(Gegenwind 343, April 2017)


Nadia Murad in Kiel:

Beeindruckende Zeugin des Genozids

2014: Der „Islamische Staat” erobert Mossul im Irak. Der Anführer ruft sich selbst zum „Kalif Ibrahim” aus, zum Oberhaupt des Islam in der Welt. Und die Kampfverbände wenden sich nach Norden: Das nächste Ziel ist Sindschar. Die Stadt, die Provinz, das Gebirge dieses Namens ist das Zentrum der Bevölkerungsgruppe der Jesiden. Jesiden sind Kurden, das Jesidentum ist eine Tausende Jahre alte Religion. Sie glauben auch an den einen Gott, symbolisiert durch die Sonne, das wird von vielen Muslimen als verwandter Glaube anerkannt - nicht so vom IS: Der Kalif kündigt die Ausrottung der Jesiden an, Zehntausende werden getötet, Tausende von jungen Menschen entführt. Jungen und junge Männer werden zwangsrekrutiert, gezwungen zum Islam zu konvertieren, oder umgebracht. Frauen werden vergewaltigt, versklavt, verkauft. Wie Nadia Murad, Jesidin aus Sindschar.

Nadia Murad wurde am 3. August 2014 entführt, nach Mossul gebracht, vergewaltigt, gefoltert. Doch ihr gelang nach drei Monaten die Flucht, sie erreichte den von kurdischen Peschmerga gehaltenen Ort Dohuk. Auch ihre Schwester konnte entkommen, ihre Mutter und ihre sechs Brüder wurden vom IS getötet.

Deutschland hat sich kurz nach Beginn des Völkermordes entschlossen, hier nicht neutral zu sein. Seit September 2014 werden Waffen an die Peschmerga der Regierungspartei KDP geliefert, die sich beim Angriff des „IS” auf Sindschar fluchtartig zurückgezogen hatten, seit September 2014 aber wieder vorrückten. Inzwischen haben sie die Provinz und die Stadt zurückerobert und gesichert. Unterstützt werden sie aus Deutschland nicht nur mit Waffen, sondern auch durch Ausbildung und die Stationierung von zur Zeit fast 200 Bundeswehr-Ausbildern und Beratern an der Front.

Anfang August war es allerdings die kurdische YPG aus Nordsyrien (oder Westkurdistan = Rojava), die in Sindschar eingriff und für Zehntausende Jesiden, die im Sindschar-Gebirge vom IS eingeschlossen waren, einen Fluchtkorridor nach Syrien freikämpfte. Alle Geretteten wurden anschließend durch einen zweiten Korridor nach Nordirak geleitet, wo sie in Flüchtlingslagern untergebracht wurden.

Es gibt außer der Waffenhilfe eine zweite Unterstützung: Baden-Württemberg erklärt sich bereit, 1.000 aus der IS-Gefangenschaft befreite jesidische Frauen mit ihren Familien aufzunehmen. Sie werden direkt aus Dohuk abgeholt, nach Deutschland gebracht und bekommen ohne Asylantrag eine Aufenthaltserlaubnis. Baden-Württemberg bat anschließend andere Bundesländer, ihnen eingeflogene Jesidinnen abzunehmen, ihnen aber Therapie und Dolmetscherinnen anzubieten. Im März 2015 kamen so Nadia Murad und ihre Schwester nach Deutschland.

Am 23. Februar war Nadia Murad im Landtag Schleswig-Holstein. Sie tritt seit einigen Monaten öffentlich gegen den „Islamischen Staat” auf, und zwar international. Von der UNO wurde sie deshalb zur „Botschafterin für die Würde der Opfer von Menschenhandel” ernannt. Und die Bundesregierung hat beschlossen, sie um jeden Preis zu schützen, im Landeshaus gut zu erkennen an der Präsenz der Polizei, dem Anmeldeverfahren, den Kontrollen.

Beeindruckende Rede

Nadua Murad bedankte sich zunächst für das Aufnahmeprogramm, das inzwischen von Baden-Württemberg die Zusage für 1.100 Frauen umfasst, ebenso dafür, dass Schleswig-Holstein in diesem Programm ebenfalls 32 Frauen aufgenommen hat. Ausdrücklich bedankte sie sich auch bei den Kirchen für deren Unterstützung des Aufnahmeprogramms, die Veranstaltung im Landeshaus wurde auch vom Frauenwerk der Nordkirche organisiert. Das Frauenwerk ist als Träger der Projekte „contra” und „Myriam” ohnehin täglich im Thema.

Ihr eigenes Schicksal deutete sie nur kurz an: „Ich habe als 21-Jährige die schlimmsten Dinge erlebt, die Menschen einander antun können”, dolmetschte ihre Begleiterin. Doch gleich ging sie wieder zum Dank über: „Doch ich habe auch hier in Deutschland erlebt, was an Liebe und Gutem von Menschen ausgehen kann”.

Was unter der Herrschaft des IS passiert, erläuterte sie an Beispielen: Zwei jesidische Jungen, die 2014 in Gefangenschaft gerieten, haben sich gerade, zweieinhalb Jahre später, als Selbstmordattentäter an der Front in die Luft gesprengt, zweieinhalb Jahre Gehirnwäsche reichten dafür aus. Ein IS-Kämpfer oder Terrorist erzählte jüngst in einem Interview, er selbst habe rund 200 jesidische Frauen vergewaltigt, sie wären für Kämpfer zur Vergewaltigung freigegeben, jeder dürfe sich bedienen.

Und sie sprach deutlich aus, was viele PolitikerInnen nicht beim Namen nennen möchten: Es ist ein Genozid, ein Völkermord. Tausende Frauen wurden entführt, Tausende Männer getötet, Tausende Jungen geraubt und gehirngewaschen, Hunderttausende vertrieben, viele religiöse Stätten der Jesiden wurden zerstört. „Doch wenig ist getan worden von der internationalen Gemeinschaft. Mein Volk fühlt sich in weiteren Teilen verlassen.”

Nadia Murad schlug mehrere Möglichkeiten vor:

Und sie forderte eine Verfolgung der Täter. Viele IS-Mitglieder sitzen inzwischen in Gefängnissen, auch in Europa, aber es wurde noch keine einzige Anklage geschrieben. Es gäbe zahlreichende „Überlebende wie mich”, die bereit seien zu Aussagen. Und es gäbe viele Beweise, Massengräber, Videos von Hinrichtungen und Sklavenmärkten, von der Zerstörung von Moscheen, Kirchen und heiligen Stätten. Sie wies darauf hin, dass sie mit der Unterstützung der Anwältin Amal Clooney seit langem versuche, Täter vor Gericht zu bringen.

Für einen ersten Erfolg dankte sie wieder Deutschland. Im Dezember 2016 hat Deutschland den ersten internationalen Haftbefehl gegen einen identifizierten IS-Kommandeur erlassen. Die Verfolgung ist möglich, wenn es sich um ein schweres Verbrechen, einen Genozid handelt. Genozid ist international definiert am Beispiel des Genozids an den Armeniern 1915/16. Deutschland hat eine Gesetzgebung, die es in solchen Fällen erlaubt, Verbrechen von Ausländern an Ausländern im Ausland zu verfolgen.

Und eine weitere Kritik brachte sie bei der Gelegenheit an: Nach einem erneuten Dank an Deutschland, wo viele geflüchtete Jesiden Frieden gefunden hätten, wären in letzter Zeit auch viele Asylanträge von Jesiden abgelehnt worden. Hier forderte sie von den deutschen Behörden, diese Entscheidungen zu korrigieren. Sie wies darauf hin, dass die meisten Opfer Frauen und Kinder wären, für die der Weg auf kleinen Booten über das Mittelmeer sehr gefährlich sei.

Zum Schluss rief sie alle auf, dem Extremismus zu widerstehen und klar Partei zu ergreifen. Sie nannte namentlich Muslime, Jesiden, Christen, Juden. Und sie nannte Araber und Kurden. Die Religion dürfe nicht zum „Schleier für Unrecht” werden.

Lang anhaltender Beifall des proppevollen Schleswig-Holsteins-Saals zeigte, dass die Botschaften angekommen sind.


Und was tun?

Nach ihr sprach Johann Wadephul, Bundestagsabgeordneter aus Rendsburg. Er kannte Nadia Murad schon von einem Besuch der UNO in New York und sagte ihr zu, ihr Ansprechpartner in der CDU-Bundestagsfraktion zu bleiben. Er verteidigte zunächst den Beschluss der Bundesregierung, erstmals offiziell Waffen in einen laufenden Krieg zu liefern, die Peschmerga Kurdistans rund um Sindschar und Mossul zu unterstützen. Er griff die Idee, eine Schutzzone einzurichten, auf. Er wendete sich aber auch sehr positiv der Aufnahme von Flüchtlingen zu, bezeichnete die großzügige Aufnahme als richtige Entscheidung Deutschlands, leider ohne allzu konkret zu werden. Und er sprach sich dafür aus, den Völkermord und die Täter des Völkermordes auch juristisch zu verfolgen.

Nach der Veranstaltung drängten sich viele Jesidinnen und Jesiden nach vorne: Alle wollten ein Foto gemeinsam mit Nadia Murad, der es tatsächlich gelungen ist, den Völkermord an ihrem Volk weltweit zum Thema zu machen. Aber auch andere, zum Beispiel arabische Frauen aus dem Jemen, bedankten sich bei ihr und bestätigten, dass es gerade keine Frage der eigenen Religion sei, den IS und den Genozid an Jesiden abzulehnen, worüber sich Nadia Murad sichtlich freute.

Reinhard Pohl

Wer in der ehrenamtlichen Betreuung oder der professionellen Beratung mit jesidischen Flüchtlingen zu tun hat, die gegen ihre Verfolger aussagen wollen, wende sich gerne an die Redaktion: redaktion@gegenwind.info.

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