(Gegenwind 321, Juni 2015)
Ich muss zugeben: Das Buch hat einige Zeit bei mir gelegen, bevor ich mit dem Lesen startete. Es ist groß, dick und schwer, kaum Bilder, kleiner Text. Aber einmal gestartet habe ich es doch relativ schnell zu Ende gelesen, obwohl es ein Krimi ist, dessen „Auflösung” man seit November 2011 schon kennt. Doch darum geht es in dem Buch nicht. Es geht darum, was geschehen ist und warum es geschehen konnte. Und die Auflösung fehlt.
Die beiden Autoren, Stefan Aust und Dirk Laabs, haben die Ereignisse seit 1992 nachgezeichnet. Dabei nutzten sie Hunderte von Quellen, viele Punkte werden mit dem Wissen von heute referiert. Das Buch ist chronologisch geordnet, startet mit einer Aktion von Nazis 1992 in Flöha in Sachsen. Von Beginn an werden aber auch andere Stränge der Erzählung, die Vorgänge in den Landesämtern und dem Bundesamt für Verfassungsschutz, den Landeskriminalämtern und dem Bundeskriminalamt, mit erzählt. In die biografischen Daten der drei bekannten NSU-Mitglieder werden die biografischen Daten mutmaßlicher Mittäter, anderer Rechtsextremisten und V-Leuten des Verfassungsschutzes, aber auch der späteren Opfer der Morde verwoben. Besondere Aufmerksamkeit widmen die Autoren hierbei der Biographie von Michèle Kiesewetter, soweit diese bekannt ist, sowie ihren Familienangehörigen und ihren BerufskollegInnen in Baden-Württemberg.
Wie zu erwarten ist: Je mehr man über das weiß, was zwischen 1992 und heute passiert ist, das Buch verwendet Informationen aus Untersuchungsausschüssen und Zeugenvernehmungen vor dem OLG München bis Ende April 2014, desto mehr Fragen ergeben sich daraus. Die Autoren vermeiden alle Spekulationen. Sie versuchen, sich auf die bekannten Fakten zu konzentrieren und dazu Fragen zu stellen oder Hinweise zu geben, was fehlt.
Immer wieder weisen sie darauf hin, dass Informationen zu möglichen Mittätern fehlen oder auf der Hand liegende Fragen nicht gestellt werden. So beim Mord an Michèle Kiesewetter, der Polizistin in Heilbronn: Dutzende von Zeuginnen und Zeugen beschreiben verschiedene Personen, die sich vom Tatort weg bewegten, teilweise mit blutiger Kleidung. Die Polizei arbeitet hier zunächst sehr fahrlässig, so gibt es eine Ringfahndung, bei der alle Kennzeichen von Autos, die stadtauswärts fahren, notiert werden, diese Listen werden aber nicht ausgewertet, das geschieht erst zwei Jahre später. Auch die Zeugenaussagen werden kaum für die Fahndung verwendet, verwendet werden am Auto festgestellte DNA-Spuren, die zu DNA-Spuren an anderen Tatorten von Einbrüchen, Körperverletzungs- und Tötungsdelikten passen. Erst nach zwei Jahren stellt sich heraus, dass es sich um DNA-Spuren einer Packerin im Herstellungsbetrieb der Wattestäbchen handelt. Danach stößt man auf das Auto-Kennzeichnen des Campingbusses, den die NSU-Mörder mutmaßlich gefahren haben - und schließt aus der Notiz in den Überwachungslisten, dass diese beiden Täter die Innenstadt von Heilbronn sofort verlassen haben, später gesichtete Fußgänger oder Radfahrer also nichts mit dem Mord zu tun gehabt haben können - die Frage, ob vielleicht zwei Männer mordeten und zwei andere den Opfern Pistolen und Handschellen abnehmen, es also vier oder fünf Täter gab, wurde und wird nicht gestellt. Ebenso wurden und werden die Kolleginnen und Kollegen der Polizeieinheit von Michèle Kiesewetter nicht systematisch befragt, ihre Einsatzpläne nicht herausgegeben. Als ihr Onkel (ebenfalls bei der Polizei) am Tag nach der Beerdigung äußert, der Mord haben mit der „Mordserie an Türken” zu tun und sei mit der gleichen Waffe verübt, wird dem keine Beachtung geschenkt. Tatsächlich waren es zwei ganz andere Waffen, und niemand außer ihm sah damals einen solchen Zusammenhang.
Ähnlich der Umgang mit dem Verfassungsschützer Temme, der beim Mord im Internet-Café in Kassel dabei war. Er ist der einzige, der sich hinterher nicht als Zeuge meldet, er wird daraufhin als Tatverdächtiger verhaftet. In der Folge wird er zwar wieder freigelassen, die von ihm geführten V-Leute der rechtsradikalen Szene werden aber nicht an die Polizei gemeldet. Nachdem die Polizei die Namen herausfindet, verhindert der hessische Innenminister (und heutige Ministerpräsident) Volker Bouffier die Vernehmung als Zeugen.
Was Temme am Tatort wollte, ist bis heute nicht ganz klar. Er selbst sagt, er habe auf Flirt-Portalen gechattet, und zwar im Internet-Café, damit seine damals hochschwangere Frau das nicht mitbekommt. Das ist mit Sicherheit falsch, denn in eben diesen Portalen hat er sich vorher und hinterher auch von zu Hause aus bewegt, offensichtlich also keine Angst vor einer Entdeckung. Warum er als einziger den Schuss nicht gehört, beim Rausgehen (und Bezahlen) nicht gesehen hat, dass der Inhaber und Kassierer tot war, den Geruch mehrerer Schüsse im geschlossenen Raum nicht wahrnahm - alles ungeklärt. Die Autoren stellen Aussagen von ihm die er später vor Untersuchungsausschüssen machte, in der späteren Chronologie dar. Sie erklären die Widersprüche nicht, sie widersprechen sich. Die Autoren stellen das dar, weisen klar und deutlich darauf hin, versuchen aber nicht, die fehlenden Informationen mit Spekulationen zu füllen.
Auch der Tatort der beiden Selbstmorde weist einige ungeklärte Ungereimtheiten auf. In den Akten sieht es so aus, dass beide nach einem Banküberfall per Fahrrad zum Campingbus flohen, mit diesem aber nicht zur Autobahn fuhren, sondern in einer kleinen Anwohnerstraße parkten. Das könnte erklären, warum bei vorhergegangenen Banküberfällen die Ringfahndungen nie etwas erbracht hatten. Als ein Streifenwagen den Campingbus entdeckte, haben sich beide erschossen - oder einer erst den Kumpanen, dann sich selbst. Das geschah mit einem halbautomatischen Gewehr, das man durchladen muss, um erneut schießen zu können, dabei wird die Patrone ausgeworfen. Er schießt, lädt durch (eine Patrone), schießt erneut und ist tot. Gefunden wurden im Campingbus aber beide Patronen, was nicht sein kann, wenn ein Toter das Gewehr nicht durchladen kann.
Allerdings untersuchte die Polizei den Campingbus nicht. Sie schleppte ihn ab. Später machte ein beteiligter Polizist einen Versuch: Er besorgte sich solch ein Gewehr, schoss, lud durch, schoss erneut und lehnte es erst an die Wand, ließ es dann umfallen. Dabei kann, so stellte er fest, die Patrone herausfallen. Es wäre eine Erklärung, wenn man so will. Eine andere hat die Polizei nicht gesucht.
Eine Zeugin, Nachbarin mit offenem Fenster, erklärte außerdem, es habe erst eine Explosion gegeben, dann zwei Schüsse, dann wäre der Polizeiwagen um die Ecke gekommen. Dagegen erklärten die beiden Polizisten, sie wären mit dem Streifenwagen um die Ecke gekommen, dann hätten sie zwei Schüsse gehört, dann wäre der Bus explodiert. Was stimmt? Die Autoren drucken beides ab und verweisen darauf, dass dieser Widerspruch bisher nicht thematisiert wurde.
So ging und geht es weiter. So zündete Beate Zschäpe kurz danach die Wohnung an und informierte die Eltern der beiden Uwes über deren Tod. Sie war aber nicht dabei, beide hatten sie auch nicht verständigt. Dagegen bekam Beate Zschäpe Anrufe aus dem Innenministerium, über ein dort registriertes und bezahltes Handy, mit dem aber angeblich niemand im Innenministerium telefoniert hat.
Das Buch ist spannend, und der Fall bleibt es. Deutlich wird vor allem, dass vielen an diesen 23 Jahren (1992 bis 2014) ungeklärt ist. Nicht nur, was geschehen ist. Die große Frage bleibt auch unbeantwortet. Wen oder was schützt der Verfassungsschutz? Dass er die Verfassung schützt, ist dem Buch auf keinen Fall zu entnehmen. Es könnte vieles sein. Der Titel des Buches ist möglicherweise ein Hinweis.
Reinhard Pohl