(Gegenwind 323, August 2015)
Lange wurde im Syrien-Krieg die Situation in Kurdistan kaum beachtet. Im Mittelpunkt der Berichterstattung standen Damaskus, Aleppo, Homs und andere große Städte. Dort demonstrierten die Menschen gegen die Diktatur, Präsident Assasd mobilisierte Armee und Luftwaffe, dort entstanden bewaffnete Widerstandsgruppen. In Kurdistan gelang es der PYD, der Schwesterorganisation der PKK, im Jahre 2012 die militärische Kontrolle zu übernehmen. Bekannt wurde das der Öffentlichkeit erst, als der Islamische Staat Kobane angriff. „Rojava”, also Syrisch-Kurdistan, gilt seitdem als Modell-Gebiet im Krieg.
Ob das wirklich berechtigt ist, untersucht Thomas Schmidinger in seinem neuen Buch. Er forscht und publiziert seit langem zu Kurdistan, und zwar zum türkischen, irakischen und syrischen Teil. Um dieses Buch zu schreiben, bereiste er nicht nur den Norden Syriens während des Krieges, was gefährlich ist, sondern führte dort und in seiner Heimat Österreich auch zahlreiche Interviews. Dabei traf er sich sowohl mit Kurdinnen und Kurden, die der PYD nahe stehen, als auch mit Kritikerinnen und Kritikern.
Umstritten ist die Entstehung von Rojava. Während die PYD behauptet, man habe die drei Gebiete mit den eigenen bewaffenten Kräften befreit und die syrische Armee zum Abzug gezwungen, gehen andere davon aus, dass es eine Übereinkunft mit der syrischen Diktatur gab und gibt. Danach hat sich die syrische Armee zurückgezogen, die Waffen zuvor übergeben, gegen die Zusagen, dass sich die PYD auf die Selbstverteidigung beschränkt und nicht in den Bürgerkrieg eingreift.
Wie dem auch sei: Faktisch beschränkt sich die PYD nicht nur auf die Selbstverteidigung, sie hat zur Zeit auch kaum eine andere Möglichkeit. Ihr direkter Nachbar ist nämlich nicht die Diktatur, die inzwischen auf ein kleines Gebiet rund um die Hauptstadt Damaskus und die Küste zum Mittelmeer zurückgeworfen wurde. Ihr direkter Nachbar ist im Süden der „Islamische Staat”, der offen den geplanten Genozid angekündigt hat. Gefangen genommene kurdische Kämpferinnen und Kämpfer wurden vom IS öffentlich geköpft, gefangene Zivilisten entweder umgebracht oder als Sklavin verkauft - zur Selbstverteidigung gibt es also keine Alternative. Denn im Norden des Gebiets liegt die Türkei, die die Grenze zwar dort offen hält, wo der Islamische Staat regiert, sie zu Rojava aber streng überwacht. KämpferInnen der PKK, die die PYD unterstützen wollen, riskieren in der Türkei langjährige Haftstrafen, wenn es ihnen nicht gelingt, die Reihen der türkischen Armee ungesehen zu passieren - Kämpfer des IS riskieren nichts, können auch verletzt zurückkommen und sich in türkischen Krankenhäusern behandeln lassen.
Umstritten ist auch die innere Organisation von Rojava. Die Unterstützer der PYD und der PKK sehen ein emanzipatorisches Modell eines kurdischen Staates heranreifen, in denen auch religiöse und ethnische Minderheiten ihren Platz finden, eine Art Rätedemokratie. Der Autor schließt es nicht aus, sieht aber im Moment auch starke Elemente einer Notverwaltung unter Kriegsbedingungen - und auch Elemente der Unterdrückung oppositioneller Strömungen, so gab es tödliche Schüsse der PYD-Polizei, für die diese sich inzwischen öffentlich entschuldigt hat.
Wahlen gab es in Rojava noch nicht, insofern kann man über die Mehrheitsverhältnisse dort nichts sagen. Diejenigen Parteien, die Barsani im Irak nahe stehen, tragen die Autonomieerklärung Rojavas nicht mit, beteiligen sich auch nicht an Regierung und Verwaltung. Sie sind aber eingeladen, sich an der Vorbereitung von Wahlen zu beteiligen, was sie zur Zeit ablehnen. Die PYD wiederum hatte für Sommer 2014 Wahlen angekündigt, diese aber wegen der militärischen Situation wieder abgesagt.
In dem Gebiet leben nicht nur Kurdinnen und Kurden, sondern auch Armenier, Aramäer, Araber und andere Minderheiten. Die Araber wurden dort von der Assad-Regierung gezielt angesiedelt, um das bis dahin geschlossene kurdische Siedlungsgebiet zu durchlöchern. Innerhalb der kurdischen Gruppen ist zur Zeit umstritten, ob man sie als vollwertige Bürger von Rojava anerkennen will oder ihre Rücksiedlung organisiert - beide Optionen können zur Zeit wegen der militärischen Situation nur theoretisch diskutiert werden, außerdem gibt es ein wichtigeres Thema, nämlich das Überleben selbst.
Während das Buch veröffentlicht wurde, ging der Autor davon aus, dass Kobane sich nur schwer würde halten können. Dabei handelt es sich um das mittlere der drei kurdischen Gebiete, Cizire im Osten reicht bis zur irakischen Grenze und hat dort direkten Kontakt mit dem dortigen autonomen (faktisch selbständigen) Kurdistan, wenn auch die Grenze von dort aus öfter geschlossen wird. Efrin im Westen dagegen ist vom Rest isoliert, hat aber nicht nur den IS, sondern auch die FSA als Nachbarn.
Nach Abschluss des Buches zeigte sich: Die PYD war durchaus in der Lage, Kobane zu verteidigen, allerdings mit Hilfe us-amerikanischer Luftangriffe und Waffenabwürfe, Unterstützung durch irakische Peschmerga und um den Preis der völligen Zerstörung der Stadt. Inzwischen konnten PYD-Einheiten aus Kobane und Cizire die beiden Kantone vereinigen, indem sie die Orte zwischen der IS-Hauptstadt Raqqa und der türkischen Grenze unter Kontrolle brachten. Wie lange allerdings diese günstigere militärische Lage andauern wird, ist unklar.
Man merkt dem Buch an, dass der Autor sich seit Jahren mit Kurdistan beschäftigt. Ihm sind Details wichtig, er geht Partei für Partei, Gruppierung für Gruppierung durch und gönnt den Leserinnen und Lesern nur wenige Abschnitte, die eine Übersicht erlauben. Aber das Buch ist konkurrenzlos, und wer sich für Rojava interessiert, kommt daran nicht vorbei.
Reinhard Pohl