(Gegenwind 320, Mai 2015)
Kaum eine Bewegung ist in den letzten Jahrzehnten so schnell aufgestiegen wie der „Islamische Staat”. Er herrscht heute in einem Gebiet, das von der Größe her tatsächlich einem Staat nahe kommt, und Teile des Irak und Syriens umfasst. Dabei füllt er eine Lücke, die die USA mit der „Köpfen” des Irak 2003 gerissen hat: Die neue irakische Regierung hat mehr gespalten als aufgebaut, und in Syrien hat die Diktatur die letzte Legitimation verloren.
Viele hatten die US-Regierung 2003 gewarnt: Der Angriff auf den Irak würde zwar die Diktatur beseitigen, an der kaum einer der US-Kritiker hing. Aber sie würde auch einen zentralen Pfeiler der Stabilität in der gesamten Region entfernen, ohne dass dafür Ersatz in Sicht ist. Immerhin ist der Irak - damals - kein „echter” Nationalstaat gewesen, sondern ein postkolonialer Staat mit „künstlichen” Grenzen, zusammengehalten von der eisernen Diktatur unter Saddam Hussein. Er regierte als Repräsentant der sunnitischen Minderheit, aber erklärt säkular. Aufstände gegen seine Herrschaft, egal ob kurdisch oder schiitisch geführt, wurden gnadenlos und brutal niedergeschlagen, Halabja ist vielen noch in Erinnerung.
Der Autor beschreibt den Aufstieg des „Islamischen Staates”, indem er die irakische Geschichte seit 1918 beschreibt, als das Gebiet als britische Kolonie aus dem Osmanischen Reich gelöst wurde. Die Grenze wurde in einem britisch-französischen Abkommen gezogen: Die französische Kolonie wurde später als „Libanon” und „Syrien” unabhängig, die britische Kolonie als „Irak”, „Kuweit”, „Jordanien” und „Israel”.
Im Irak etablierte sich nach einigen Regierungen, zunächst angeführt von einem König, die Militärdiktatur von Saddam Hussein, der dann die Diktatur der Baath-Partei aufbaute, die bald das gesamte Land mit einem dichten Netz der Repression überzog. Viele Oppositionspolitiker wurden ermordet, unabhängig davon, ob es sich um politische oder religiöse oder nationale Bewegungen handelte. Die Diktatur selbst war säkular, aber mehr und mehr wurde das Zentrum der Macht (und das Zentrum der Armee) mit Angehörigen aus Saddams Stamm und Saddams Familie besetzt. Mehr und mehr entschied die Verwandtschaft und die Beziehung, nicht die Fähigkeit und Ausbildung über den Aufstieg - stets der Beginn des Endes eines Systems.
Im Irak führte das allerdings auch dazu, dass gerade Schiiten und Kurden immer weniger Chancen hatten, im Staat Positionen zu erreichen und zu besetzen, so dass hier automatisch Zentren der Opposition heranwuchsen oder herangezüchtet wurden.
Das System wurde äußerlich gestärkt, aber im Innern geschwächt durch den ersten Golfkrieg. Der Irak griff 1980 den weitaus größeren, aber durch die Revolution und die Säuberung der Armeespitze stark geschwächten Nachbarn Iran an. Ob Saddam Hussein damit im Auftrag der USA handelte oder selbst die vermeintliche Schwäche des Nachbarstaates, der immer oppositionellen Irakern Zuflucht und Unterstützung gewährt hatte, ausnutzen wollte, ist nicht geklärt, zumal die USA eventuell erbeutete Regierungsdokumente sicherlich nicht veröffentlichen möchten. Vermutlich war es aber beides.
Dass der Irak diesen Krieg trotz der zahlenmäßigen Überlegenheit der iranischen Armee und der iranischen Ressourcen letztlich mit einem Unentschieden beenden konnte, vermarktete die Propaganda der Diktatur als glorreichen Sieg, die starken Zerstörungen wirkten sich aber auf alle Bereiche des Lebens aus. Außerdem ging der Irak stark verschuldet aus dem Krieg hervor, die meisten Schulden hatte er bei seinen sunnitischen Verbündeten am Golf, vor allem Kuweit, die den Stellvertreterkrieg gegen den persischen und schiitischen Konkurrenten gerne unterstützt hatten.
Diese Schulden versuche Saddam Hussein durch die Annexion von Kuweit 1990 loszuwerden, es sollte gleichzeitig - ähnlich der Eroberung der Krim durch Russland 2014 - die eigene Nation nationalistische aufheizen, um die wirtschaftlich schwächelnde Diktatur zu festigen. Der Krieg endete mit einer katastrophalen Niederlage 1991, der kurdische und schiitische Aufstände folgten. Während Kurdistan sich im Schutz einer „Flugverbotszone”, überwacht durch die NATO, eine Autonomie sichern konnte, wurde der schiitische Aufstand im Blut der Bevölkerung des Südirak erstickt - wohl auch, weil der Iran den Aufstand unterstützte und die USA beide Staaten im Gleichgewicht halten wollten.
Zehn Jahre Sanktionen sorgten dafür, dass die Diktatur jeden Rückhalt in der eigenen Bevölkerung verlor. Außerdem wurden viele Menschen, von der früher stabilen Versorgung durch den Staat abgeschnitten, auf die eigene Volksgruppe und Verwandtschaftsbeziehungen als Notversorgung zurückgeworfen, innerlich zerfiel der Irak in dieser Zeit auf eine Sammlung von Volksgruppen, Religionen, Stämmen und Großfamilien.
In dieser Situation entschloss die US-Führung sich zum Angriff und konnte 2003 den Staat relativ einfach „köpfen”. Die Armee war kaum bereit, aber auch nicht in der Lage, gegen die moderne Armee einer Großmacht zu bestehen. Danach richtete die USA eine Zivilverwaltung unter US-Vormundschaft ein und schuf eine Kommission, die die Baath-Partei aus der gesamten Gesellschaft entfernen sollte. Sie berücksichtigte nicht, dass diese Partei durch den immensen Druck der Diktatur formell eine Massenpartei war, durch die Berufsverbote für alle Parteiangehörigen verloren nicht nur die Ministeriumsangestellten, die Angestellten aller Provinzverwaltungen, sondern auch eine große Zahl der Lehrerinnen und Lehrer, der Ärztinnen und Ärzte ihre Arbeit.
Zu den Wahlen bildeten sich Parteien, die das „Ersatzsystem” abbildeten: Kurdische, schiitische und sunnitische Parteien und Bewegungen traten an, keine irakischen mehr. Da eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung schiitisch ist, gewann deren Allianz die Mehrheit des Parlaments und der Regierung - um alle Gruppen und Grüppchen an die Regierung zu binden, entstand eine riesige Zahl von Ministerien, und Dutzende Minister ohne Geschäftsbereich wurden zusätzlich ernannt. Sie wiederum versorgten ihre Anhänger mit Posten und Pöstchen, wobei viele Einrichtungen zwischen Kurden und Schiiten aufgeteilt wurden und viele Sunniten als mutmaßliche ehemalige Anhänger Saddam Husseins verdrängt wurde.
In dieser Situation gewann „Al-Qaida im Irak” Anhänger und Einfluss, die lange Zeit unkontrollierten Grenzen (der Grenzschutz war insgesamt von den USA als „belastet” eingestuft und entlassen worden) sorgten für einen Zustrom meist arabischer Freiwilliger. 2006 brach ein Bürgerkrieg aus, der vor allem radikale Milizen von Schiiten und Sunniten gegeneinander führten, während die kurdischen Milizen ihr Gebiet verteidigten, auch Flüchtlinge aufnahmen, aber den Krieg im Rest des Landes nutzten, ihr Gebiet zu konsolidieren und aufzubauen.
Letztlich mussten die USA zurückkehren und in den Krieg eingreifen. Sie taten das vielerorts nicht direkt, sondern begannen, unter den sunnitischen Milizen durch eine Mischung aus Bezahlung, Bewaffnung und dem Versprechen, die Diskriminierung zu beenden, aus der gegnerischen Front zu lösen. Letztlich bezahlten die USA eine Vielzahl sunnitischer Milizen, die jeweils ihr kleines Gebiet verteidigten, und beruhigte damit den „großen” Bürgerkrieg. Gleichzeitig versuchten die USA, die mehrheitlich schiitische Regierung dazu zu bewegen, die Korruption und vor allem die Vetternwirtschaft, die Sunniten von der Macht ausschloss, zu bekämpfen und Positionen nach Fähigkeiten unter Berücksichtigung aller Gruppierungen zu besetzen.
Die USA scheiterten damit - auch weil der Einfluss des Iran, in dem fast alle heute führenden schiitischen Politiker des Irak die Zeit ihres Exils verbracht haben, inzwischen ähnlich viel Einfluss haben. Außerdem begann 2011 der Aufstand gegen die Assad-Diktatur, die auf friedliche Proteste wie immer mit brutaler Gewalt reagiert hatte, diesmal aber die Opposition nicht ersticken konnte. Katar und Saudi-Arabien unterstützten schnell islamistische sunnitische Gruppierungen in Syrien, auch um die demokratische und größtenteils unbewaffnete Opposition zu verdrängen. „Al-Kaida im Irak” nannte sich erst in „Islamischer Staat im Irak”, dann zu „Islamischer Staat im Irak und Syrien (ISIS)” um, um 2014 zum „Islamischen Staat” zu werden. Viele kleinere Gruppen vor allem in Syrien, frisch mit meist russischen Waffen vom Schwarzmarkt ausgerüstet, andere hatten sie aus eroberten Kasernen der Diktatur, liefen zum IS über, große Teile der irakischen Armee zerfielen beim ersten Angriff. Die Offiziere der irakischen Armee waren oft durch Ämterkauf zu ihren Führungsposten gekommen, hatten die reichlich fließenden US-Hilfsgelder in die eigenen Taschen umgeleitet und den Rekruten Sold und Ausrüstung vorenthalten - moderne Waffen im Wert von über 10 Milliarden Dollar fielen dem IS fast unbenutzt in die Hände.
Heute kämpfen im Irak vorwiegend kurdische Milizen im Norden und schiitische Milizen im Süden, letzte geführt von iranischen Offizieren, gegen den IS. In Syrien sind große Teile der Assad-Armee desertiert, die Diktatur beherrscht nur noch kleine Gebiete. Die Reste der Armee, vor allem der Spezialeinheiten werden durch iranische Truppen und Truppen der (schiitischen) Hisbollah aus dem Libanon verstärkt. Nachdem es lange eine Arbeitsteilung gab, Assad-Truppen und IS gegen die übrigen Aufständischen, aber nicht gegeneinander kämpften, beginnt der IS jetzt auch syrische Regierungstruppen anzugreifen, die syrische Luftwaffe hat erste Luftangriffe auf den IS geflogen.
Die Prophezeiungen der Gegner einer US-Intervention von 2002 und 2003 sind eingetroffen: Die Beseitigung der Diktatur hat ein Vakuum geschaffen, in das keineswegs eine demokratische Ordnung eingezogen ist, sondern (auch für die Interventionsgegner unvorhersehbar) der Islamische Staat aufgestiegen ist. Und durch den Aufstand und Bürgerkrieg in Syrien hat sich diese Bewegung erheblich verstärkt, auch durch die Unterstützung erst durch Assad, der zur Schwächung der anfangs säkularen Opposition im beginnenden Aufstand eine „Amnestie” verkündete und damit die jahrelang gefangen gehaltenen Islamisten-Führer freiließ, andererseits die Türkei eben diese tolerierte, wenn nicht unterstützte, als sie sich über die Türkei mit Nachschub und freiwilligen Kämpfern versorgten.
Viele der jetzigen Verbündeten des IS ließen sich sicherlich auf Verhandlungen ein, wenn es für eine demokratische Ordnung mit gleichberechtigter Teilhabe im Irak und in Syrien eine erkennbare Perspektive gäbe. Doch diese zu schaffen zeigen sich alle Beteiligten zur Zeit außerstande.
Der Autor Wilfried Buchta ist deutscher Islamwissenschaftler, der jahrelang in Bagdad für die UNO gearbeitet und in dieser Funktion an Hunderten von Treffen der verschiedenen irakischen Verwaltungen, Regierungen und deren Besprechungen mit den Botschaftern des Iran, der USA und anderer Mächte teilgenommen hat.
Reinhard Pohl