(Gegenwind 317, Februar 2015)
Nicht weniger als Fairness am Arbeitsmarkt und gleiche Wettbewerbschancen will der Staat mit Hilfe der „Finanzkontrolle Schwarzarbeit” durchsetzen. Doch von fairen Bedingungen sind die Arbeitsbeziehungen oft weit entfernt - wie auch ein Beispiel aus Norderstedt zeigt.
„Das war ein Volltreffer”. Mit ernsten Gesichtern verlassen Silvio Vogt und seine Kollegen das Gelände einer Baustelle. Für sich und seine Großfamilie lässt der Bauherr in Norderstedt ein Mehrfamilienhaus errichten, hat damit eine kleine Firma aus dem Umland beauftragt. Doch die, so ist jedenfalls der erste Eindruck, nimmt es mit Normen und Vorschriften nicht allzu genau. Silvio Vogt ist Zöllner, „Zolloberinspektor”, um genau zu sein. Und wie seine vier Kollegen, mit denen er heute unterwegs ist, gehört er der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) an, einer Arbeitseinheit des deutschen Zolls. Unter dem Motto „Sicherung der Sozialsysteme” ist die FKS für die Bekämpfung von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung zuständig und überprüft die Arbeitsentgelte all jener Beschäftigten, für die staatliche oder staatlich geschützte Mindestlöhne existieren. In 16 Branchen ist das zur Zeit der Fall, vor allem in der Gebäudereinigung, der Fleischindustrie oder auch der Abfallwirtschaft gibt es Probleme. Und am Bau.
11,10 Euro pro Stunde stehen Beschäftigten des Bauhauptgewerbes derzeit in den westdeutschen Ländern zu - mindestens. Für einfache Tätigkeiten. Der „Mindestlohn 2” für Facharbeiter beträgt hier 13,95 Euro und der eigentliche Tariflohn sogar 18,17 Euro. Doch die Arbeiter auf der Baustelle in Norderstedt erhalten wohl keinen dieser Löhne. Knapp 20 Beschäftigte trifft die FKS dort Ende November bei einer „verdachtsunabhängigen Kontrolle” an, und was die Männer den Zollbeamten in den folgenden zwei Stunden über ihre Bezahlung berichten, ist wie eine beispielhafte Zusammenstellung der aktuellen Spielarten in Sachen Lohndumping: Selbstständige, die „nur mal gucken” wollen oder aus reiner Gefälligkeit einspringen, ohne Rechnungen zu stellen. Maurer in Hartz-IV-Bezug auf 450-Euro-Basis. Ein selbstständiger Elektriker, der für 40 Stunden monatlich fast täglich aus Neumünster angereist sein will. Und dann ist da noch der als Hausmeister angestellte Handwerker aus Wismar, der angibt, für 15 Wochenstunden monatlich 165 Euro zu erhalten - Stundenlohn: 2,56 Euro.
Fast täglich hören die Mitarbeiter der FKS solche Geschichten, wenn sie Firmen oder Arbeitsstätten überprüfen. Mal werden falsche Arbeitszeiten genannt, um die Unterschreitung der Mindestlöhne oder Leistungsbetrug zu kaschieren. Mal sind Arbeiter nur „zufällig” vor Ort, weil ihre Entlohnung gleich komplett an Behörden und Sozialsystemen vorbei geht. Das Problem: All diese Aussagen müssen nach den Kontrollen widerlegt werden, alle Angaben mühsam überprüft. Wie aber beweist man, dass ein Selbstständiger tatsächlich tätig geworden ist, wenn er keine Rechnungen stellt? Dass er eigentlich gar nicht selbstständig per Werkvertrag arbeitet, sondern weisungsgebunden als Arbeitnehmer? Wie prüft man, ob der Mindestlohn eingehalten wurde, wenn sich die Angaben von Arbeitnehmer und Arbeitgeber decken, aber gleichzeitig allen bekannten Gepflogenheiten der Branche widersprechen?
„Abbruch, das war's”, ruft Silvio Vogt, als er nach dem Baustellenbesuch in Norderstedt wieder am Schreibtisch seines Einsatzwagens sitzt. Alleine bei dieser ersten Aktion des Tages hat das kleine Grüppchen Zollbeamter derart viele Daten gesammelt, dass zwei weitere Kontrollen abgeblasen werden müssen. Kurz noch ein paar Fotos für die Presse, dann geht es zurück zum Sitz des Hauptzollamtes im 53 Kilometer entfernten Itzehoe. Dort müssen die Angaben der Arbeiter mit den Daten der Sozialversicherungsträger und denen des Arbeitgebers abgeglichen werden. Vielleicht kann so der Leistungsbetrug nachgewiesen und auch festgestellt werden, wo in den Geschäftskosten der mutmaßlich schwarz ausgezahlte Rest des Monatslohns versteckt ist. Vielleicht aber auch nicht.
Rund 720 Beamte stark ist der Zoll in Itzehoe, aber nur 80 von ihnen stehen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit zur Verfügung. Und ihr Einsatzgebiet ist groß, umfasst die gesamte Westküste Schleswig-Holsteins bis zur Autobahn 7 sowie den Hamburger Flughafen. Weil es so oder ähnlich auch in anderen Zolldienststellen aussieht, fordern Teile der Politik, Gewerkschaften und hinter vorgehaltener Hand auch so mancher Zöllner, die Zahl der Kontrolleure deutlich zu erhöhen. Fast 3000 offene Stellen schiebt der Zoll bundesweit vor sich her, alleine 600 davon bei der FKS. „Es reicht, wir kommen klar”, sagt Thomas Gartsch dennoch. Wenn er als Pressesprecher des Hauptzollamtes Itzehoe nach der personellen Ausstattung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit gefragt wird, blickt er zwar kurz etwas gequält drein, bleibt aber auch auf Rückfragen hin standhaft: „Wir kommen klar. Wir sind ausreichend aufgestellt.”
Bundesweit gut eine halbe Million Arbeitnehmer und 64.000 Arbeitgeber überprüfte die FKS alleine 2013, deckte Schäden in Höhe von fast 800 Millionen Euro auf. Doch auch 135.000 Ermittlungsverfahren, 70,8 Millionen Euro Bußgeld, Rückforderungen von Sozialversicherungsträgern und fast 2.000 verhängte Haftjahre können nicht überdecken, dass nach wie vor ein Großteil des kriminellen Lohndumpings in Deutschland unentdeckt bleibt. Neben einer trotz allem überschaubaren Kontrolldichte und entsprechend geringen Risiken bei Verstößen, krankt der Arbeitsmarkt erkennbar an Armut und sozialen Schieflagen. „Das ist die pure Not”, sagt Vogt mit Blick auf 450-Euro-Maurer und Scheinselbständige, „und auf der anderen Seite Profitmaximierung”. Insbesondere in strukturschwachen Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit finden Arbeitnehmer oft gar keine regulären Beschäftigungsverhältnisse mehr vor. Erst recht nicht, wenn sie als Arbeitsmigranten aus ärmeren EU-Staaten kommen. Neben ungesetzlich niedrigen Stundenlöhnen müssen sie sich stattdessen mit extremer Leistungsverdichtung und Scheinselbstständigkeit auseinandersetzen. So wird Beschäftigten in der Gebäudereinigung neben andauernden Befristungen oft eine kaum zu erreichende Arbeitsleistung abverlangt. Wird die dann verfehlt, muss der Rest ohne Entlohnung nachgearbeitet werden. Andernorts sind auf Baustellen nur noch „Selbstständige” per Werkvertrag gefragt, die aber weder über eigenes Werkzeug verfügen, noch über Entscheidungsgewalt bezüglich ihrer Arbeitsleistung. „Umso geringwertiger eine Tätigkeit”, stellen Gartsch und seine Kollegen immer wieder fest, „desto mehr Schwarzarbeit”. Und noch etwas macht der Pressesprecher klar: „Wer billig einkauft, bekommt billige Arbeit.” Auch vor dem Zoll selbst macht das nicht halt: So erwischte die FKS 2009 in Ludwigshafen einen Gerüstbauer ohne Arbeitserlaubnis - an einem Gebäude des Hauptzollamtes Karlsruhe.
Flankiert werden solche Entwicklungen von der fortschreitenden Deregulierung des Arbeitsmarktes: Befristungen, Zeitarbeit oder auch die Aufhebung des Meisterzwangs haben Lohndumping und erodierte Arbeitsbedingungen in ganzen Branchen zum Normalzustand werden lassen. Und Besserung ist nicht in Sicht: Während das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die im Koalitionsvertrag verabredete Verschärfung bei Werkvertragsgestaltungen bislang schuldig geblieben ist, wird auf EU-Ebene bereits an einer neuen, radikalen Vereinfachung für grenzüberschreitendes Lohndumping gearbeitet. Erst im April legte die EU-Kommission einen Richtlinienentwurf vor, nach dem sich sogenannte „Ein-Personen-Gesellschaften” künftig ohne jede Prüfung online registrieren lassen und mit einem „Stammkapital” von einem Euro EU-weit tätig werden können. Außerdem erlaubt der Entwurf den Gesellschaften, ihren Satzungs- und Verwaltungssitz auf verschiedene Mitgliedsstaaten aufzuteilen. Auf diese Weise könnten sich Scheinselbstständige und kriminelle Arbeitgeber in einem Land mit laschem Insolvenz- und Sozialrecht registrieren lassen und von dort aus in einem anderen Mitgliedsstaat mit hohem Schutzniveau tätig werden. „Wir rechnen damit, dass die Scheinselbstständigen-Industrie dieses Instrument schnell nutzen wird”, sagt Frank Schmidt-Hullmann, IG BAU-Experte für internationale Arbeitsbeziehungen. „Oder Unternehmen, die hier mitbestimmungsfrei und ohne lästige Steuerpflichten arbeiten wollen.”
Für Silvio Vogt und Thomas Gartsch ist das noch Zukunftsmusik - sie beschäftigen sich lieber mit den aktuellen Tricks der Schattenwirtschaft und den gesammelten Daten. „Der Zoll ist wieder ein Begriff auf den Baustellen”, gibt sich der Pressesprecher dabei vorsichtig optimistisch. Eine „höhere Akzeptanz” stelle er fest, die ehrlichen Arbeitnehmer begrüßten die Arbeit des Zolls. Auf Einsicht oder gar Mithilfe der Anderen kann er nur selten hoffen: „Das ist doch nicht mein Problem, wenn die Leute nicht richtig bezahlt werden”, argumentiert der Bauherr während der Kontrolle in Norderstedt „Dafür habe ich einen Bauleiter.” Und einer der obskuren „Selbstständigen” wird erst dann wortkarg, als er persönlich ins Visier der Beamten gerät. Zunächst hatte er den Zoll noch begrüßt - schließlich kämen „die Rumänen ja gleich busseweise, um hier schwarz zu arbeiten”, da müsse endlich mehr kontrolliert werden. Der Gedanke, dass er selber „die Rumänen” ist, ein funktionierendes Teilchen der Dumpingmaschinerie, scheint ihm völlig fremd. Und so kommt Silvio Vogt dann auch zu einem eher ernüchternden Ergebnis, wenn man ihn nach der Wirksamkeit der Kontrollen fragt: „Ich bin seit 2010 bei der Truppe, wir sind unheimlich aktiv gewesen. Aber ich kann klipp und klar sagen: Es ist nicht besser geworden. Und es ist und bleibt ein Kampf gegen Windmühlen”. Spricht's, rückt sich die schwarze Wollmütze mit dem Aufdruck „ZOLL” zurecht und vertieft sich in die nächste Akte.
Olaf Harning
Dieser Artikel ist zunächst in der Berliner Tageszeitung „Neues Deutschland” erschienen.