenwind:
Haben Sie gehört, dass Deutschland den Peshmerga Waffen gegeben hat?
Bushra Shammo Raffo:
Ja, das habe ich gehört. Aber sie brauchen die Waffen für sich. Sie haben aber den Jesiden wieder nicht geholfen. Die Jesiden haben keine Hoffnung mehr.
Gegenwind:
Geht es den Jesiden in Deutschland besser als in anderen Ländern?
Bushra Shammo Raffo:
Ja, das glaube ich. Hier in Deutschland ist es für uns besser als in den anderen Ländern. Aber ich habe bisher nur Kontakt mit Jesiden aus dem Irak.
Gegenwind:
Was wollen Sie machen, wenn sie später eine Aufenthaltserlaubnis bekommen?
Bushra Shammo Raffo:
Dann werde ich viele Kontakte haben. Und ich werde mich freuen, wenn ich den Jesiden hier helfen kann. Ob es kleine Sachen oder große Sachen sind, ist egal. Denn Jesiden bekommen keine Hilfe, außer in Deutschland. Ich werde tun was ich kann, um ihnen in Deutschland zu helfen.
Interview: Reinhard Pohl