(Gegenwind 340, Januar 2017)
Seit 1998 ist Jürgen Gottschlich als Korrespondent in der Türkei. Von dort aus berichtet er regelmäßig für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. Anderen ist er noch als Mitgründer der „taz” bekannt, aber das ist ja lange her. Als Türkei-Kenner hat er sich einen Namen gemacht. Sein Buch über die von 2008 „Jenseits der Klischees” hat er jetzt neu gefasst. Dabei hatte er Glück: Das Buch war schon fertig, als es im Juli zum angeblichen Militärputsch kam. Es war aber noch nicht in der Druckerei - die aktuellen Ereignisse, vor allem die „Säuberungs-welle” mit Zehntausenden von Entlassungen und Tausenden von Verhaftungen konnte noch eingearbeitet werden.
Über Entwicklungen in der Türkei wird in Deutschland schon lange interessiert diskutiert. Der wichtigste Grund ist die große Zahl an Einwanderern aus dem Land, vergleichbar nur mit der Zahl der Einwanderer aus Russland. Dabei war die Diskussion schon immer kontrovers. Denn aus der Türkei sind in den letzten 50 Jahren TürkInnen und KurdInnen gekommen, die eine sehr unterschiedliche Sicht auf das Herkunftsland haben. Es kamen Flüchtlinge und GastarbeiterInnen, Familienangehörige und StundentInnen. Und es kamen Gläubige und Ungläubige. In vielen Klischees von Deutschen sind es allerdings alles Türken und alles Muslime, die kommen.
Der Autor beschäftigt sich zunächst mit dem hier vorherrschenden Bild der Türkei. Dabei geht er ausführlich darauf ein, dass es in der Türkei ganz verschiedene „Kulturen” gibt, je nachdem, ob man sich in städtischen oder ländlichen Gebieten, innerhalb der kurdischen oder der türkischen Bevölkerung, in strenggläubiger oder weltlicher Umgebung aufhält. Insbesondere geht es auf den Islam, das Militär und den Alltag in der Türkei ein.
Der zweite Teil beschäftigt sich mit dem politischen System. Und da geht es um den Aufstieg von Recep Tayyip Erdogan von religiösen Handliner, Gefängnisinsassen, Bürgermeisters von Istanbul, Ministerpräsidenten und Präsidenten mit rein repräsentativen Aufgaben - aber unverkennbar mit dem Willen, Alleinherrscher des Landes zu werden. Vorgestellt wird die Kampfphase seiner Bewegung, die in diesem Jahrtausend von der Machtphase abgelöst wurde. Im Bündnis mit der Gülen-Bewegung schaffte die AKP es, zur allseits beherrschenden Bewegung in der Türkei zu werden. Im Juli begann dann der „Bruderkampf” der beiden Bewegungen, die beide den Muslimbrüdern nahe stehen.
Im dritten Teil geht der Autor auf den Konflikt des Staates mit der kurdischen Minderheit an. Der Staat, insbesondere Erdogan, macht den Konflikt an der Organisation der PKK fest, ebenso an Abdullah Öcalan. Wäre es so, wäre der (militärische) Konflikt in einer Woche zu Ende. Dahinter steht aber die völlig desolate Minderheitenpolitik der türkischen Regierung. Auch Erdogan ändert diese Politik aus rein taktischen Motiven: Lange Zeit hat die AKP mit der PKK und namentlich mit Öcalan verhandelt, erst als die (kurdische) HDP bei den Wahlen die 10-Prozent-Hürde übersprang und damit eine verfassungsändernde Mehrheit der AKP im Parlament verhinderte, begann Erdogan abrupt den Krieg gegen die kurdische Minderheit neu - keineswegs einen Krieg gegen die PKK, sondern vor allem einen Krieg gegen die zivilen Organisationen in den mehrheitlich kurdisch bewohnten Städten der Ost-Türkei. Außerdem begann er erst durch die Unterstützung des „Islamischen Staates”, dann durch den Einsatz von türkischen Truppen und letztlich durch einen Einmarsch in den Irak und nach Syrien den direkten Krieg gegen die kurdische Minderheit in Nord-Syrien und ihre Selbstorganisation im syrischen Bürgerkrieg.
Nach einem zweiten Portrait, nach Erdogan stellt uns der Autor auch Öcalan vor, wird die Türkei nochmal ganz ausführlich vorgestellt. In diesem Durchgang geht es nicht um die Klischees, sondern um die Türkei selbst. Das beginnt mit dem Klima, der Landschaft, der Kultur und dem politischen System. Schließlich geht es auch um die Wirtschaft, die wohl sehr viel entschlossener auf dem Weg in die EU ist als die Regierung, weil sie nur so eine gute Perspektive hat.
Die gemeinsame Geschichte wird ausführlich vorgestellt. Der Autor hatte ja schon eine Buch über die Komplizenschaft des Deutschen Reiches beim Völkermord an den Armeniern 1915/16 geschrieben („Beihilfe zum Völkermord”, inzwischen in zweiter Auflage erschienen). Das stellt er in einer Zusammenfassung vor, dann aber auch die deutsche Auswanderung in die Türkei und die türkische Auswanderung nach Deutschland. Gerade diese beiden Länder haben schon sehr, sehr lange miteinander zu tun, sie haben außer ihrer eigenen Geschichte auch eine sehr miteinander verwobene gemeinsame Geschichte. In einem eigenen Kapitel werden die Christen in der Türkei vorgestellt, zu Bismarcks Zeiten noch die Hälfte der Bevölkerung des osmanischen Reiches, heute eine kleine und immer kleiner werdende Minderheit in der Türkei.
Die Familie wird uns ausführlich vorgestellt, weil das anders ist als in Deutschland. Die Familie hat in der Türkei, und zwar für Türken, Kurden, Tscherkessen, Griechen, Armenier einen anderen Stellenwert als im deutschen Durchschnitt. Vorgestellt wird dabei auch das Bildungssystem, weil das für Familien und Kinder sowie Jugendliche ganz entscheidend ist. Von Stufe zu Stufe gibt es Prüfungen, und in der Vorbereitungszeit ist die gesamte Familie verantwortlich für den Erfolg. Viele Kinder und Jugendliche werden, nicht nur zu ihrem Vorteil, von der gesamten Großfamilie begleitet und getrieben, das Gymnasium und die Universität zu erreichen, die Aufnahmeprüfung zu bestehen.
Sehr rückständig sind weite Bereiche der Wirtschaft. Es gibt in vielen Produktionen Arbeitsbedingungen, die an den Frühkapitalismus erinnern, und zwar in Industrie, Dienstleistungssektor, Landwirtschaft, Bergbau - viele Arbeiten sind lebensgefährlich, und das wird von vielen Menschen in der Türkei als unveränderlich oder zumindest schwer veränderlich angesehen. Auch die soziale Absicherung und das Gesundheitssystem hängen hinter europäischen Standards weit hinterher, sind nur für Teile der Gesellschaft erreichbar. Und hier schlägt dann der Krieg gegen die kurdische Bevölkerung voll durch, gerade weil die Vertreibungen von Hunderttausenden diese auch aus den Sozialsystemen katapultieren.
Vorgestellt wird dann das Freizeitverhalten, und da gibt es wieder viele Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Völkern, die in der Türkei leben. Das geht vom Fußball über den Basar bis hin zum Picknick - und vieles davon wird in Deutschland so oder in einer „konservierten” Form aus den 70er Jahren fortgesetzt, um ein Stück der gewohnten Traditionen zu bewahren und nicht ganz in der Gesellschaft der neuen Heimat zu verschwinden.
Bei der Vorstellung von Medien, vor allem Zeitung und Fernsehen ist es unvermeidlich, auch das Thema Zensur anzusprechen. Gerade nach dem Bruch mit der Gülen-Bewegung hat die AKP-Führung Dutzende von Zeitungen und Sendern verboten oder durch Besetzung auf Regierungslinie gebracht, und auch das Internet gilt der Erdogan-Herrschaft als Bedrohung. So muss die AKP immer wieder bei Facebook oder Twitter eingreifen, Dienste sperren lassen, nach Usern fahnden und sie verhaften, um Kritik oder bestimmte Informationen zu unterdrücken, deren Veröffentlichung eine Gefahr bedeutet.
Wer sich für die Türkei, die aktuelle Entwicklung, vor allem aber das deutsch-türkische und europäisch-türkische Verhältnis interessiert, kommt an diesem Buch nicht vorbei.
Reinhard Pohl