(Gegenwind 347, August 2017)
Ich treffe mich in Pinneberg mit Anwar Khalaf. Er ist mit seinen Eltern und vier Brüdern in Deutschland.
Gegenwind:
Können Sie sich als erstes vorstellen?
Anwar Khalaf:
Ich bin Anwar Khalaf. Ich komme aus dem Irak. Dort komme ich aus Shingal.
Gegenwind:
Wie haben Sie in Shingal gelebt?
Anwar Khalaf:
Ich lebte dort mit meiner Familie. Ich habe sechs Brüder, wir lebten dort mit unseren Eltern.
Gegenwind:
Hatten Sie dort ein eigenes Haus? Oder eine Wohnung?
Anwar Khalaf:
Wir hatten als Familie ein Haus.
Gegenwind:
Waren Ihre Nachbarn dort alle Jesiden?
Anwar Khalaf:
Ja, unsere Nachbarn waren Jesiden.
Gegenwind:
Wann haben Sie Shingal verlassen? Und warum?
Anwar Khalaf:
ISIS war in der Nähe, wir hatten die Nachrichten gesehen. Dann haben meine Eltern entschieden, dass wir Shingal verlassen müssen. Wir sind im Juli 2014 in die Türkei gefahren.
Gegenwind:
Wie sind Sie gefahren?
Anwar Khalaf:
Wir sind mit dem Auto bis an die Grenze gefahren. Dann sind wir mit dem Bus weiter bis Ankara. Dann sind wir weiter bis Isparta, dort haben wir gewohnt.
Gegenwind:
Wie lange sind Sie in der Türkei geblieben?
Anwar Khalaf:
Wir haben dort ungefähr eineinhalb Jahre gelebt.
Gegenwind:
Warum sind Sie aus der Türkei weg?
Anwar Khalaf:
Die Türkei gibt uns keinen Ausweis oder Papiere, wir konnten nicht in die Schule gehen. Wir konnten auch nicht über unsere Religion sprechen, wir konnten nicht allen Leuten sagen, wir sind Jesiden.
Gegenwind:
Wer hat denn entschieden, dass Sie aus der Türkei weggehen?
Anwar Khalaf:
Meine Eltern. Dann ist mein Vater nach Deutschland gekommen, wir sind erst gekommen, als er anerkannt wurde.
Gegenwind:
Wissen Sie, wie Ihr Vater nach Deutschland gekommen ist?
Anwar Khalaf:
Ich weiß es nicht genau, aber zu Fuß, nur manchmal mit einem Auto.
Gegenwind:
Wo hat Ihr Vater Asyl beantragt?
Anwar Khalaf:
Er war erst im Camp in Neumünster. Dann kam der Transfer nach Pinneberg, und hier hat er Asyl bekommen. Er ist im Mai 2015 in Deutschland angekommen. Asyl hat er erst im September oder Oktober bekommen.
Gegenwind:
Und wie ging es dann weiter?
Anwar Khalaf:
Er hat irgendwelche Papiere für uns fertig gemacht. Wir haben dann ein Visum bekommen. Das haben wir in Ankara beantragt, dazu mussten wir dort ein Interview machen. Es dauerte nach dem Interview noch einen Monat.
Gegenwind:
Wer hat die Reise nach Deutschland bezahlt?
Anwar Khalaf:
Das haben wir bezahlt. Es war nicht so teuer, ungefähr 600 Euro für alle.
Gegenwind:
Haben Sie hier eine Wohnung gefunden, die reicht? Oder hatte Ihr Vater schon eine Wohnung?
Anwar Khalaf:
Er hatte keine Wohnung. Wir sind am ersten Tag zum Sozialamt hier in Pinneberg gegangen, und die haben uns diese Wohnung gegeben. Aber die reicht nicht, die ist zu klein für uns. Wir sind sieben Personen, die Wohnung ist 77 Quadratmeter groß.
Gegenwind:
Warum sind Sie nicht alle in Deutschland?
Anwar Khalaf:
Ein Bruder ist im Irak, ein Bruder ist in der Türkei. Das liegt daran, weil sie über 18 sind, die haben kein Visum bekommen. Und wir haben nicht genug Geld, sie können nicht nach Deutschland kommen.
Gegenwind:
Wollen beide auch nach Deutschland?
Anwar Khalaf:
Ja. Ein Bruder ist schon hier, der über 18 ist. Er ist zu Fuß gekommen.
Gegenwind:
Bekommen Sie von den Behörden alles, was Sie brauchen?
Anwar Khalaf:
Ja. Wir bekommen Geld, und wir sind auch in der Schule angemeldet.
Gegenwind:
Sind Sie in der normalen Schule?
Anwar Khalaf:
Ja, nur mein Bruder Idris nicht. Er ist ja nicht mit uns gekommen, er ist zu Fuß gekommen. Er muss jetzt erst Deutsch lernen.
Gegenwind:
Sie und ihre kleineren Brüder können Deutsch?
Anwar Khalaf:
Ja, wir können alle Deutsch.
Gegenwind:
Die Eltern auch?
Anwar Khalaf:
Ein bisschen.
Gegenwind:
Müssen Sie Ihren Eltern helfen, wenn Post kommt?
Anwar Khalaf:
Ja, wir müssen übersetzen. Wir gehen immer mit.
Gegenwind:
Kennen Sie andere Jesiden hier im Ort?
Anwar Khalaf:
Ja. Es gibt ungefähr zehn Familien hier in Pinneberg.
Gegenwind:
Wenn es jesidische Feste gibt: Treffen Sie sich dann mit anderen hier in Pinneberg? Oder fahren Sie woanders hin?
Anwar Khalaf:
Wir sind noch nicht lange hier. Aber große Fest sind in Hamburg, wir können hinfahren, weil das in der Nähe ist.
Gegenwind:
Vorhin haben Sie gesagt, in der Türkei konnten Sie nicht offen sagen, dass Sie Jeside sind.
Anwar Khalaf:
Nicht allen Leuten. Einigen schon.
Gegenwind:
Hatten Sie Pinneberg auch solche Probleme?
Anwar Khalaf:
Nein. Hier gibt es kein Problem. Wir sagen überall, dass wir Jesiden sind.
Gegenwind:
Wissen alle Deutschen, was ein Jeside ist?
Anwar Khalaf:
Die meisten haben schon mal davon gehört. Aber sie wissen nicht viel, sie haben wenig Informationen über Jesiden.
Gegenwind:
Wie können Sie denen erklären, was ein Jeside ist?
Anwar Khalaf:
Ich versuche, die Religion zu erklären. Wir fasten an drei Tagen, die sind immer im Dezember. Wir glauben an Gott. Es gibt sieben Engel, und der größte der Engel heißt Taus Malek. Wir haben sechs Feste im Jahr.
Gegenwind:
Interessieren sich viele dafür?
Anwar Khalaf:
Ich denke ja.
Gegenwind:
Sie haben ja auch Regeln zum Zusammenleben. Wenn Sie erwachsen sind, dürfen Sie nur Jesiden heiraten. Glauben Sie, dass es in Deutschland so bleibt? Oder wird es Jesiden geben, die doch eine andere Freundin haben?
Anwar Khalaf:
Ich glaube, hier gibt es welche, die jemand anderen heiraten wollen. Aber für die meisten bleibt es so.
Gegenwind:
Haben Sie nur Kontakte mit Jesiden aus dem Irak? Oder kennen Sie auch Jesiden aus der Türkei oder Syrien?
Anwar Khalaf:
Nein, wir kennen hier nur Jesiden aus dem Irak. Aber ich war einmal bei meinem Onkel, der wohnt in Oldenburg. Dort gibt es viele Jesiden aus der Türkei, ich habe manche dort kennen gelernt.
Gegenwind:
Und Sie können sich mit allen verständigen?
Anwar Khalaf:
Ja, wir sprechen alle Kurmanci.
Gegenwind:
Gibt es Unterschiede in der Religion bei Jesiden aus verschiedenen Ländern?
Anwar Khalaf:
Vielleicht ein bisschen, aber die Religion ist überall gleich.
Gegenwind:
Sie wollen wahrscheinlich später auch mal nach Lalisch fahren. Geht das?
Anwar Khalaf:
Im Moment geht es nicht. Wir brauchen dafür ja Geld, und es muss sicher sein. Das geht im Moment nicht. Aber in der Zukunft wird es wieder gehen, ja.
Gegenwind:
In den letzten Jahren sind sehr viele Jesiden aus dem Irak nach Deutschland gekommen. Warum wollen so viele gerade nach Deutschland? Warum nicht nach Frank-reich oder nach Schweden?
Anwar Khalaf:
Ich glaube, weil die meisten Jesiden hier leben.
Gegenwind:
Kann es sein, dass in Deutschland irgendwann mehr Jesiden leben als im Irak?
Anwar Khalaf:
Ist schwer zu sagen, aber es kann sein. In der Türkei gibt es fast keine Jesiden mehr, glaube ich. Die leben alle in Deutschland. Und bei Syrien ist es glaube ich auch so, es gibt dort nur noch wenige Jesiden.
Gegenwind:
Wenn mehr Jesiden hier in Deutschland leben als in allen anderen Ländern, brauchen Sie hier einen Platz wie Lalisch? Brauchen Sie ein Zentrum, ein Haus für alle?
Anwar Khalaf:
Es gibt in einigen Orten schon ein jesidisches Haus. Es gibt ein paar in Deutschland. Aber es wäre gut, wenn es das hier auch gibt.
Gegenwind:
Glauben Sie, dass es solch ein Haus für Jesiden bald auch in Schleswig-Holstein oder in Hamburg gibt?
Anwar Khalaf:
Ich glaube ja. In Zukunft wird es das geben. Es gibt jetzt noch nicht so viele Jesiden in Schleswig-Holstein.
Gegenwind:
Glauben Sie, dass irgendwann Jesiden im Irak wieder normal leben können?
Anwar Khalaf:
Ich hoffe. Aber es ist schwer jetzt. Jetzt gibt es auch Probleme zwischen Irak und Kurdistan.
Gegenwind:
Am 25. September findet die Abstimmung in Kurdistan statt, ob Kurdistan unabhängig werden soll. Haben Sie Interesse an der Unabhängigkeit von Kurdistan? Oder möchten Sie, dass der Irak zusammen bleibt?
Anwar Khalaf:
Ich glaube, für Jesiden ist das egal. Nach Shingal sind Jesiden auch noch nicht zurückgekehrt. Dort kann man nur abstimmen, wenn sie zurückgekehrt sind. Jetzt können Jesiden nicht entscheiden, ob der Irak besser ist oder Kurdistan.
Gegenwind:
Und wenn Sie alle Länder ansehen, Irak, Syrien, Türkei, Deutschland: Welches Land ist für Jesiden das beste?
Anwar Khalaf:
Deutschland ist für uns am besten.
Interview: Reinhard Pohl