(Gegenwind 347, August 2017)

Amir Aloka

Jesiden in Schleswig-Holstein

„Ich wünsche mir, dass alle Jesiden in Deutschland leben”

In der Nähe von Razeburg wohnt die jesidische Familie Aloka. Ich spreche mit dem Sohn, Amir Aloka (Foto rechts). Später kommt die Mutter Hoda Aloka (Foto unten) dazu.

Gegenwind:

Können Sie sich erst mal vorstellen?

Amir Aloka:

Ich bin Amir Aloka. Ich komme aus dem Irak. Ich bin Jeside. Ich bin 21 Jahre alt.

Gegenwind:

Wann sind Sie aus dem Irak nach Deutschland gekommen?

Amir Aloka:

Am 7. Dezember 2015 habe ich den Irak verlassen. Am 21. Dezember bin ich in Deutschland angekommen.

Gegenwind:

Wie viele Mitglieder hat Ihre Familie hier in Deutschland?

Amir Aloka:

Es sind sehr viele. Ungefähr siebzig.

Gegenwind:

Wann sind die ersten Mitglieder der Familie nach Deutschland gekommen?

Amir Aloka:

Zuerst ist mein Vater gekommen. Das war im August 2015.

Gegenwind:

Wie haben Sie im Irak gelebt?

Amir Aloka:

Wir haben in Bashiqa gewohnt. Dort sind sechzig Prozent Jesiden, vierzig Prozent sind andere Religionen, Christen oder Muslime. Nachdem wir die Stadt verlassen haben, haben wir im Nordirak gewohnt. Wir hatten eine kleine Wohnung, wir waren dort 21 Personen. Das war sehr schlimm.

Gegenwind:

Warum haben Sie Bashiqa verlassen?

Amir Aloka:

Weil ISIS gekommen ist. Wir haben gehört, dass in Shingal die Soldaten und die Peshmerga alle weggelaufen sind. Wir hatten Angst, dass das in meiner Stadt auch passiert. Deshalb sind wir weggelaufen, bevor ISIS kam. Wir haben nur wenige Sachen mitgenommen, alles andere ist dort geblieben.

Gegenwind:

Haben Sie vorher mit Ihren Nachbarn gut zusammengelebt, auch mit denen einer anderen Religion?

Amir Aloka:

Mit meinen Nachbarn im Irak: Ja. Die meisten Nachbarn waren Jesiden. Die Muslime wohnten weiter weg, ich glaube, das können auch keine guten Nachbarn sein. Drei Häuser weiter wohnten Christen, wir hatten keine Probleme mit ihnen. Probleme gab es mit Muslimen.

Gegenwind:

Als Ihr Vater nach Deutschland kam, bekam er schnell eine positive Antwort für den Asylantrag?

Amir Aloka:

Er war vorher in Bulgarien, und er hatte ein Dublin-Verfahren. Er hat lange gewartet, bis die Aufenthaltserlaubnis kam. Aber jetzt gibt es kein Problem. Aber zuerst gab es Probleme. Er ist vom Irak in die Türkei, dann von der Türkei nach Bulgarien. In Bulgarien hat er sich zwei Tage lang im Wald verirrt, dann hat ihn die Polizei ins Gefängnis gebracht. Dort war er zwanzig Tage. Später ist er rausgekommen, kam in ein kleines Heim, und dann ist er nach Deutschland gekommen. Zuerst war er dann in München, dann in Bremen, dann kam er nach Neumünster, dann nach Rendsburg, dann nach Husum, später hierher nach Ratzeburg.

Gegenwind:

Haben Sie in Schleswig-Holstein herausgefunden, wo andere Jesiden leben?

Amir Aloka:

Zuerst wussten wir das nicht. Mein Vater wollte erst in Bremen bleiben, dort leben drei Onkel von mir. Aber es kam der Transfer nach Schleswig-Holstein, da wusste er noch nicht, ob es hier Jesiden gibt.

Gegenwind:

Was hat Ihr Vater gemacht, als er die positive Antwort hatte?

Amir Aloka:

Er hat sofort seine Familie hergeholt, die bekamen ein Visum.

Gegenwind:

Wie lange mussten sie warten?

Amir Aloka:

Das dauerte 46 Tage.

Gegenwind:

Wo haben sie das Visum beantragt?

Amir Aloka:

In Ankara in der Türkei. Das war aber nur für drei Personen. Wir sind mit dem Gummiboot gekommen.

Gegenwind:

Wie viele Personen waren das?

Amir Aloka:

Drei Personen haben ein Visum bekommen, meine Mutter und ich, meine Cousins und mein Bruder sind mit dem Gummiboot gekommen.

Gegenwind:

Wie viel hat das gekostet?

Amir Aloka:

Für jede Person eintausend Euro.

Gegenwind:

Sind Sie hier in Deutschland schon mal mit einem Boot gefahren?

Amir Aloka:

Nein, das können wir nicht. Wir haben alle Angst. Wir können alle nicht schwimmen. Wir müssen erst schwimmen lernen.

Hoda Aloka

Hoda Aloka:

Wir können alle nicht schwimmen, und wir haben alle Angst.

Amir Aloka:

Mein Bruder ist jetzt 17 Jahre alt, der hat jetzt schwimmen gelernt. Ich möchte auch einen Kurs machen und schwimmen lernen.

Gegenwind:

Haben Sie hier Kontakt mit anderen Jesiden?

Amir Aloka:

Ja, in Ratzeburg leben andere Jesiden. In Lübeck oder in Hamburg kennen wir nicht so viele.

Hoda Aloka:

In Mölln leben auch Jesiden, die wir kennen.

Gegenwind:

Brauchen Sie Kontakt zu anderen Jesiden?

Amir Aloka:

Ja, das ist wichtig. Es ist ein gutes Gefühl.

Gegenwind:

Suchen Sie hauptsächlich Jesiden aus dem Irak? Oder suchen Sie auch Jesiden aus der Türkei oder aus Syrien?

Amir Aloka:

Für uns ist das egal. Wenn es Jesiden sind, ist es egal, woher sie kommen.

Gegenwind:

Kennen Sie denn Jesiden aus der Türkei oder Syrien?

Amir Aloka:

Wir kennen noch niemanden, nur aus dem Irak.

Gegenwind:

Es kann sein, dass bald in Deutschland mehr Jesiden leben als im Irak. Glauben Sie, dass alle Jesiden den Irak verlassen wollen?

Amir Aloka:

Ja. Alle Jesiden möchten nach Deutschland kommen. Das Jahr 2014 war eine Katastrophe. Aus unserer Stadt sind alle weggelaufen, aber in Shingal sind die Soldaten und die Peshmerga weggelaufen, aber die Menschen sind dort geblieben. Und als ISIS kam, haben sie große Verbrechen begangen. Viele Kinder sind gestorben, die Frauen sind vergewaltigt worden. Unser Problem im Irak ist unsere Religion. Das war auch in Mossul so. Auch bevor ISIS kam, konnten Jesiden oder Christen nicht einfach durch Mossul gehen. Schon 2009 sind viele Verbrechen passiert. Wenn christliche Frauen kein Kopftuch trugen, ist immer was passiert. Alle Jesiden haben Angst, offen zu sprechen. Wenn die Jesiden heute im Irak gefragt werden, wollt Ihr mit dem Nordirak zusammen gehen, oder wollt Ihr bei Bagdad bleiben, können sie nicht entscheiden. Sie haben Angst vor beidem. Es gibt so viele Parteien, die schlechte Sachen mit Menschen machen.

Gegenwind:

Ist es Ihnen egal, wie die Abstimmung am 25. September ausgeht?

Amir Aloka:

Nein, egal ist das nicht. Der Nordirak gehört Masud Barzani, aber Barzani macht überhaupt nichts für Jesiden. Aber Bagdad hilft uns auch nicht.

Gegenwind:

Wenn es jesidische Feste gibt, treffen Sie sich dann hier mit anderen Jesiden?

Amir Aloka:

Ja. Wir versuchen nach Hannover oder nach Bremen zu fahren. Dort gibt es viele Jesiden, wir feiern in einer großen Halle. Wenn wir nicht fahren können, gibt es hier nur eine sehr kleine Feier.

Hoda Aloka:

In Ratzeburg leben vielleicht 20 Jesiden, in Mölln auch 20. Alle kommen aus dem Irak. Andere habe ich noch nicht gesehen.

Gegenwind:

Können Sie später wieder nach Lalisch fahren, in den Irak?

Hoda Aloka:

Vielleicht können wir später zu Besuch fahren. Aber wir können dort nicht bleiben.

Gegenwind:

Brauchen die Jesiden ein neues Zentrum in Deutschland.

Amir Aloka:

Ja, das brauchen wird. Das wäre gut.

Hoda Aloka:

Es muss ein Zentrum für Jesiden in Deutschland geben. Wir leben hier. Ich wünsche mir auch, dass alle Jesiden in Deutschland leben. Hier haben wir Freiheit, im Irak können die Jesiden nicht bleiben. Wir haben immer Angst, wir haben immer Sorgen. Wir haben 73 Angriffe überlebt, es gab dreiundsiebzig mal den Versuch, die Jesiden auszurotten.

Gegenwind:

Haben Sie Hoffnung, dass es im Irak irgendwann besser wird?

Amir Aloka:

Wenn es Religionsfreiheit gibt, dann ja. Zum Beispiel geht es in der Verfassung des Irak nur um Muslime, es steht dort nichts über Jesiden oder über Christen. Man kann als Jeside Lehrer werden oder Ingenieur, aber man kann nicht Richter werden. Das ist verboten, weil der Staat muslimisch ist.

Gegenwind:

Wie leben jesidische Frauen im Irak, wie leben sie in Deutschland?

Hoda Aloka:

In Deutschland haben wir keine Probleme. Aber im Irak gibt es viele Probleme. Wenn ich zum Beispiel durch Mossul gehe, muss ich ein Kopftuch tragen. Ich kann nicht sagen, ich bin jesidisch. Ich darf keine Hosen tragen, ich muss einen langen Rock tragen und lange Ärmel haben. Hier sind die meisten Menschen nett, wie die Christen im Irak. Ich weiß auch nicht, warum Muslime immer sagen, wie sollen die Religion wechseln. Warum? Es ist meine Religion.

Gegenwind:

Wie reagieren Deutsche, wenn Sie sagen, dass Sie Jesidin sind?

Hoda Aloka:

Das ist kein Problem, sie akzeptieren das.

Gegenwind:

Wissen alle Deutschen, was das für eine Religion ist?

Hoda Aloka:

Nein. Viele Menschen wissen nicht, was Jesiden sind. Ich muss das oft erklären. Ich kann es ein bisschen erklären, ich kann die Sprache noch nicht so gut, aber ich versuche es immer.

Gegenwind:

Wenn Sie hier Kinder haben, können Sie dann den Kindern die Religion erklären? Oder sollen das lieber jesidische Religionslehrer machen?

Hoda Aloka:

Ich kann das erklären. Im Irak gibt es auch jesidische Lehrer. Aber hier in Deutschland gibt es das nicht. Es wäre besser, aber hier in Deutschland gibt es das nicht. Die Religion ist wichtig, die Tradition ist auch wichtig.

Gegenwind:

Sie haben auch bestimmte Regeln. Wenn die Kinder groß werden, dürfen sie nur andere Jesiden heiraten. Muss das in Deutschland so bleiben? Oder kann das auch anders sein?

Hoda Aloka:

Es muss so bleiben.

Gegenwind:

Halten sich in zwanzig Jahren alle Kinder an die Regeln?

Hoda Aloka:

In meiner Familie sorge ich dafür. Aber ich kann das nicht für alle Familien sagen. Ich glaube, bei vielen ist das dann nicht mehr so. Aber das ist unsere Religion, und das ist unsere Tradition. Ich hoffe, sie vergessen das nicht.

Gegenwind:

Sind noch Mitglieder Ihrer Familie im Irak?

Hoda Aloka:

Meine Eltern und meine Schwestern sind noch im Irak.

Gegenwind:

Wollen sie auch nach Deutschland kommen?

Hoda Aloka:

Ja, sie möchten nach Deutschland, aber im Moment geht das nicht. Sie müssten zu viel bezahlen. Aber ich hoffe, sie kommen auch nach Deutschland. Das ist gut hier, vor allem für die Kinder. Hier habe ich keine Angst. Ich hatte im Irak immer Sorgen, hatte Angst um meine Kinder. Egal ob sie zur Schule gehen oder sonst draußen sind, ich hatte immer Angst. Ich hatte immer Angst, wenn sie fünf Minuten zu spät noch nicht wieder da waren. Und hier habe ich keine Angst.

Gegenwind:

Sind Sie jetzt in Ratzeburg zufrieden? Oder wollen Sie in eine andere Stadt?

Hoda Aloka:

Wir sind hier zufrieden. Es ist hier sehr schön, und die Leute in Ratzeburg sind sehr nett. Sie sind alle sehr freundlich, besonders unsere Nachbarn hier. Und der Pastor auch. Und wenn wir was brauchen, kommt immer jemand um zu helfen. Das ist hier sehr gut.

Interview: Reinhard Pohl

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