(Gegenwind 342, März 2017)
Özlem Ünsal war lange Jahre Vorsitzende des „Forums für Migrantinnen und Migranten” in der Landeshauptstadt Kiel, das ähnlich wie ein Beirat fungiert und die Ratsversammlung und die Stadtverwaltung der Landeshauptstadt Kiel berät. Seit 2013 ist sie Ratsfrau für die südliche Innenstadt, das entspricht einer Kreistagsabgeordneten. Sie macht sich gemeinsam mit den Gewerkschaften auch stark für einen „Masterplan gute Arbeit”. Seit Sommer 2016 ist sie von ihrer Partei auch als Direktkandidatin für einen der landesweit drei ambitioniertesten Wahlkreise in Schleswig-Holstein (WK 13/Kiel-West) aufgestellt und auf Platz 20 der Landesliste.
Gegenwind:
Was hast Du vorher politisch gemacht, bevor Du Dich jetzt zur Kieler Kandidatur für den schleswig-holsteinischen Landtag entschlossen hast?
Özlem Ünsal:
In der Rückschau kann ich sagen, dass ich bereits als Schülerin und Studentin aktiv mitgemischt habe - angefangen von meinen ehrenamtlichen Tätigkeiten als Schüler- und Studentenvertreterin, als Bildungspatin für Analphabeten/innen und Kinder aus benachteiligten Familien. Später folgte der fast 10-jährige Vorsitz des kommunalpolitischen Forums für Zuwanderungsfragen im Kieler Rathaus. Als Sprecherin des Frauenbündnisses Kiel, einem Zusammenschluss aus über 40 Fachinstitutionen, und als Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt der SPD Schleswig-Holstein mache ich mich zudem für besondere Zielgruppenbelange stark. Seit der letzten Kommunalwahl bin ich als stellvertretende Fraktionsvorsitzende und wirtschaftspolitische Sprecherin der Kieler SPD - Ratsfraktion tätig.
Ich lebe inzwischen seit 1997 in meiner Wahlheimat Kiel. Grund dafür war zunächst mein Studium der Politikwissenschaften, der Soziologie und der Psychologie an der Kieler Universität, das ich 2003 abgeschlossen habe. Später folgten meine berufsbegleitenden Weiterbildungen als Pädagogin und Trainerin für interkulturelle Kompetenzschulen für Zivilorganisationen, Hochschulen und Wirtschaft.
Meine großen beruflichen Stationen waren die freie Wirtschaft und die Arbeiterwohlfahrt, wo ich bis 2013 für ein Beratungsprogramm des Bundes sowie eine Vielzahl von sozialen und kulturellen Projekten verantwortlich war. Seit 2013 arbeite ich hauptamtlich als Referentin und stellvertretende Referatsleiterin im Ministerium für Inneres und Bundesangelegenheiten des Landes Schleswig-Holstein.
Gegenwind:
Warum hast Du Dich für eine aktive Parteipolitik entschieden?
Özlem Ünsal:
Vor knapp Jahren war die Frage der sozialen Gerechtigkeit mein Leitmotiv, mich für die aktive parteipolitische Arbeit zu entscheiden. Denn Ungerechtigkeiten zu beseitigen ist das historische Fundament der Sozialdemokratie. Gerechte Politik ist auch heute kein Selbstgänger! Wir müssen sie einfordern und für mehr Lebensqualität für die Menschen ausgestalten. Denn was nützt uns eine Politik, die unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen nicht wirklich kennt und verbessert? Ich setze mich mit diesen Phänomenen auseinander, damit am Ende nicht die Falschen davon profitieren.
Meine Eltern sind Anfang der 70er Jahre aus der Türkei nach Schleswig-Holstein eingewandert. Als sog. („Gast”-) Arbeiterkind der ersten Generation habe ich sehr früh verstanden, was es für meine Eltern bedeutet hat, für die Bildung ihrer Kinder zu kämpfen. Kämpfen, um uns in der Kita, in der Schule, in der Ausbildung und später im Studium mit wenig Sprachkenntnissen und unter harten Arbeitsbedingungen zu begleiten. Meine Eltern haben in ihrem sozialen Umfeld immer mutig vertreten und auch andere davon überzeugt, dass es eine Chance und keine Schande ist, wenn Töchter wegen des Studiums wegziehen. Diese Integrationsleistungen meiner Eltern und vieler eingewanderter Familien geraten oftmals aus dem Blickfeld.
Gegenwind:
Du definierst also soziale Gerechtigkeit als deinen politischen Kompass?
Özlem Ünsal:
Absolut richtig! Ich bezeichne mich ganz klar als Basisdemokratin. Ich will gerechte Bildung, gute Arbeit und gesellschaftliche Teilhabe für Alle! Und das von Anfang an. Bildung ist keine Schicksalsfrage und deshalb ist es auch nicht egal, wer regiert. Bildung darf doch nicht von Herkunft und Einkommen abhängen. Gerecht ist, wenn alle gleiche Startchancen erhalten, davon sind wir aber noch entfernt und müssen mit aller Kraft strukturelle Benachteiligung weiter abbauen.
Mein Ziel bleibt für die Beitragsfreiheit von der Kita bis zum Studium zu kämpfen, unabhängig davon woher unsere Eltern kommen, wie viel Geld sie verdienen oder ob wir in Gaarden, Russee oder Düsternbrook aufwachsen. Zudem brauchen wir Zusammenhalt statt gesellschaftliche Spaltung, handfeste Politik statt Angstmacherei durch Rechtspopulisten.
Gegenwind:
Warum hast Du Dich für eine Kandidatur für den Wahlkreis Kiel-West und nicht beispielsweise für das Ostufer entschieden, wo Du ebenfalls stark bekannt und vernetzt bist?
Özlem Ünsal:
Im Wahlkreis Kiel-West bin ich bereits als Vorstandsmitglied meines SPD Ortsvereins Kiel-Süd aktiv und als direkt gewählte Ratsfrau für die südliche Innenstadt inzwischen fest verwurzelt.
Ich freue mich, dass meine langjährige und sehr basisnahe Integrations- und Sozialarbeit gemeinsam mit vielfältigen Partnern in Kiel und im Lande besondere Anerkennung und Wertschätzung hinterlassen hat und von mir initiierte vielfältige Konzepte und Projekte weiterhin wirken.
Ja, ich bringe aufgrund meiner beruflichen und persönlichen Bezüge eine starke Expertise für das Thema Integration mit und arbeite mit Leidenschaft an diesem Querschnittsfeld, verweigere mich aber dem oftmals auftretenden Automatismus, dass der Migrationshintergrund per se zur Integrationspolitik verpflichtet. Genauso wenig ist der Migrationshintergrund ein Garant für interkulturelle Kompetenz. Nicht jeder der deutsch, englisch oder türkisch sprechen kann, ist auch in der Lage, deutsch, englisch oder türkisch zu vermitteln. Da bedarf es deutlich mehr Handlungskompetenzen. Ich stehe zu meiner persönlichen Biographie, lasse mich aber nicht nur auf ein Merkmal reduzieren. Ich habe vielfältige Interessensgebiete und setze mich gerne auch für diese politisch ein.
Als Schleswig-Holsteinerin ist es mir wichtig, an der Zukunft unseres Landes gestaltend mitzuwirken und das Beste für unsere Menschen rauszuholen. Ich setze mich seit Jahren für politische Teilhabe und aktive Beteiligung ein. Dies bedeutet auch, neben dem eigenen politischen Weg auch andere von guter Politik zu überzeugen und mitzunehmen.
Gegenwind:
Welche Erfahrungen bringst Du für die politische Arbeit mit?
Özlem Ünsal:
Ich glaube, dass mich neben meinem fachlichen Koffer insbesondere die Leidenschaft zum Engagement auszeichnet. Das ist auch die Prägung meines Elternhauses. In den letzten 20 Jahren habe ich zudem vielfältige persönliche, berufliche und politische Erfahrungen gesammelt und starke zivilgesellschaftliche Netzwerke geknüpft, von denen meine politische Arbeit bis heute profitiert. Diesen Erfahrungsschatz will ich auch in die Landespolitik einbringen, um unsere unterschiedlichen Lebensbedingungen mit meiner politischen Linie zu vertreten.
Gegenwind:
Wie lange warst Du die Vorsitzende vom „Forum für Migrantinnen und Migranten” in Kiel? Bist Du zurückgetreten, weil Du in der Kommunalwahl kandidieren wolltest?
Özlem Ünsal:
Ich habe das Kieler Migrationsforum fast 10 Jahre geleitet. Das waren für mich sehr bewegende und lehrreiche Jahre, in denen wir im Team viel erreicht haben. Ich habe mich 2013 aufgrund bevorstehender beruflicher Veränderungen dann entschieden, den Vorsitz abzugeben. Die Zeit war reif, den Staffelstab abzugeben. Insgesamt war 2012 war ein Wendejahr in meiner persönlichen Biografie. Ich habe mich in diesem Jahr für einen klaren Berufswechsel und für die politische Laufbahn entschieden. 2013 habe ich diese Entscheidungen dann mit der direkten Wahl in die Ratsversammlung und mit meinem Einstieg als Politologin in den Landesdienst umgesetzt. Das war fast ein bisschen „Kismet” und zugleich „back to the roots”.
Gegenwind:
Was spricht aus Deiner Sicht dagegen, sich mit diesen Ansichten bei anderen Parteien zu engagieren?
Özlem Ünsal:
Natürlich gibt es durchaus Schnittmengen zwischen der SPD, den Grünen, dem SSW oder auch der Linken. Die größte Übereinstimmung mit meiner persönlichen Haltung stellt für mich aber nach wie vor die Sozialdemokratie dar. Mit der CDU gibt es vor allem mit Blick auf den aktuellen Diskurs zur Aufnahme- und Integrationspolitik sowie zur Sicherheitspolitik hingegen klare politische Differenzen. Aber uns demokratische Parteien muss das Ziel einen, unsere Demokratie nicht durch Demokratiefeinde in Frage stellen zu lassen! Das erstarkende Selbstbewusstsein der rechten Bewegungen führte bereits zu einem drastischen Anstieg von Anschlägen und rassistischer Gewalt. Hierbei berufen sich die Täter immer wieder auf den vermeintlichen „Volkswillen”. Das ist geistige Brandstiftung, bei der insbesondere die AfD Mitverantwortung trägt.
Gegenwind:
Was machst Du jetzt als gewählte Ratsfrau als Schwerpunkt in der Ratsversammlung?
Özlem Ünsal:
Der parteipolitische Start war eine ganze spannende Phase und neue Herausforderung für mich! Als ich gefragt wurde, ob ich mir vorstellen könnte, mich für die Kieler Sozialdemokratie parteipolitisch zu engagieren, habe ich gesagt: gerne, aber nicht primär Integrationspolitik! In der Folge wurde mir das Vertrauen für ein neues Thema, die Wirtschaftspolitik, ausgesprochen. Als Ratsfrau in der Kommunalpolitik mache ich mich insbesondere stark für gute Arbeit und einen dynamischen Wirtschaftsstandort mit Gewerkschaften und Unternehmen, um prekärer Beschäftigung und wirtschaftlichem Strukturwandel entschieden entgegenzutreten. Mein Integrationsverständnis zielt auf alle Menschen. Bildung, Arbeit und Wohnraum müssen für alle zugänglich sein. Hierzu brauchen wir neben Rahmenbedingungen für gute Arbeit und starke Wirtschaft auch eine politische Initiative für bezahlbaren Wohnraum.
Gegenwind:
Du bist für den Rat bis 2018 gewählt. Ein Jahr vor Ablauf kandidierst Du für den Landtag. Willst Du beides parallel machen oder willst Du vorzeitig im Rat aufhören?
Özlem Ünsal:
Ich plane nach der Wahl im Mai 2017 mein Mandat in der Ratsversammlung abzugeben. Nachrückerin wäre wieder eine Frau, was ich persönlich sehr begrüße. Die Parlamente vertragen weiterhin eine stärkere politische Präsenz von Frauen. Zudem bin ich aktuell für die Kieler SPD als stellvertretende Parteivorsitzende vorgeschlagen. Ich werde neben meiner Arbeit im Kieler Parteivorstand allem voran an der Basis gebraucht.
Gegenwind:
Was sind die Schwerpunkte im Landtagswahlkampf der SPD? Was werden Deine persönlichen Schwerpunkte?
Özlem Ünsal:
Wir fahren in unseren Themen einen klaren Gerechtigkeitskurs, der uns deutlich von anderen Parteien unterscheidet. Viele Menschen haben Sorgen und Ängste, abgehängt zu werden oder Wohnung, Arbeit und Wohlstand mit anderen teilen zu müssen. Ich nehme diese Entwicklungen sehr ernst und wir zeigen mit unserer Parteiprogrammatik entscheidende Handlungslinien auf, damit die Gerechtigkeitsdebatte nicht in die falsche Richtung entartet und unsere vielfältigen gesellschaftlichen Gruppen nicht gegeneinander aufgewiegelt werden. Ich will gerechte Bildung, gute Arbeit und Teilhabe für Alle!
Willy Brand und Helmut Schmidt haben in den 60er und 70ern mit dem Bildungsaufbruch einen neuen Geist in unserem Land geweckt. Ich und viele andere profitieren noch heute davon. Zudem haben starke sozialdemokratische Frauen wie Marie Juchacz und Clara Zetkin für wichtige politische Errungenschaften gekämpft. Die Sozialdemokratie, an die ich glaube, spaltet nicht, sondern verbindet. Wir stehen für den starken gesellschaftlichen Zusammenhalt! All das spiegelt sich auch in unserem Parteiprogramm wieder!
Gegenwind:
Fürchtest Du auch Feindschaft im Wahlkampf? Deine Herkunft ist ja schon an Deinem Namen sichtbar.
Özlem Ünsal:
Bei aller Vorsicht: Furcht ist keine gute Startvoraussetzung für Politik! Und wer einen klaren politischen Kurs fährt, muss auch mit Auseinandersetzungen nach innen und außen rechnen. Aber es gibt klare Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen. Als Politikerin ist es mir wichtig, offen, integer und authentisch zu bleiben. Nur so kann Vertrauen in Person und Politik wachsen.
Bundesweit werden Politiker zunehmend beispielsweise wegen der Flüchtlingspolitik bedroht und angegriffen. Da fällt mir auf Anhieb das Beispiel des SPD-Vorsitzenden im nordrhein-westfälischen Bocholt oder einer Linken-Politikerin aus Chemnitz ein. Nach 22 Anschlägen in nur 17 Monaten auf ihr Büro hat sie sich im nun endlich an die Öffentlichkeit gewandt. Da gilt es, gesellschaftlich Zivilcourage zu zeigen und solchen Handlungen öffentlich eine klare Absage zu erteilen.
Gegenwind:
Gibt es auch durch den Migrationshintergrund besondere Beziehungen zu Abgeordneten anderer Parteien, die auch einen Migrationshintergrund haben? In der Ratsversammlung gibt es ja auch in anderen Parteien Abgeordnete mit Migrationshintergrund.
Özlem Ünsal:
Ich habe mich in meiner politischen Arbeit immer sehr stark dafür eingesetzt, politische Partizipation zu ermöglichen. Die politischen Präferenzen können hierbei durchaus unterschiedlich sein. Und dieses Bild spiegelt sich auch im Rat wieder. Es gibt viele Menschen in unterschiedlichen Parteikonstellationen, die mir politisch deutlich näher sind als andere. Da spielt der Migrationshintergrund kaum eine Rolle.
Gegenwind:
In den letzten Jahren gab es immer wieder Versuche der Einflussnahme der Herkunftsländer auf politische Abgeordnete. Die richtete sich vor allem an Bundestagsabgeordnete, aber auch Landtagsabgeordnete. Die Richtung war, dass diese wegen ihrer Wurzeln auch die Pflicht hätten, entsprechende Interessen zu vertreten. Fürchtest Du da Druck oder Einflussnahme?
Özlem Ünsal:
Diese Furcht trage ich nicht. Ich begreife mich als unabhängiges Individuum, die sich bei der politischen Willensbildung in erster Linie ihrem eigenen Gewissen verpflichtet. Was mich aber politisch schon bewegt, ist die noch unzureichende Teilhabestruktur vielfältiger Gesellschaftsgruppen. Und da sind Migrantencommunitys eine große Zielgruppe, die man ansprechen und mitnehmen muss. Wir haben zum Teil eine sehr gefilterte Brille, die wir immer wieder nachschärfen müssen.
Gegenwind:
Du kandidierst vom Wahlkreis her relativ aussichtsreich. Im Wahlkreis Kiel-West gewinnt die SPD ja eigentlich immer. Gibt es auch schon eine Planung von Dir für die Arbeit im Landtag? Oder muss man die Aufteilung der Themen von der Zusammensetzung der Fraktion abhängig machen?
Özlem Ünsal:
Die Schleswig-Holsteiner werden am 7. Mai ein neues Parlament wählen und unsere Wahlkampfstimmung in Schleswig-Holstein ist sehr gut. Dies verdanken wir neben dem „Schulz-Effekt” auch einer gut aufgestellten Nord-SPD, die „links, dickschädelig und frei” ist und für gute Themen mit vielfältigen und starken Persönlichkeiten steht. Das ist unsere Stärke, um diesen Wahlkampf erfolgreich zum Ende zu führen! Ich freue mich auf die nun eintretende heiße Phase! Ich habe natürlich auch Themenpräferenzen wie Bildung, Arbeit oder Wohnen, aber erstmal bleibt die Wahl abzuwarten.
Interview: Reinhard Pohl