(Gegenwind 347, August 2017)
Amed Sido lebt schon seit mehr als zwanzig Jahren in Deutschland, ihre Kinder sind hier aufgewachsen. Sie arbeitet als Dolmetscherin für Kurdisch und Arabisch in Schleswig-Holstein. Das Interview machten wir in Norderstedt.
Gegenwind:
Kannst Du Dich zuerst bitte vorstellen?
Amed Sido:
Ich heiße Amed Sido. Ich komme aus dem Irak. Ich bin in Baadre geboren. Das gehört zu Shikhan, in der Provinz Mossul. Ich bin in Mossul und Baadre aufgewachsen.
Gegenwind:
Wie groß war der Ort?
Amed Sido:
Baadre hatte ca. 10.000 Einwohner. Alles war gut. Ich habe mit meinen Eltern und Geschwistern zusammen gelebt. Später habe ich geheiratet, ich habe mit meinem Mann auch in Baadre gelebt, auch in Mossul. Wir hatten ein Haus in Baadre und ein Haus in Mossul. In der letzten Zeit, bevor wir nach Deutschland flüchteten, war die Situation nicht mehr so gut. Es gab Kämpfe zwischen der kurdischen und der irakischen Region, und wir lebten direkt an der Grenze. Wir konnten ab 18 Uhr nicht mehr nach Mossul, es gab Kontrollen, die haben alle Straßen zugemacht. Das war zwischen 1991 und 1996, wir sind im März 1996 nach Deutschland gekommen.
Gegenwind:
Waren in Eurem Ort auch die Nachbarn Jesiden wie ihr?
Amed Sido:
Ja, unsere Nachbarn waren meistens Jesiden und Christen.
Gegenwind:
Und wie war es in Mossul? Da leben ja viel mehr verschiedene Gruppen.
Amed Sido:
Genau. In Mossul lebten wir zusammen mit Arabern, Kurden, Christen, Jesiden, da ist alles gemischt.
Gegenwind:
Und wie ging es Euch dort als Jesiden?
Amed Sido:
Das war eigentlich okay. Wir haben keine Probleme gehabt. Aber als ich schon in Deutschland war, waren meine Eltern ja noch dort. Meine anderen Verwandten waren auch dort. Du haben in einer Nacht einen Drohbrief bekommen, da stand drin: Wenn Ihr morgen früh um 5 Uhr noch zu Hause seid, dann werden wir Euch alle umbringen. Sie mussten sofort die Häuser in Mossul verlassen, sie sind nach Baadre geflohen.
Gegenwind:
Warum seid Ihr geflohen?
Amed Sido:
Damals war Saddam Hussein an der Macht, das war ganz schwierig für die Menschen.
Gegenwind:
Wie groß war Deine Familie, als Ihr geflohen seid?
Amed Sido:
Mein Schwager ist eine Woche vor uns geflüchtet, sein Cousin, beide mit ihren Familien. Danach sind wir gekommen, mit meinem Mann, und damals hatte ich zwei Kinder. Die älteste Tochter war zweieinhalb Jahre alt, die andere Tochter war zwei Monate.
Gegenwind:
Wie ging es Euch beim Asylverfahren? Hat das Bundesamt Eure Gründe für die Flucht anerkannt?
Amed Sido:
Ja, sofort. Nach einer Woche wurden wir anerkannt. Wir bekamen nach einer Woche den Bescheid, ich musste mein Foto bei der Ausländerbehörde abgeben, und zwei Monate später bekam ich meinen blauen Reisepass. Das war in Berlin-Spandau. Wir haben ein Jahr in Berlin gelebt, und danach haben wir ein Haus in Großenrode gemietet, das ist in der Nähe von Northeim in Niedersachsen. Wir lebten zwei Jahren in Großenrode, aber dort gab es keine Arbeit und keine Schule, deshalb sind wir nach Göttingen umgezogen. In Göttingen habe ich einen Sprachkurs gemacht und gearbeitet. Dort lebten wir vier Jahre. Aber damals gab es in Göttingen nicht viel Arbeit, aber viele Studenten, und viele haben als Aushilfe gearbeitet. Man konnte nicht so einfach einen guten Job bekommen. Wir haben nach Arbeit gesucht, und durch Bekannte haben wir in Kaltenkirchen Arbeit gefunden. Ich habe in einer Tankstelle gearbeitet, und mein Mann hat in Kaltenkirchen bei der Firma Moorkaten gearbeitet.
Gegenwind:
Wann seid Ihr nach Schleswig-Holstein gekommen?
Amed Sido:
Das war im Februar 2003.
Gegenwind:
Habt Ihr Euch drüber informiert, ob an anderen Orten auch Jesiden leben? Oder war das für Euch egal?
Amed Sido:
Nein, das ist nicht egal. Wir haben immer geguckt, wo leben Jesiden und wo gibt es Arbeit.
Gegenwind:
Wozu braucht Ihr andere Jesiden?
Amed Sido:
Wir halten zusammen. Wir haben unsere Feiern, unsere Kultur, unsere Tradition, und wir machen vieles gemeinsam. Das ist auch wichtig für die Kinder, damit sie nicht vergessen, welche Kultur wir haben. Wir helfen uns gegenseitig. Wir sind als Jesiden immer unterdrückt worden, und deswegen halten wir zusammen wie eine große Familie.
Gegenwind:
Hast Du hier Jesiden aus der Türkei und aus Syrien kennen gelernt?
Amed Sido:
Ja, viele.
Gegenwind:
Ist bei Euch die Hauptsache, dass Ihr Jesiden seid? Oder ist es auch wichtig, ob Ihr aus dem Irak, Syrien oder der Türkei kommt?
Amed Sido:
Bei Jesiden gibt es keine Probleme. Wir haben auch keine Probleme mit anderen Religionen. Gerade mit der christlichen Religion haben wir keine Probleme, im Irak haben viele jesidische Familien zu Hause auch Bilder von Jesus hängen. Wir hatten das in Irak auch. Das gibt es hier in Deutschland auch. Aber der Kontakt mit Jesiden ist immer besser.
Gegenwind:
Wie feiert Ihr Feste? Verabredet Ihr Euch mit anderen Jesiden? Gibt es feste Treffpunkte?
Amed Sido:
Das ist unterschiedlich. Zum Beispiel in Hannover gibt es sehr viele Jesiden. Die haben ein Haus, das "Jesidische Haus", das ist wie unsere Kirche. Und die Menschen versammeln sich dort und feiern dort. Wir brauchen niemanden einzuladen, alle wissen, es ist ein Feiertag, alle nehmen Essen und ihre Sachen mit und kommen und feiern zusammen. Hier sind nicht viele Jesiden, seit letztem Jahr sind wir ein paar mehr. Es gibt ein paar, die sind Sponsoren, das sind Leute die Firmen haben oder einfach ein bisschen mehr Geld haben, die mieten dann einen Saal in Quickborn. Wir haben schon zwei- oder dreimal in Quickborn gefeiert. Es gab auch schon Feiern in Henstedt-Ulzburg. Aber wir haben kein eigenes Haus, es wird ein Saal gemietet.
Gegenwind:
Wie erklärt Ihr Euren Kindern, woraus die Religion besteht? Machen alle Eltern das alleine? Oder organisiert Ihr auch Religionsunterricht?
Amed Sido:
Leider gibt es das bei uns nicht. Als ich Kind war, durften wir in der Schule keinen Religionsunterricht haben. Wir hatten keine Bücher dafür. Es gibt in Oldenburg und Hannover jeweils ein "Jesidisches Haus", auch in Bielefeld, dort gibt es auch Unterricht. Hier in Schleswig-Holstein haben wir das nicht. In Hamburg gibt es auch nichts. Wir erklären es unseren Kindern zu Hause. Meine Kinder sind hier in Deutschland zum christlichen Religionsunterricht gegangen. Die waren sehr gut, mein Sohn hat sogar eine Eins gehabt. Die Leute von der Kirche haben uns auch besucht. Die Religion ist ja ähnlich, deshalb sind meine Kinder in den Religionsunterricht gegangen.
Gegenwind:
Wenn Du Deinen Kindern den Glauben der Jesiden erklärst, und andere Eltern erklären das hier in Schleswig-Holstein auch ihren Kindern - woher weißt Du, dass alle Eltern das gleich erklären?
Amed Sido:
Alle Jesiden erklären das den Kindern gleich. Wir glauben an Gott, wir haben einen Propheten. Und bei uns ist Respekt sehr wichtig, und das erklären alle Eltern ihren Kindern.
Gegenwind:
Und alle Jesiden kennen ihren Glauben gut?
Amed Sido:
Natürlich. Alle wissen, was richtig und was falsch ist.
Gegenwind:
Trefft Ihr Euch auch, um das zu vergleichen?
Amed Sido:
Nein, das haben wir hier noch nicht gemacht.
Gegenwind:
Es gibt bei Euch auch Geistliche. Leben welche davon in Schleswig-Holstein?
Amed Sido:
Nein, sie kommen manchmal zu Besuch. Aber hier leben tut niemand.
Gegenwind:
Wenn jemand zu Besuch kommt und eine Veranstaltung macht, sagt Ihr Euch gegenseitig Bescheid? Oder gibt es jemanden, der alle kennt? Wie organisiert Ihr das?
Amed Sido:
Wir bekommen das immer mit. Es steht im Internet, es gibt Internet-Seiten von Jesiden, aber meistens auf Arabisch oder Kurdisch. Aber alles steht dort. Wir kennen unsere Feste, und auf den Internet-Seiten steht dann die Adresse von dem Saal, wo gefeiert wird. Und das ist eine Einladung an alle, nicht nur für Jesiden. Jeder darf kommen, und jeder ist willkommen.
Gegenwind:
Wird es auf Kurdisch gemacht? Oder gibt es das auch auf Deutsch?
Amed Sido:
Wir sprechen natürlich Kurdisch, weil die meisten dort Kurden sind. Aber wenn Deutsche kommen, erklären wir gerne alles auf Deutsch.
Gegenwind:
Gibt es bei Euch eine Organisation, dass zum Beispiel ein Geistlicher mindestens einmal im Jahr in Schleswig-Holstein ist? Oder ist das Zufall?
Amed Sido:
Das ist unterschiedlich. Das größte Problem ist, wenn sie aus dem Irak sind, bekommen nicht so leicht ein Visum.
Gegenwind:
Es gibt in Deutschland ja auch zwei Verbände, die "Förderation ezidischer Vereine" und den "Zentralrat der Yeziden". Kennst Du die?
Amed Sido:
Ja, das weiß ich. Aber es gibt noch mehr Verbände, es gibt viele.
Gegenwind:
Und es gibt keinen, der für alle sprechen kann? Die einen organisieren sich, die anderen nicht?
Amed Sido:
Ja, es gibt unterschiedliche Verbände. Aber ich habe nicht so viel Kontakt mit ihnen. Ich stamme aus der Königsfamilie, wir haben selbst sehr viele Kontakte, und wir können jederzeit alle kontaktieren. Wir haben auch ohne Verbände genug Informationen und Kontakte. Bei irakischen Jesiden sind wir auch bekannt.
Gegenwind:
Seid Ihr auch bei Jesiden aus der Türkei oder aus Syrien bekannt?
Amed Sido:
Ja, unsere Familie ist überall bekannt. Persönlich kennen uns die meisten nicht, aber sie kennen unsere Familie.
Gegenwind:
Werden in Deutschland von den Jesiden alle Regeln eingehalten, die im Irak für Jesiden gelten?
Amed Sido:
Eigentlich nicht. Viele Regeln werden eingehalten, wir dürfen ja nur untereinander heiraten. Aber es gibt viele Jugendliche im Alter von meinen Töchtern, die wollen selbst entscheiden, wen sie heiraten wollen. Aber normalerweise geht das nicht.
Gegenwind:
Aber wenn eine Deiner Töchter oder Dein Sohn jemand mit einer anderen Religion heiraten will, würdest Du das tolerieren?
Amed Sido:
Eigentlich nicht.
Gegenwind:
Aber in Deutschland haben die Kinder ja mehr Möglichkeiten.
Amed Sido:
Ja, zum Glück. Ja, die Mischung der Religionen.
Gegenwind:
Willst Du, dass Deine Kinder auch nach Lalisch fahren? Oder waren sie schon da?
Amed Sido:
Sie waren schon öfters da. Wir taufen die Kinder in Lalisch.
Gegenwind:
Wann wart Ihr da?
Amed Sido:
Wir waren im August 2014 da, gerade als ISIS angriff. Zwei, drei Tage nach dem Angriff war ich mit meinem Mann in Lalisch, zum Glück ohne die Kinder. Meine große Tochter war 2014 im April dort, die andere vor fünf oder sechs Jahren.
Gegenwind:
Macht es für Dich im Alltag einen Unterschied, welche Religion Du hast? Oder ist es für die Arbeit und das Leben gleich?
Amed Sido:
Nein, das ist egal. Wir haben bestimmte Essen, die man kennen muss.
Gegenwind:
Welche sind das?
Amed Sido:
Wir haben zum Beispiel ein Essen, das heißt Somat, das wird nur in Lalisch gemacht. Hier in Deutschland wird es nur gemacht, wenn jemand stirbt, dann gibt es das bei der Trauerfeier. Und wenn eine Hochzeit ist, gibt es am zweiten Tag ein Essen. Das muss immer gekocht werden, am zweiten Tag von der Hochzeit kommen alle aus der Familie und besuchen die Familie vom Bräutigam, da muss es das geben.
Gegenwind:
Ist es wichtig für Dich, dass Deine Kinder die Rezepte können?
Amed Sido:
Ja. Die Töchter müssen das können. Die Männer sind bei uns Könige, die machen gar nichts, aber die für die Töchter ist es wichtig das zu lernen.
Gegenwind:
Glaubst Du, dass die Jesiden in Deutschland als Jesiden überleben? Gibt es sie in hundert oder zweihundert Jahren in Deutschland noch?
Amed Sido:
Ja, es wird sie geben. Es gehen nicht viele weg.
Gegenwind:
Aber dazu kommen ja nur welche, die in den Familien geboren werden oder meistens als Flüchtlinge kommen.
Amed Sido:
Aber wir sind in Deutschland sehr glücklich. Wir dürfen in Deutschland leben wie die Deutschen, es ist unsere Heimat, obwohl wir aus dem Irak kommen, und hier dürfen wir frei leben. Hier können alle sich treffen und alles über die Religion lernen. Alle Tradition und alle Kultur können wir hier leichter leben als im Irak.
Gegenwind:
Bleibt das Zentrum der Religion in Lalisch? Irgendwann gibt es in Deutschland mehr Jesiden als im Irak.
Amed Sido:
Ich glaube, hier leben jetzt schon mehr.
Gegenwind:
Oder braucht Ihr irgendwann ein neues Zentrum in Deutschland?
Amed Sido:
Gute Frage. Meine persönliche Meinung ist: Ja, natürlich. Das ist wichtig.
Gegenwind:
Aber wenn es kommt, liegt es im Süden von Niedersachsen und nicht in Schleswig-Holstein, oder?
Amed Sido:
Bestimmt, ja.
Interview: Reinhard Pohl