(Gegenwind 341, Februar 2017)
Für viele war es eine böse Überraschung, als die Taliban am 10. November 2016 das deutsche Konsulat in Masar-i-Sharif angriffen. Denn gerade der Norden des Landes galt als „sicher”. Sechs Menschen starben, 130 wurden verletzt. Das Gebäude wurde so stark zerstört, dass es nicht mehr genutzt werden kann. Aber ein Wiederaufbau ist nicht geplant - die überlebenden Angestellten zogen in den schwer gesicherten Bundeswehr-Stützpunkt um und arbeiten jetzt von dort aus.
In der Provinz Balkh, deren Hauptstadt Mazar-i-Sharif ist, hatte es 2016 monatelang Anti-Taliban-Operationen gegeben. Doch diese wurden nicht von der afghanischen Armee geführt, sondern von der Junbish-Miliz. Das ist die usbekische Miliz, die Abdul Rashid Dostum untersteht. Dostum ist ein berüchtigter Kriegsverbrecher - und Vizepräsident von Afghanistan. Bei diesen Operationen, so berichtete es die Menschenrechtsorganisation Human Rights Wotch (HRW), waren eine Reihe von Dörfern angegriffen worden, viele Einwohner wurden getötet oder verletzt. Die Dörfer, so legt es der HRW-Report nahe, wurden aber nicht angegriffen, weil sie von den Taliban kontrolliert wurden. Sondern, weil sie von Paschtunen bewohnt waren, mitten in einer mehrheitlich usbekischen Provinz. Viele Einwohner flohen - im November 2016 gab es in Afghanistan rund 1,8 Millionen Binnenvertriebene, im Mai 2016 waren es noch „nur” 1,2 Millionen gewesen. (ausführlich dazu: Emran Feroz: Afghanistans Milizen-Problem unlösbar? Deutsche Welle, 12.8.2016)
In Deutschland leben ungefähr 250.000 Afghaninnen und Afghanen. Rund 150.000 sind erst 2015, rund 50.000 erst 2016 als Flüchtlinge hergekommen. Die meisten sind zur Zeit im Asylverfahren.
Im letzten Jahr 2016 wurden mehr als 50 % aller Asylanträge positiv entschieden. Dabei ist die Art der Statistik des „Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge” problematisch: Aus der Gesamtzahl werden die positiven, negativen und technischen Entscheidungen angegeben - und die meisten Anträge, die rein technisch als „unzulässig” gewertet werden, kommen später wieder ins richtige Verfahren zurück. Würde man nur die inhaltlichen Entscheidungen vergleichen, wäre der Anteil an positiven Entscheidungen noch höher.
Allerdings gab es in der zweiten Jahreshälfte eine deutliche Steigerung der positiven Entscheidungen: im November 2016 waren 64,9 % der Afghanistan-Entscheidungen positiv, 29,6 % negativ. Eigentlich hätte die Bundesregierung den afghanischen Flüchtlinge, wie denen aus Syrien, Irak, Iran, Somalia oder Eritrea den Zugang zu Deutschkursen ermöglichen müssen - denn die geforderte „gute Bleibeperspektive” liegt vor, wenn es mehr als 50 Prozent positive Entscheidungen gibt. Aus politischen Gründen will die Bundesregierung das aber nicht.
Abgelehnte Asylbewerberinnen und Asylbewerber müssen ausreisen. Aus den Zahlen des Bundesamtes ergibt sich erst ein vorläufiges Bild, 2016 wurden rund 25.000 Asylanträge aus Afghanistan abgelehnt. Aber diejenigen, die gegen die Entscheidung klagen, bleiben in der Regel im Asylverfahren - im Falle Afghanistans rund 24.500 Abgelehnte. Es dauert durchschnittlich ein Jahr, bis das Gericht entscheidet. Die Entscheidung orientiert sich nicht an den Verhältnissen zum Zeitpunkt der Bundesamts-Entscheidung, sondern muss die Verhältnisse am Tag der mündlichen Verhandlung berücksichtigen - Prognosen sind also schwierig.
Aber es leben in Deutschland rund 12.000 Geflüchtete aus Afghanistan, die bereits endgültig abgelehnt sind, davon 800 in Schleswig-Holstein. Außerdem sind im letzten Jahr 2016 ungefähr 3.000 AfghanInnen freiwillig ausgereist. „Freiwillig” ist dabei der rechtliche Begriff, weil sie ohne Polizei und Handschellen ausreisen, allerdings in der Regel nicht wirklich freiwillig. Dabei gibt es solche, die nach einer Ablehnung ausreisen. Andere verlassen das Land, weil sie glauben, im Asylverfahren chancenlos zu sein, brechen das Verfahren ab. Manchmal stimmt die Einschätzung, andere sind einfach schlecht beraten.
In den letzten Jahren wurden nur wenige Afghanen und keine Afghaninnen aus Deutschland abgeschoben, es waren acht bis zwölf im Jahr. Im Jahre 2016 stieg die Zahl sprunghaft auf rund 60 an, darunter 34 bei einer Sammelabschiebung am 14. Dezember. Das war politisch gewollt: Innenminister Thomas de Maizière hatte monatelang dafür getrommelt, sah „sichere Gebiete” in Afghanistan. Darunter versteht die Bundesregierung namentlich Kabul, Balkh, Herat, Bamiyan, Takhar, Samangan und Panjshir.
Im November schlossen EU und Afghanistan ein Abkommen ab, das Abschiebungen erleichtert: Die EU verpflichtete sich, einen neuen Terminal am Flughafen Kabul zu bauen und die Daten aller Abzuschiebenden vier Wochen vorher an die Behörden in Kabul zu übermitteln. Afghanistan verpflichtete sich, die Ersatzpapiere schnell auszustellen und die Abzuschiebenden aufzunehmen. Der erste Sammelflug hatte demonstrativen Charakter: Die Bundesregierung wollte 50 abgelehnte Geflüchtete abschieben, sechs Bundesländer brachten nur 34 Afghanen zusammen. Es wären „verurteilte Straftäter”, beeilte sich Bundesinnenminister de Maizière zu versichern - wie bei diesem Minister leider üblich, ohne die Fakten zu kennen: Ein Drittel war verurteilt, wie hinterher zugegeben wurde, zwei Drittel „nur” abgelehnt. Allerdings waren 39 Afghanen nach Frankfurt ins Gewahrsam der Bundespolizei gebracht worden - fünf Abschiebungen wurden im letzten Moment von Gerichten gestoppt, weil die Ausländerbehörden noch laufende Asylverfahren übersehen und deutsche Kinder der Abgelehnten ignoriert hatten.
Dass es in Afghanistan sicher ist, behauptet niemand. Die Bundesregierung behauptet allerdings, teils mit Unterstützung von CDU-Innenministern einiger Länder, es gäbe sichere Gebiete innerhalb Afghanistans. So legte das Bundesinnenministerium 2016 der Innenministerkonferenz eine Einschätzung vor, in der es hieß, dass „die Sicherheitslage in Afghanistan in einigen Regionen eine Rückkehr ausreisepflichtiger afghanischer Staatsangehöriger grundsätzlich erlaubt” und „dass Rückführungen in diese sicheren Regionen Afghanistan dann möglich sind, wenn nicht im Einzelfall tatsächliche Anhaltspunkte dagegen sprechen”.
Das Bundesinnenministerin forderte dann, dass die übrigen Innenminister diese Einschätzung „zustimmend zur Kenntnis nehmen”, so der Protokoll-Entwurf. Schleswig-Holstein beantragte, das Protokoll mit der Änderung zu verabschieden, das Wort „zustimmend” zu streichen. So geschah es. Dennoch zitierte der Bundesinnenminister genau diese Auszüge aus der eigenen Einschätzung in einem Brief an die Länder vom 9. Januar 2017 mit dem Vorsatz, das sei „unsere geltende Beschlusslage in der IMK” - erst wird aus „zustimmend zur Kenntnis genommen” ein neutrales „zur Kenntnis genommen”, im nächsten Schritt fälscht Thomas de Maizière das zu einer „Beschlusslage”. So macht der Bundesinnenminister nicht nur Stimmung, er macht Wahlkampf.
Schleswig-Holstein forderte außerdem, vom UNHCR eine neue Einschätzung - die vorige stammte vom April 2016 - anzufordern. Diese legte die UNO am 22. Dezember 2016 vor. Sie widersprach der BMI-Einschätzung komplett: Die Lage habe sich seit April verschärft, es gäbe Anschläge und Kämpfe im gesamten Land. Außerdem würde sich die Situation täglich verändern, so dass man keine „sicheren Gebiete” feststellen könnte. Der UNHCR wies noch auf ein zweites Problem hin: Im Jahre 2016 wären mehr als eine Million afghanischer Flüchtlinge aus dem Iran oder Pakistan teils abgeschoben, größtenteils aber vertrieben worden, sie hätten oft ihr gesamtes Eigentum verloren. Die Aufnahmelager in Afghanistan wären komplett überfüllt, die Versorgungsstrukturen hoffnungslos überlastet.
Daraufhin schickte der Innenminister Schleswig-Holsteins einen Brief an seine Länder-Kollegen, in dem er einen Abschiebestopp für Afghanistan vorschlug. Einen solchen kann ein einzelnes Bundesland seit der letzten Asylrechtsverschärfung nicht mehr für sechs, sondern nur noch für drei Monate ohne Zustimmung durch den Bundesinnenminister erlassen. Solch ein Abschiebestopp gibt den abgelehnten AsylantragstellerInnen die Möglichkeit, einen humanitären Aufenthaltstitel zu beantragen und zu bekommen und damit erst mal den Druck der Duldung, die täglich gekündigt werden kann, loszuwerden. Die meisten Ausländerbehörden in Schleswig-Holstein sind aber dermaßen überlastet, dass sie innerhalb von drei Monaten überhaupt nichts entscheiden können, insofern nützt der Alleingang eines Bundeslandes relativ wenig.
Thomas de Maiziére schrieb, wie gesagt, am 9. Januar einen Brief an die Länder-Innenminister. Dort stellt er eindeutig fest, dass Afghanistan insgesamt nicht sicher ist, will aber an der Definition einzelner sicherer Gebiete festhalten. Es sind aber nicht mehr sechs, sondern nur noch zwei Provinzen, und so ganz sicher sind auch diese beiden anscheinend nicht:
„Die Sicherheitslage in Afghanistan kann jedenfalls nicht als allgemein unsicher bezeichnet werden. Es gibt Provinzen und Distrikte, in denen die Lage vergleichsweise sicher und stabil ist. Die afghanischen Sicherheitskräfte sind weiterhin in der Lage, in den meisten urbanen Zentren - darunter fallen die Hauptstadt Kabul sowie die Mehrzahl der 33 weiteren Privinzhauptstädte - die Kontrolle auszuüben. Es gibt verschiedene Gebiete in Afghanistan - dazu gehören z.B. Kabul, Herat, Bamiyan und Panjshir - in denen die Sicherheitslage ausreichend kontrollierbar ist.” Aus dem UNHCR-Bericht vom 22. Dezember leitet der Innenminister ab: „In den Provinzen Bamiyan und Panjshir würden derzeit grundsätzlich keine bewaffneten Konflikte stattfinden, die eine konfliktbezogene Binnenvertreibung verursachen.”
Der letzte Satz bedeutet übersetzt, das ist für alle klar, die den UNHCR-Bericht daneben legen: In 32 der 34 Provinzen des Landes finden bewaffnete Konflikte statt, die eine Binnenvertreibung verursachen. In diesen zwei genannten Provinzen finden zwar auch Kämpfe statt, aber es sind keine Binnenvertreibungen bekannt.
Der Minister erwähnt nicht, dass in dem Land, in dem die Bevölkerungszahl ein Drittel der Zahl in Deutschland beträgt, 2015 bei diesen Konflikten über 5.000 afghanische Soldaten getötet wurden. Nach den Einschätzungen des US-Verteidigungsministeriums waren es 2016 „wesentlich mehr” (Die Welt, 11. Januar 2017: „Zehntausende Geistersoldaten dienen in afghanischer Armee”). Wie würde der Innenminister die Situation in Deutschland einschätzen, wenn im vorigen Jahr bei Auseinandersetzungen in 14 von 16 Bundesländern 16.000 Bundeswehr-Soldaten und noch mehr Landes- und Bundespolizisten getötet worden wären? Alles in Ordnung soweit?
Zwei Dinge sind wichtig.
Erstens sollten diejenigen, die auf dem Gebiet aktiv sind, gegen Abschiebungen nach Afghanistan protestieren und die Öffentlichkeit über die Situation in Afghanistan informieren. Das geschieht bundesweit und auch in Schleswig-Holstein schon, bisher aber noch zu wenig. Solche Aktionen und Veranstaltungen sollten in den nächsten Monaten auch mit den Wahlkämpfen auf Bundes- und Länderebene verknüpft werden, in Schleswig-Holstein sprechen sich CDU und FDP für mehr Abschiebungen aus.
Zweitens sollten aber UnterstützerInnen und Beratungsstellen daran mitwirken, einzelnen abgelehnten Flüchtlingen aus Afghanistan von der Duldung zu einer Aufenthaltserlaubnis zu verhelfen. Das ist über verschiedene Varianten im Aufenthaltsgesetz möglich. Eine Aufenthaltserlaubnis kann man bekommen, wenn man erfolgreiche eine Ausbildung absolviert hat, wenn man (als junger Mensch) die Schule in Deutschland absolviert hat, wenn man sich besonders engagiert und von der Härtefall-Kommission ein positives Votum bekommt. Wichtig ist dabei, die Sprache zu beherrschen und so bald wie möglich frei von öffentlicher Hilfe (Transferzahlungen) zu sein.
Wichtig ist auch, bei Veranstaltungen auch professionelle Dolmetscherinnen oder Dolmetscher zu beauftragen, damit die Betroffenen selbst die oft komplizierten Zusammenhänge verstehen. Nur dann können sie fehlerfrei agieren, und nur dann kann man sie ohne größere Reibungsverluste unterstützen. Dabei sollte man es strikt vermeiden, auf „ehrenamtliche SprachmittlerInnen” zurückzugreifen - wenn komplizierte Zusammenhänge in die anderen Sprache nur halb übertragen werden können, wird es für die UnterstützerInnen unübersichtlich, was wirklich verstanden wurde, was nicht gedolmetscht werden konnte und was, auch das kommt vor, falsch übertragen wurde.
Im Jahre 2016 wurden aus Deutschland rund 25.000 Menschen abgeschoben. Die wichtigsten Ziel-Länder waren Albanien, Serbien, Mazedonien, Bosnien und Kosova sowie Italien, dorthin wurden vor allem AsylantragstellerInnen abgeschoben, die über Italien eingereist waren.
Nach Afghanistan wurden gerade mal 60 Menschen abgeschoben. Und von den 12.000 Geduldeten sind nur wenige wirklich „abschiebar”, denn etliche Duldungen sind wegen fehlender Papiere, Krankheiten, Familienangehöriger mit Aufenthaltserlaubnis, laufender Ausbildung und so weiter gegeben worden, man kann sie kurzfristig nicht kündigen.
Auf Afghanistan konzentriert sich die CDU-SPD-CSU-Bundesregierung, weil das Land über die Jahre immer das größte oder zweitgrößte Herkunftsland von Flüchtlingen ist. Zwar kommen momentan die meisten Flüchtlinge, rund 40 Prozent, aus Syrien - aber wenn man sich die letzten 30 Jahre ansieht, dann sind Afghanistan, Irak und Somalia, wo die Kriege und Vertreibungen nicht enden wollen, die Hauptherkunftsländer. Alle dort lebenden Familien sind auf Überweisungen hier lebender Mitglieder angewiesen, insbesondere junge Männer werden sowohl von Rekrutierungen für verschiedene Kriegsparteien und kriminelle Organisation bedroht, sind aber auch Ziel von Anschlägen - will eine Familie oder Dorfgemeinschaft nicht parieren, erschießt man ein oder zwei junge Männer, die potentiellen Ernährer der Familie.
Die CDU-SPD-CSU will auf diesem Gebiet, einer der großen Flüchtlings-Communities, Handlungsfähigkeit zeigen, koste es, was es wolle.
Dabei sind nicht alle in der Regierung schlecht informiert. Am 19. Januar musste der Künstler Ahmad Pouya aus Augsburg nach Afghanistan ausreisen, um der angekündigten Abschiebung zuvorzukommen. Rechtzeitig hatte er das Goethe-Institut in Kabul gebeten, ihn vom Flughafen abzuholen und unterzubringen, weil er Mordanschläge der Taliban auch in Kabul befürchten muss. Das, so das Goethe-Institut, sei aus Sicherheitsgründen nicht möglich: Er könnte bei ihnen wohnen, müsste den Weg vom Flughafen zum Institut aber alleine schaffen. Die Sicherheitslage in Kabul sei so schlecht, dass das Goethe-Institut dort zur Zeit überhaupt niemanden nach Afghanistan einlädt und schon gar nicht von Flughafen abholt.
Das Goethe-Institut gehört zum Auswärtigen Amt. Die Informationen über Afghanistan und Kabul stehen der Regierung also zur Verfügung.
Reinhard Pohl
Alle erwähnten Unterlagen (Briefe der Innenminister, UNHCR-Bericht) können bei Interesse bei der Redaktion angefordert werden: redaktion@gegenwind.info
Monat | Entscheidungen | Flüchtlingsstatus | subsidiärer Schutz | Abschiebungsschutz | Anteil positiv | Ablehnungen | Anteil negativ |
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August 2016 | 5.595 | 1.108 | 481 | 887 | 44,2 % | 2.664 | 47,6 % |
September 2016 | 7.578 | 1.327 | 477 | 2.228 | 53,2 % | 3.064 | 40,4 % |
Oktober 2016 | 9.911 | 1.982 | 874 | 3.359 | 62,7 % | 3.175 | 32,0 % |
November 2016 | 16.129 | 3.263 | 1.431 | 5.771 | 64,9 % | 4.769 | 29,6 % |
Dezember 2016 | 16.282 | 3.109 | 1.363 | 4.797 | 56,9 % | 5.931 | 36,4 % |
Man erkennt die steigende Zahl von Entscheidungen durch bessere Personalausstattung des BAMF (leider viele nicht qualifizierte Aushilfen). Die Differenz zwischen positiven und negativen Entscheidungen zu 100 % sind Einstellungen ohne Ergebnis, vor allem Dublin-Entscheidungen (Asylantrag unzulässig, Abschiebung in anderes europäisches Land wird versucht).