(Gegenwind 342, März 2017)
Ägypten ist mit rund 90 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern das bevölkerungsreichste arabische Land. Es liegt in direkter Nachbarschaft zu EU und gehört zum EU-Nachbarschaftsprojekt „Mittelmeer-Union”. Durch den „arabischen Frühling” wurde die Diktatur gestürzt, ein neuer Präsident demokratisch gewählt, der dann wieder durch einen Militärputsch gestürzt wurde. Diese Unruhen, die damit verbundene Verfolgung von (jeweiligen) Regierungsgegnerinnen und -gegnern führten zu einem starken Anstieg der Flucht und der Asylanträge hier.
Innerhalb des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, das die Asylanträge bearbeitet, sind die Niederlassungen in Berlin, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Saarland für Asylanträge aus Ägypten zuständig. Dorthin werden Antragstellerinnen und Antragsteller verteilt, auch wenn sie sich in Schleswig-Holstein melden. Eine Ausnahme bilden unbegleitete Jugendliche, von denen immer mehr aus Ägypten fliehen und nach Deutschland kommen: Sie werden dort, wo sie sich melden, vorläufig in Obhut genommen und danach eventuell an andere Orte verteilt, hier soll aber das Kindeswohl die Verteilung bestimmen. In den letzten Jahren melden sich immer mehr ägyptische Jugendliche in Holstein, vor allem in den Kreisen Pinneberg und Segeberg. Deshalb soll das Land und das Asylverfahren hier vorgestellt werden.
Ägypten hat eine lange Geschichte als Hochkultur aufzuweisen, was heute vor allem für den Tourismus wichtig ist. Doch jede Krise, jede Unruhe wirkt sich negativ auf die Tourismus-Einnahmen aus, dadurch wird jede politische Krise sehr schnell auch zur wirtschaftlichen Krise.
Die Bevölkerung ist zu ungefähr 90 % muslimisch, und zwar sunnitisch. Es gibt eine relativ große christliche Minderheit im Land, dabei handelt es sich vor allem um koptische Christen (mit einem eigenen Papst). Die tatsächliche Zahl ist umstritten, nach Regierungsangaben sind es 6 Prozent, nach eigenen Angaben bis zu doppelt so viele. Aber viele fühlen sich in den letzten Jahren stark unter Druck gesetzt, einige verlassen das Land, andere verheimlichen ihre Religion.
In Ägypten entstand 1928 die Bewegung der „Muslimbrüder”. Dabei handelt es sich um eine Reaktion auf die Reformen von Atatürk: Er wollte der Schwäche der Islamischen Welt durch Reformen begegnen, dabei war sein Kernpunkt die „Europäisierung” der Gesellschaft. Die Gegenthese der Muslimbrüder ist die „Islamisierung” der Gesellschaft: Sie vertreten einen Islam, der sich einerseits auf seine Ursprünge besinnen soll, andererseits die Gesellschaft durch organisierte Wohltätigkeit und Sozialpolitik zusammenhalten will. Diese Bewegung hat sich in Ägypten zu einer Art „Volksislam” entwickelt, der ähnlich wie in der Türkei den entsprechenden konservativen Kandidaten gute Wahlergebnisse bringt, auch wenn studentische Demonstrationen in den Städten der Weltöffentlichkeit eine ganz andere „Volksmeinung” suggerieren.
Befeuert wurde diese Bewegung durch die Zeit der britischen Kolonialherrschaft. Gerade vor dem Hintergrund einer mehrere tausend Jahre zählenden Zivilisation war die Phase für Nationalisten besonders demütigend. Die Briten hinterließen nach dem Ersten Weltkrieg eine westlich orientierte Regierung und einen König. Erst 1946 verließen die britischen Truppen das Land.
Der junge Staat verlor 1948 den Krieg gegen Israel. Das delegitimierte auch die Regierung des Königs, der 1953 durch einen Putsch der „jungen Offiziere” gestürzt wurde. An die Macht kam, nach einer einjährigen Übergangsphase, Gamal Abdel Nasser. Er nationalisierte den Suez-Kanal und setzte das auch im Krieg gegen Großbritannien, Frankreich und Israel 1956 durch. Seine pan-arabischen Ideen scheiterten: Der Zusammenschluss mit Syrien und Nordjemen 1958 zur „Vereinigten Arabischen Republik”, die generell anderen arabischen Staaten zum „Beitritt” offen stehen sollte, wurde bereits 1961 wieder aufgelöst. Sie scheiterte vor allem daran, dass Nasser die Unterordnung der anderen Staaten unter die ägyptische, das heißt seine Regierung durchsetzen wollte.
Eine schwere Niederlage erlitt die Regierung 1967 im Sechs-Tage-Krieg gegen Israel. Drei Jahre später starb Nasser, sein Nachfolger wurde der bisherige Stellvertreter Anwar as-Sadat.
Sadat führte den teilweise erfolgreichen Jom-Kippur-Krieg 1973 gegen Israel, der Ägypten die Möglichkeit gab, nicht nur als Verlierer mit Friedensverhandlungen zu beginnen. Doch dieser Kurs machte die Muslimbrüder wieder stärker. Sie wurden von der weltlich orientierten Militärregierung gnadenlos verfolgt, Tausende kamen ins Gefängnis.
1979 schloss Ägypten Frieden mit Israel, das sich von der Sinai-Halbinsel zurückzog und damit erstmals seit 1967 besetztes Land wieder zurückgab. Ägypten wurde allerdings für längere Zeit innerhalb der arabischen Welt isoliert. 1981 gelang den Muslimbrüdern ein Attentat auf Präsident Sadat: Während einer Militärparade wandten sich mitmarschierende Soldaten, Mitglieder der Muslimbrüder, gegen die Tribüne der Ehrengäste und ermordeten ihn.
Nachfolger wurde Husni Mubarak. Er nutzte das Attentat gegen seinen Vorgänger, den Notstand auszurufen und eine autoritäre Herrschaft zu errichten. Während das Programm von Nasser die „Vereinigte Arabische Republik” war, das Programm von Sadat der Ausgleich mit Israel und die Rückgewinnung des Sinai, war das Programm von Mubarak die Herrschaft selbst. Er festigte seine Herrschaft, um seinen Reichtum zu mehren und möglichst vielen Verwandten und Bekannten einträgliche Geschäfte zu ermöglichen.
Unter dem Notstandsregime gab es auch Wahlen, die Mubarak aber regelmäßig gewann. Oppositionelle, vor allem die religiöse (konservative) Opposition fand sich in aufwändig inszenierten Schauprozessen wieder.
Ausgehend von den Protesten in Tunesien begannen Ende Januar 2011 auch Proteste in Ägypten. Täglich fanden in Kairo Massendemonstrationen statt, die sich zur Dauer-Demonstration verdichteten. Die Polizei Mubaraks schlug hart zurück, bei verschiedenen Auseinandersetzungen wurden mindestens 850 DemonstrantInnen getötet. Innerhalb der Demonstrationen gab es eine stärker werdende Frauenbewegung, die sich gegen die täglichen Belästigungen und die sexuelle Gewalt wandte: Im Gedrängel der öffentlichen Verkehrsmittel gab es genauso so Übergriffe wie im Gedrängel der Demonstrationen „fortschrittlicher” Studenten.
Die Proteste hatten aber zwei Gesichter: Einerseits protestierte eine Jugend, inspiriert durch Studenten in der EU, für die Freiheit - eine freies Internet, ein freies Leben, eine Regierung, die das Privatleben respektiert. Gleichzeitig gab es, je mehr die Polizei auf die eigenen Kasernen zurückgedrängt wurde, auch immer mehr Möglichkeiten für die Muslimbrüder, ihre Werbung für einen Staat mit den Werten eines traditionellen Islam zu verbreiten, mit starker Resonanz gerade der ländlichen Bevölkerung, die durch die Landflucht auch große Teile der marginalisierten städtischen Bevölkerung ausmacht.
Der Diktator scheiterte an der Armee: Diese verweigerte ihrem Anführer die Treue, für ihn stellte es sich als undurchführbar heraus, die Wehrpflichtigenarmee gegen die Proteste einzusetzen. Polizei und Geheimdienst konnten das nicht ersetzen. Das sind ähnliche Probleme, wie sie sich für Präsident Assad in Syrien in vergleichbarer Situation stellten: Auch hier verweigerten große Teile der Wehrpflichtigenarmee den Gehorsam, allerdings desertierten die meisten und bildeten die „Freie Syrische Armee”.
Mubarak trat zurück, wurde später verhaftet und wegen der erschossenen DemonstrantInnen vor Gericht gestellt. Von November 2011 bis Januar 2012 fanden Parlamentswahlen ab, es gab mehrere Durchgänge, weil es in den einzelnen Wahlkreisen zu Stichwahlen der Kandidaten kam, die beim ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhalten hatten. Die „Demokratische Allianz”, angeführt von den Muslimbrüdern (in Form der „Freiheits- und Gerechtigkeitspartei”) bekam 37,5 Prozent, die salafistische „Partei des Lichts” kam auf 27,8 Prozent. Die Partei der Diktatur („Nationaldemokratische Partei”) zerfiel, es traten gleich fünf Nachfolgeparteien an, die aber alle unter 2 Prozent blieben. Der „Ägyptische Block” bekam 8,9 Prozent, „Die Revolution geht weiter” 2,8 Prozent der Stimmen - von den 27 Millionen Wählern stimmten also 10 Millionen für die Muslimbrüder und 7,5 Millionen für die Salafisten, während die DemonstrantInnen des Arabischen Frühlings keine Partei bilden konnten, ungefähr 6 Millionen WählerInnen stimmten für die den Protesten nahestehende Parteien.
Im Sommer 2012 wurde Mohammed Mursi, der Anführer der Muslimbrüder, zum ägyptischen Präsidenten gewählt.
Die Regierung Mursi hielt sich ein Jahr lang an der Macht. Dieses Jahr von Sommer 2012 bis Sommer 2013 bedeutete für viele EinwohnerInnen des Landes einfach nur Chaos. Mursi versuchte erst, gegen den Widerstand der weltlich und westlich orientierten Armeespitze eine islamische Verfassung und islamische Gesetzgebung durchzusetzen. Ab November 2012 regierte er mit Dekreten. Ein Dekret bestimmte, dass in Zukunft Dekrete nicht mehr von der Justiz überprüft werden durften.
Organisationen von Muslimbrüdern und Salafisten nahmen die Herrschaft Mursis als Freibrief, christliche Gemeinden und christliche Kirchen anzugreifen, Bekleidungsvorschriften für Frauen in der Öffentlichkeit einzufordern. Die Beziehungen zu Saudi-Arabien gerieten in die Krise, Saudi-Arabien unterstützte den ägyptischen Haushalt traditionell durch Finanzhilfen. Aber vor allem brach der Tourismus 2011 / 2012 faktisch zusammen, damit verlor Ägypten seine wichtigste Einkommensquelle und Hunderttausende Menschen ihren Arbeitsplatz.
So wurde der Militärputsch im Sommer 2013 von vielen Menschen begrüßt, Umfragen zeigten, dass die Muslimbrüder einen großes Teil der Unterstützung verspielt hatten. An die Macht kam Abd al-Fattah as-Sisi, der Oberbefehlshaber der Armee. Mursi wurde verhaftet und später von einem Gericht zum Tode verurteilt.
Unter dem heutigen Präsidenten as-Sisi haben viele Anhänger von Mubarak wieder ihre Positionen im Staat einnehmen können, mit ihrer Korruption knüpfen die meisten an die Verhältnisse von 2010 an. Politische Gegner, vor allem Muslimbrüder, aber auch Jugendliche mit ihren Demokratieforderungen werden gnadenlos verfolgt, in den Gefängnissen wird gefoltert, die Justiz arbeitet nicht rechtstaatlich, sondern regierungstreu.
Christen werden offiziell nicht verfolgt, aber sind im gesamten Land ständigen Übergriffen radikaler Gruppen ausgesetzt, die den Muslimbrüdern oder den Salafisten nahe stehen. Die Regierung as-Sisi hat einen Teil der „islamischen Gesetze” beibehalten, genehmigt Renovierungen von Kirchen nicht, auch nicht nach Anschlägen, verfolgt die Konversion, alles zur Beruhigung und Einbindung der immer noch recht großen Anhängerschaft der Muslimbrüder vor allem auf dem Lande.
Frauen sind nicht gleichberechtigt. Der entsprechende Artikel wurde nach Mursis Amtsantritt 2012 aus der Verfassung gestrichen, die neue Militärregierung hat das nicht korrigiert. Vermutlich erleiden noch immer mehr als 90 Prozent aller Frauen eine Genitalverstümmelung, meistens im Kindesalter.
Folter ist weit verbreitet, gegen Gegner der Regierung wird häufig die Todesstrafe verhängt. In vielen Fällen werden Todesstrafen in der letzten Instanz in langjährige Haftstrafen umgewandelt, oft werden sie aber auch vollstreckt.
Meinungsfreiheit gibt es in Ägypten nicht. In der Rangliste der „Reporter ohne Grenzen” liegt das Land auf einem der hintersten Plätze, auf Platz 158.
Die Zahl der Asylanträge in Deutschland verachtfachte sich zwischen 2012 und 2013, also in der Zeit der Präsidentschaft von Mursi und dem anschließenden Militärputsch. Bis 2014 sank sie wieder auf die Hälfte, blieb aber 2015 in dieser Höhe. Während 2013 nur rund ein Viertel aller Asylanträge positiv entschieden wurde und das 2014 noch sank, stieg die Schutzquote 2015 auf über 40 Prozent.
Die Regierung verfolgt alle, die der Unterstützung der Muslimbrüder verdächtigt werden, als „Terroristen”. Dabei können auch wirtschaftliche Konkurrenten ins Fadenkreuz geraten, das Militär ist auch Großunternehmer im Lande, ähnlich wie in der Türkei. Verfolgt werden außerdem „linke” Oppositionelle, wobei als „links” alle gelten, die sich gegen Zensur oder gegen undemokratische Regierungsmethoden wenden.
Koptische Christen werden oft von nicht-staatlichen Gruppen verfolgt, aber vom Staat nicht geschützt. Verwaltungsgerichte sehen inzwischen keine innerstaatliche Fluchtalternative mehr.
Die Auseinandersetzungen auf der Sinai-Halbinsel, wo eine salafistische Abspaltung der Muslimbrüder sich dem „Islamischen Staat” angeschlossen hat, entgleiten mehr und mehr der Kontrolle der Regierung. Leichte Opfer der Milizen werden besonders schlecht ausgebildete und schlecht ausgerüstete Wehrpflichtige, die dort stationiert sind.
Reinhard Pohl
weitere Informationen zu Asylverfahren und VG-Urteilen:
www.asyl.net
www.ecoi.net
Jahr | Anträge | Entscheidungen | Asyl | Flüchtling | subs. Schutz | Absch.-schutz | „Schutzquote” | Ablehnung | sonst. Erledigung |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
2008 | 67 | 44 | 0 | 0 | - | 1 | 2,3 % | 23 | 20 |
2009 | 96 | 74 | 9 | 2 | - | 5 | 21,6 % | 34 | 24 |
2010 | 141 | 171 | 15 | 11 | - | 2 | 16,4 % | 107 | 36 |
2011 | 195 | 87 | 6 | 7 | - | 0 | 14,9 % | 43 | 31 |
2012 | 267 | 83 | 13 | 0 | - | 1 | 16,9 % | 31 | 38 |
2013 | 2.147 | 327 | 39 | 24 | - | 25 | 26,9 % | 154 | 85 |
2014 | 1.069 | 580 | 45 | 35 | 5 | 9 | 16,2 % | 174 | 312 |
2015 | 1.077 | 864 | 158 | 178 | 8 | 21 | 42,2 % | 226 | 273 |
2016 | 1.784 | 2.751 | 77 | 303 | 48 | 53 | 17,5 % | 1.774 | 496 |