(Gegenwind 316, Januar 2015)
Die Demokratie gilt in Deutschland als gefestigt. Zwar gibt es immer wieder extremistische Bewegungen, die die Sehnsucht nach einem Führer zum Ausdruck bringen. Die bisherigen inländische Figuren von Ronald Schill bis zu Bernd Lucke erwiesen sich als wenig überzeugend. Andere Symbolfiguren wie Wladimir Putin, Mohammed Mursi oder Recep Tayyip Erdogan regieren weit weg. Doch wie ist es mit Hassan Dabbagh, Pierre Vogel, Sven Lau oder Ibrahim Abou Nagie? Schon ein flüchtiger Blick in Internet-Portale zeigt, dass sie für einige Jugendliche Stars sind.
Die Bewegung, deren Stars die vier Genannten sind, nennt sich Salafismus. Das ist eine relativ kleine Strömung des Islam, die dazu aufruft, sich an den Gefährten Mohammeds und am Propheten selbst zu orientieren und so zu leben wie sie. Das ist natürlich ganz so nicht möglich und auch gar nicht gewünscht, denn die Bewegung organisiert sich mit Hilfe des Internets, kommuniziert mit Smartphones und kämpft, soweit Aktivisten in den Krieg ziehen, mit Panzern und Maschinengewehren. Die Rückbesinnung auf die Ursprünge des Glaubens bezieht sich auf die Glaubensgrundsätze.
In dem Buch, das hier vorgestellt werden soll, haben 36 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Kenntnisse über diese relativ junge und relativ erfolgreiche Jugendbewegung in Deutschland zusammen getragen. Dabei geht es im ersten Teil um den Glauben selbst. Denn die Grundlagen werden von den Ideologen der Bewegung weit einheitlicher und klarer dargestellt als sie es in Wirklichkeit sind. Genau weiß nämlich kein Menschen, wie Mohammed und seine Gefährten gelebt und woran sie geglaubt haben, stammen doch alle Aufzeichnungen dazu, der Koran und die Sammlung der Hadithen, aus späteren Jahrhunderten. Auch sind Zehntausende von Hadithen in späterer Zeit aufgezeichnet worden, von denen nur ein sehr kleiner Prozentsatz wirklich aus der Anfangszeit der Religion stammt, viele Zehntausend Glaubensregeln wurden später hinzugefügt. Anhängerinnen und Anhänger des Salafismus vertrauen vor allem den Lehren von Ahmad Ibn Hanbal, Ibn Taymiyya (gestorben 1328) und Muhammed Ibn Abd al-Wahhab (gestorben 1792), die jeweils die „echten” Glaubensätze von den später hinzugefügten unterschieden. So untersuchte Ahmad Ibn Hanbal rund 700.000 überlieferte Glaubenssätze, die er 180 Jahre nach dem Tode des Propheten vorfand, und veröffentlichte rund 28.000 Glaubenssätze als „echt”, während er rund 672.000 Glaubenssätze verwarf. Er starb im Jahre 855, die meisten seiner Aufzeichnungen wurden allerdings von seinem Sohn und seinen Gehilfen veröffentlicht, wobei man nicht genau weiß, wie weit sie diese bearbeiteten.
Der heutige Salafismus entstand aus dem Wahhabitismus (der in Saudi-Arabien führenden Ideologie) Ende des 19. Jahrhunderts, und zwar unter den arabischen Erfahrungen mit dem europäischen Kolonialismus. Mehrere europäische Mächte, vor allem Frank-reich und England, teils auch Italien und Deutschland nutzten die Schwäche des Osmanischen Reiches, um sich Kolonien in Algerien und Tunesien zu sichern, Ägypten zu besetzen und den Suez-Kanal zu bauen, neue Grenzen auf der arabischen Halbinsel zu ziehen, die die heutigen Staaten Irak, Libanon und Syrien schufen. Später noch wurde Jordanien von Palästina getrennt und Israel gegründet - einheimische arabische Politiker hatten kaum Einfluss, nur in Saudi-Arabien sorgte das Bündnis zwischen der damals strengsten Variante der islamischen Religion und dem Herrscherhaus der Sauds für einen „eigenen” Staat. Die Rückbesinnung auf die Anfänge des Islam und des arabischen Reiches, das wenige Jahrhunderte nach Mohammeds Tod von Persien bis Spanien reichte, stellte für viele die Hoffnung auf ein Wiedererstarken der islamischen Welt dar.
Die relativen Erfolge des Salafismus in Deutschland haben vergleichbare Gründe. Die tatsächlich vorhandenen Diskriminierungen von Einwanderern, insbesondere von Muslimen, verbunden mit vielen Misserfolgen beim erträumten Aufstieg in der Gesellschaft macht für einige die salafistische Ideologie verlockend. Diese greift die Diskriminierung auf, vereinfacht und verzerrt die Sicht aber: Danach sind alle Deutschen, vor allem alle Medien geschlossen gegen „den Islam”, und zwar mit dem Ziel der physischen Ausrottung aller Muslime in Deutschland und auf der Welt. Zur Verbreitung der Aufrufe, zum Islam zu konvertieren, sich dem Salafismus anzuschließen, zu leben wie der Prophet und seine Gefährten, wird das Internet genutzt, vor allem Youtube. Salafistische Prediger verfassen ihre Aufrufe in der Regel auf Deutsch, während in Moscheen meistens Türkisch oder Arabisch gesprochen wird, für viele hier lebende Kinder von Einwanderern inzwischen zu anstrengend.
Wie auch andere Ideologien macht eine Faszination des Salafismus aus, dass er die Lage in der Welt einfach erklärt. „Der Westen” verfolgt „den Islam”, und zum Westen gehören alle Parteien und alle Medien, die man deshalb auch nicht mehr beachten muss. „Der Islam” wird unterschieden nach dem „wahren Islam”, den man selbst verkörpert, und dem verkommenen, verwestlichten Islam, den die Eltern und die Moscheen in Deutschland verkörpern. Während Außenstehende sich wundert, dass salafistische Anschläge in Pakistan, Irak oder Tunesien fast nur andere Moslems töten, sind das für Salafisten eben keine „wahren Moslems”, sondern vom Glauben Abgefallene und damit eigentlich schlimmer als die US-Soldaten, die meist als Christen geboren wurden, denen man ihre Gegnerschaft zum „wahren Islam” nicht vorwerfen kann.
Ein Problem der Forschung ist, dass Daten eigentlich nur von Polizei und Verfassungsschutz kommen: Danach gehören rund 5.000 der 4,5 Millionen Muslime in Deutschland zu den Salafisten, viele von ihnen leben die strenge Ausrichtung der Religion aber nur zu Hause, befolgen also strengere Regeln beim Fasten und Beten als andere - also ein Verhalten, das in einer offenen Gesellschaft völlig problemlos ist. Eine zweite Strömung setzt stärker auf Mission, will also andere überzeugen. Das fängt an mit der Verteilung von Koran-Ausgaben in der Innenstadt, geht über das Angebot von Wochenendseminare für Jugendliche bis hin zum Ansprechen vor der Disco oder an der Tankstelle, um sie zum Einhalten salafistischer Regeln (kein Alkohol, kein Tanz) zu überreden, auch unter dem Begriff „Scharia-Polizei” bekannt geworden. Hier sind die Grenzen Definitionssache: Solange Jugendliche angesprochen werden, dass ihr Verhalten nicht in Ordnung ist, könnte das unter Umständen in Ordnung sein, wenn die Angesprochenen sich nicht belästigt oder unter Druck Gesetz fühlen. Auch das Angebot, einen Koran zu verschenken, ist nicht zu beanstanden. Wenn Jugendliche aber bedrängt werden, wenn Salafisten als „Tugendwächter” uniformiert auftreten, wenn Jugendliche bei Seminaren unter Druck gesetzt werden, dann ist die Grenze zur Strafbarkeit deutlich überschritten.
Eine kleine Gruppe innerhalb der Salafisten ruft zum Kampf auf oder praktiziert dies auch. War früher Waziristan das Ziel, zum Teil auch der Jemen oder Somalia, dominiert heute vor allem der Bürgerkrieg oder Krieg in Syrien. Hier wurde die brutale Herrschaft Assads, Vater und Sohn, über Jahrzehnte geduldet oder auch offen unterstützt. Als es zu Protesten kam, schlug die Diktatur brutal zu. Viele Assad-Gegner, also NATO-Länder wie die USA oder die Türkei, aber auch arabische Länder, die den „schiitischen Halbmond” (Iran, Irak, Syrien, Libanon) zu gern los würden, unterstützten vor allem diejenigen bewaffneten Aufständischen, denen sie die größte Durchschlagskraft zutrauten. Das waren 2011 und 2012 auch eine Menge religiöser Kampfbrigaden, von denen sich viele Ende 2013 oder 2014 dem „Islamischen Staat” angeschlossen haben. Heute kämpfen hier auch viele salafistische Jugendliche aus Deutschland mit, darunter mindestens 45 aus Schleswig-Holstein. Drei Beiträge diskutieren die Anziehungskraft des Salafismus auf Jugendliche in Deutschland, sechs Beiträge erörtern die verschiedenen Möglichkeiten für Staat und Gesellschaft, darauf zu reagieren. Ein Patentrezept hat niemand.
Dennoch: Eine gründliche Information, gut zu lesen, aber 450 Seiten sind dennoch eine große Anstrengung. Wer mehr zum Thema wissen will, kommt an diesem Buch aber nicht vorbei.
Reinhard Pohl