(Gegenwind 347, August 2017)
Diese Dissertation über die Jesiden in Deutschland wurde abgeschlossen, bevor der Völkermord im Norden des Irak begann. Im Sommer 2014 schloss der Autor die Arbeit ab, im August 2014 griffen die Milizen des „Islamischen Staates” das Gebiet der Jesiden an. Darauf kann der Autor dieses 2016 erschienenen Buches nur noch im Vorwort eingehen. Er bedankt sich vor allem bei den Frauenverbänden von PYD und PKK, die am 3. August 2014 nicht zögerten, den Jesiden und auch den Christen im Nordirak zu Hilfe zu kommen. Viele der Kämpferinnen und Kämpfer bezahlten das mit ihrem Leben, aber mehrere Hunderttausend Menschen konnten gerettet werden. So widmet der Autor das Buch dem FreiheitskämpferInnen von YPG und YPJ, YBS, YJE und HPE.
Die Dissertation behandelt das Jesidentum und die Jesiden selbst. Dabei hat sich der Autor für die türkische Schreibweise „Yezidi” und gegen die kurdische „Ezidi” und gegen die deutsche „Jesiden” entschieden, vor allem weil sich international die türkische Schreibweise durchgesetzt hat.
Das Jesidentum ist eine kurdische, monotheistische Religion, die durch die Eltern vererbt wird. Jesiden sprechen Kurmanci (Nordkurdisch). Ein Übertritt zum Jesidentum ist nicht möglich, bei einer Heirat einer Jesidin oder eines Jesiden mit jemanden einer anderen Religion bedeutet das den Ausschluss aus der Gemeinschaft. Die Zahl schätzt der Autor auf 600.000, davon 550.000 im Irak - die Quellen für diese Schätzungen stammen allerdings aus 1993 und 2001. Der Autor schätzt, dass von allen Kurdinnen und Kurden rund 75 Sunniten sind, rund 20 % Aleviten und weniger als 2 % Jesiden. Die Zahl der Jesiden in Deutschland schätzt der Autor auf 100.000 - aber, wie gesagt, vor der Fluchtwelle aus dem Irak.
Jesiden lebten vor allem in der Türkei, Syrien, Irak, Armenien und Georgien. In der Türkei gibt es sie nach Verfolgung und Flucht faktisch nicht mehr, in Syrien entscheidet sich vielleicht schon in den nächsten Monaten. Im Irak ist noch nicht klar, ob es nach dem militärischen Sieg über den „Islamischen Staat” wieder eine Möglichkeit für Jesiden geben wird, in ihre Orte zurück zu kehren und dort ihren Glauben zu leben, weil der Sieg einerseits durch schiitische Milizen erzielt wurde, die vom Iran dirigiert wurde, andererseits mit dem Referendum am 25. September eine noch stärkere Polarisierung zwischen Kurden und (schiitischen) Arabern zu erwarten ist.
Die Herkunft der Jesiden ist unklar. Eventuell stammen sie von den persischen Zoroastrier, der dort vorherrschenden Religion vor dem Islam. Insbesondere die der PKK nahe stehenden Jesiden aus der Türkei führen die eigene Religion häufig auf Zarathustra zurück.
Unbestritten ist, dass die heutige Form des Glaubens auf Sheikh Adi zurückzuführen ist, der von 1075 (oder 1070) bis 1162 (oder 1160) lebte und seit 1111 das Jesidentum reformierte. Er ist in Lalisch (heute im Norden des Irak) begraben, der heute wichtigsten Wallfahrtsstätte der Jesiden. Bis ins 13. oder 14. Jahrhundert bildeten Jesiden vermutlich die Mehrheit der kurdischen Bevölkerung, sie konnten ihr Gebiet auch über lange Zeit erfolgreich gegen Araber und Osmanen verteidigen. Danach wurden sie durch Krieger der Perser, Osmanen und Araber, durch Entführungen, Zwangsbekehrungen und Massaker immer mehr zur verfolgten Minderheit. In der jesidischen Überlieferung gab es bis heute „72 Genozide”, wobei die Zahl eher als symbolisch und nicht als historisch zu verstehen ist.
Die Verfolgung der Jesiden war über die Jahrhunderte immer von Diffamierungen und Rechtfertigungen begleitet, wie alle Völkermorde: Die Jesiden wären „Teufelsanbeter”, ist eine häufige rassistische Erfindung. Diskriminierungen beim Zugang zur Bildung wurden ebenfalls gegen sie gekehrt, angeblich sind jesidische Eltern dagegen, ihren Kindern Lesen und Schreiben beizubringen. Aus der späteren Angewohnheit, sich in einer feindseligen muslimischen Umgebung nicht als Jeside zu erkennen zu geben, machten ihre Verfolger, es handele sich um eine „Geheimreligion”, woraus dann wieder allerlei Verschwörungstheorien entspringen. Viele dieser Stereotypen finden sich auch über Juden oder Roma in Europa, wo ebenfalls eine Verfolgung damit gerechtfertigt werden sollte, sie wären selbst Schuld.
Die Diskriminierung in der Türkei traf die Jesiden doppelt: Sie wurden verfolgt wie alle Kurden, sie wurden aber auch verfolgt wie alle religiösen Minderheiten. 1934 verloren sie ihre Namen, als gesetzlich bestimmt wurde, dass alle Einwohnerinnen und Einwohner türkische Namen haben müssten. In der Schule wurden sie gezwungen Türkisch zu lernen und am sunnitischen Religionsunterricht teilzunehmen. Später wurden in Pässen Minderheiten markiert, Jesiden wurden in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts mit „X” oder „XXX” markiert. Selbst wenn sie aus Kurdistan in den Westen der Türkei flohen, machte diese Markierung eine Arbeitssuche schwer, eine Anstellung im öffentlichen Dienst unmöglich.
Im Krieg der türkischen Regierung gegen die Kurden seit 1984 schlossen sich viele Jesiden der PKK an. Andererseits standen jesidische Dörfer beim Militär im Ruf, Staatsfeinde zu sein. Das führte zum Exodus aus der Türkei, über lange Jahre galten Jesiden aus der Türkei in Deutschland als „gruppenverfolgt”, bekamen also Asyl ohne Prüfung der persönlichen Verfolgung. Heute leben in der Türkei kaum noch Jesiden. Deutschland wurde vermutlich zum Hauptzufluchtsland, weil viele Jesiden seit 1961 nicht als „Jesiden”, sondern als „arbeitslose Türken” als Gastarbeiter hierher gekommen waren und so die „Anker” für Flüchtlinge bildeten, die 20 oder 30 Jahre später aufbrachen.
In Syrien wurde viele Kurden, darunter auch viele Jesiden, ab 1962 zu „Staatenlosen” erklärt. Die Baath-Partei wollte eine „Arabische Republik”, Angehörige der kurdischen Minderheit wurden deshalb zu „illegalen Einwanderern aus der Türkei” erklärt. In der Folge durften viele Kurden und Jesiden kein Land besitzen, auch von ihnen flohen viele nach Europa. Und hier wurde für die syrischen Jesiden Deutschland das Hauptziel, vermutlich, weil andere Jesiden schon vor ihnen hier waren und Jesiden sich als ein Volk empfinden, unabhängig von der kolonialen Grenzziehung.
Aus dem Irak fliehen Jesiden, wie andere Kurden auch, seit der Herrschaft von Saddam Hussein, vor allem aber seit der Niederschlagung der kurdischen Aufstände während des 1. Golfkrieges und nach dem Krieg um Kuwait. Im Zuge des Bürgerkrieges nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 wurden Jesiden häufig zur Zielscheibe sunnitischer Extremisten, in letzter Zeit aber auch zu Opfern schiitischer Extremisten.
In Armenien lebten Jesiden vor allem im Grenzgebiet zu Aserbaischan und in Lachin, was 1992 bis 1994 das Hauptkriegsgebiet im armenisch-aserbaischanischen Krieg war. Von den damals rund 40.000 Jesiden flohen ebenfalls viele nach Deutschland.
Hier in Deutschland ist es Jesiden längst nicht überall gelungen, sich zu organisieren. Vereine und Treffpunkte gibt es vor allem im Süden Niedersachsens und im Norden Nordrhein-Westfalens, also von Hannover bis Oldenburg. Hier ist es wegen der oft örtlich kleinen Gemeinden schwierig, die Heiratsregeln einzuhalten - oft heiraten Verwandte, oder hier aufgewachsene Jugendliche heiraten dann doch Freundin oder Freund einer anderen Religion. Teils gibt es Sanktionen, wie den Ausschluss aus der Gemeinschaft, teils wird es toleriert. In Einzelfällen sind aber auch junge Frauen oder Paare ermordet worden.
Jesidische Vereine wurden vor allem von denen gebildet, die schon lange hier waren, die die deutsche Staatsangehörigkeit haben und mit Behörden umgehen können. Deshalb sind die meisten Vereine von Jesiden aus der Türkei (oder Jesiden mit Eltern aus der Türkei) dominiert und gelten als PKK-nahe.
Die Verbände der Jesiden spalten eher als dass sie vereinen: Der „Zentralrat der Ezidi in Deutschland” vertritt die Auffassung, dass Jesiden Zoroastrier seien, während der „Ezidi Zentralrat in Deutschland” das Gegenteil vertritt. Er ist aus der „Föderation der yezidischen Vereine e.V.” entstanden. Der Autor hat Jesiden in Deutschland befragt, danach waren rund zwei Drittel mit beiden Dachverbänden unzufrieden. Allerdings hat der Autor, bedingt durch die eigene Herkunft und den eigenen Bekanntenkreis, nur Jesiden befragt, die aus der Türkei stammen. Er ist übrigens Gründungsmitglied des „Zentralrates der Yeziden”.
Das Buch liefert eine Fülle von Informationen über die Religion, die Tradition und die Migration der Jesiden. Allerdings gibt der Autor offen zu, dass viele Informationen auf einer sehr unsicheren Basis erhoben wurden, viele Zahlen und Statistiken nur Schätzungen sind, viele Jesiden in Deutschland auch so weit außerhalb der miteinander streitenden Verbänden leben, dass vieles gar nicht bekannt ist.
Hinsichtlich der Zukunft der Jesiden in Deutschland ist der Autor pessimistisch: Er befürchtet, dass die nächste oder übernächste Generation in der deutschen Bevölkerung aufgehen wird und die jesidischen Traditionen immer mehr in Vergessenheit geraten werden.
Reinhard Pohl