(Gegenwind 328, Januar 2016)
Gerade in diesen Woche erfährt die Prozess-Geschichte um den „Nationalsozialistischen Untergrund” (NSU) wieder besondere Aktualität, nachdem die Hauptangeklagte, Beate Zschäpe, nach jahrelangem Schweigen eine Aussage gemacht hat. Sie ließ von einem ihrer fünf Anwälte vortragen, dass sie von den Morden nichts gewusst und mit den Taten nichts zu tun habe.
„Die angebliche ‚Entschuldigung’ für die Taten von Mundlos und Böhnhardt nehme ich nicht an: sie ist eine Frechheit, vor allem, wenn sie dann noch verbunden wird mit der Ansage, keine unserer Fragen zu beantworten.” Mit diesen Worten hat Gamze Kubasik, Tochter des vom NSU 2004 in Dortmund ermordeten Mehmet Kubasik, ihre Reaktion auf Zschäpes Erklärung zusammengefasst.
„Sie deckt alle NSU-UnterstützerInnen weiterhin, sagte kein Wort (...) zu den zahlreichen Nazis aus dem Umfeld der „Kameradschaft Jena” und von „Blood and Honour” Chemnitz, die den Drei beim Untertauchen halfen - und das, obwohl sie natürlich sehr genau Angaben zu diesen machen könnte. Einzige Ausnahmen: Tino Brandt belastet sie als führenden Kopf des Thüringer Heimatschutzes - der ist ja auch inzwischen als V-Mann enttarnt. Damit gilt offensichtlich auch für Beate Zschäpe weiterhin der Satz aus dem Treuelied der Waffen-SS, dass ‚alle Brüder (und Schwestern) schweigen’ - auch wenn sie wortreiche Erklärungen verlesen lassen. Mit ihrer Einlassung hat Zschäpe gezeigt, dass ähnliches auch für sie gilt, dass auch für sie die Verbundenheit zu den ‚Kameraden’ wichtiger ist als ihre geheuchelte Entschuldigung gegenüber den Opfern der NSU-Taten.” (Prozessbericht vom 9.12.15 aus Sicht der Nebenklage im Prozess gegen Verantwortliche des „Nationalsozialistischen Untergrund”)
Was den Fortgang des Prozesses betrifft, so scheint sich damit zu bestätigen, was die Opferanwälte seit langem registrieren, nämlich dass Gericht und Bundesstaatsanwaltschaft alles tun, um an ihrer NSU-Trio-These festzuhalten und offensichtlich keinerlei Interesse daran haben, den wahren Umfang des Nazi-Terror-Netzwerkes aufzudecken (siehe Gegenwind 327).
Wer ein kompaktes „Upgrade” über die terroristischen Morde und die sog. „Pannen”, „Fehler” und „Versäumnisse” der Behörden möchte - eingebettet in die literarische Form eines Kriminalromans - sei auf den aktuellen Krimi von Wolfgang Schorlau verwiesen: „Die schützende Hand. Denglers achter Fall”. Vordergründig ein Krimi, handelt es sich bei dem Band aber eher um die zusammenfassende Dokumentation eines Staatsverbrechens, ergänzt um fiktionale Elemente. Das wird deutlich an dem Anhang des Buches, das ausführliche Quellenangaben in Fußnoten sowie Beweisfotos aus Ermittlungsakten enthält. So ist ein Doku-Thriller entstanden, der selbst für jene, die viele der dargelegten Fakten kennen, noch manche überraschende Wendung bereit hält.
Schorlau macht in seinem Buch keinen Hehl daraus: Er glaubt, hinter dem NSU stecken mehr als ein mordendes Terroristen-Trio und dumpfbackene Schlapphüte des Verfassungsschutzes. Und er versucht in Gestalt der literarische Figur des Privatdetektivs Dengler dahinter zu kommen, wer seine schützende Hand über die Mörder gehalten hat.
„Wer erschoss Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt?” fragt ein unbekannter Anrufer und erteilt Georg Dengler den Auftrag, diese Frage zu beantworten. Dengler muss unwillkürlich an einen seiner ersten Fälle als Privatermittler denken: Damals, 2004 nach dem Nagelbombenanschlag in Köln, hatte ihn der Buchhändler Tufan, dessen Laden bei dem Attentat zerstört worden war, beauftragt, die Täter zu ermitteln. Denglers Ermittlungen verliefen damals im Sande. Dengler liest sich durch die tausenden von Seiten der Untersuchungsausschüsse und stößt wie schon bei seinen Recherchen zum Attentat auf das Münchner Oktoberfest (1980) auf eine unheimliche Nähe des Verfassungsschutzes zur rechten Szene. Hätte der NSU ohne den Geheimdienst überhaupt gefährlich werden können? War der Staat die „schützende Hand”? Schließlich führte der Verfassungsschutz rund 40 der 160 bekannten Mitglieder des „Thüringer Heimatschutzes” als bezahlte Informanten. Und aus dieser Gruppierung ging der NSU hervor, der für die bundesweite Mordserie an neun Migranten und einer Polizistin verantwortlich gemacht wird. Doch die staatlichen Stellen wollen angeblich all die Jahre nichts von der mordenden Gruppe gewusst haben.
Die Mordserie fliegt erst auf, als am 4. November 2011 nach einem Banküberfall einer Polizeistreife ein Wohnmobil im Eisenacher Stadtteil Stregda auffällt und es zum Showdown kommt: Darin befinden sich die mutmaßlichen NSU-Terroristen. Uwe Mundlos packt die Winchester-Pumpgun, erschießt Uwe Böhnhardt, legt dann Feuer, steckt sich den Lauf der Waffe in den Mund und drückt erneut ab. So die offizielle Version.
Doch lief es wirklich so ab, wie offiziell behauptet wird? Dengler wird stutzig, als er Polizeiakten studiert. Wieso gingen die Terroristen, die jahrelang vor nichts zurückschreckten, die acht geladene Waffen im Wagen hatten, nicht zum Angriff über? Dengler fallen Ungereimtheiten auf: Die Projektile wurden nie gefunden. Am Tatort lag stattdessen eine Patronenhülse zuviel. Im Obduktionsbericht steht, dass weder Mundlos noch Böhnhardt Ruß in der Lunge hatten. Waren sie also schon tot, als die Polizei vorrückte? Und wieso ließ der Polizeichef das Wohnmobil noch vor der Spurensicherung abschleppen - wohlwissend, dass er den Tatort verändert? Für Dengler ist die Richtung klar: Der Staat will seine eigene Beteiligung vertuschen.
Aus diesem Grund mussten in den Verfassungsschutzämtern ab November 2011 die Schredder heißlaufen. Deswegen mussten Geheimdienstler und Polizeibeamte vor Untersuchungsausschüssen das Gedächtnis verlieren. Aus diesem Grund beschwerte sich Klaus-Dieter Fritsche (von 1996 bis 2005 Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt, Staatssekretär im Bundesinnenministerium und seit 2014 erneut Beauftragter für die Nachrichtendienste des Bundes), vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages (Vorsitzender war der unter mysteriösen Umständen später weggekickte Sebastian Edathy, SPD) darüber, dass sie mit ihren Nachfragen das „Staatswohl” gefährden würden.
Bei allem Dokumentarischem macht Schorlau in einem Interview (Südwestpresse 26.11.15) aber auch deutlich: Sein Buch ist ein Krimi - und somit Fiktion. Er wolle mit seiner Version des NSU nur zeigen, wie man die Ereignisse und die Fakten auch deuten kann. „Allerdings”, so stellt er im Nachwort seines Krimis fest, „bin ich mir mittlerweile sicher, dass die offizielle Erzählung über die NSU, die Geschichte eines isolierten verbrecherischen Trios, von dem zwei Personen tot sind und die dritte ihrer Verurteilung entgegensieht, haltlos ist.” Die Frage nach den Hintergründen und möglichen Strippenziehern könne er auch nicht beantworten. Und er fürchtet, der Fall NSU werde uns noch lange beschäftigen: „Ich glaube, bis zum Ende unserer Lebenszeit.”
Und es gibt eine bedrohliche Vision in diesem Roman: Eine Romanfigur, ein Journalist, befürchtet angesichts der Angriffe auf Flüchtlinge und Flüchtlingsunterkünfte im Sommer 2015, „dass sich in Deutschland eine rechtsterroristische Massenbewegung etabliert”, die er „NSU 2.0” nennt.
Günther Stamer